53
Schweigend legen wir den Rest des Weges in unser Zuhause zurück. Der kalte Wind fährt durch unsere Haare, zerzaust das Gebilde auf Drews Kopf noch mehr und die kleinen Schneeflocken tanzen unermüdlich um uns herum. Leise fallen dicke Flocken aus dem dunklen Himmel und bedecken die Welt mit ihrem weißen Glanz. Ich mag den Schnee. Er hat etwas Reines und Friedliches. Wie er aus dem Himmel fällt, gefrorenes Wasser in Form von Sternen, die einem Ruhe und Frieden versprechen. Schnee fällt leise, Regen laut. Die Stille zwischen Drew und mir ist es, die gerade tonnenschwer auf meinen Schultern lastet.
"Warum sprichst du nie über deine Eltern?", fragt Drew und plötzlich ist es laut um uns herum. Sehr laut. Denn seine Stimme zerreißt die Stille und auch der eiserne Kokon, der mein gebrochenes Herz schützt, bekommt feine Risse.
"Weil ich nicht will", antworte ich trotzig und setze wieder schweigend meinen Weg fort. Mir ist bewusst, dass ich mich wie ein bockiges Kind verhalte, das keine Zuckerwatte beim Besuch im Central Park Zoo bekommt. Aber gerade könnte es mir nicht egaler sein. Wir hatten einen bezaubernden Abend und die Erinnerung an eine so schwere Zeit in meinem jungen Leben reißt mir fast den Boden unter den Füßen weg. Ausgerechnet heute, kurz vor Weihnachten. Es ist so schon eine schwere Zeit, denn in den nächsten Tagen wird das Gefühl von Vermissen unendlich groß sein.
So wie jedes Jahr. Jedes Jahr seit fast zehn Jahren.
Drew sagt nichts mehr. Er hält auch nicht mehr meine Hand. Stattdessen geht er mit ein paar Schritten Abstand hinter mir her. Es fühlt sich so falsch an. Das alles. Kalt und leer. Ich vermisse die Wärme seiner Haut und das regelmäßige Drücken meiner Hand um zu signalisieren, dass Drew für mich da ist. Das er an meiner Seite steht und mich auffängt, wenn ich drohe zu fallen. Die Stufen zur Haustür erklimme ich mit schweren Beinen und bevor ich den kleinen silbernen Schlüssel in das Schloss gleiten lasse, blicke ich über meine Schulter und sehe Drew am unteren Ende der Treppe stehen. Auf einmal schlägt mein Herz schneller, das stetige gleichmäßige Klopfen in meiner Brust verwandelt sich nur einen Sekundenbruchteil später in heftiges Trommeln. Das Blut rauscht in meinen Ohren und gerade jetzt wünsche ich mir nichts sehnlicher als Drew der meine Hand hält. Ich bekomme kaum Luft und eine dunkle Vorahnung schleicht leise aus der Dunkelheit heran, um sich breit grinsend auf mich zu stürzen.
Aus müden Augen sieht Drew zu mir hinauf und ich höre die Stimmen in seinem Kopf die leise flüstern. 'Er stößt dich von sich... Jedes Mal. Du bist dumm... Er ist sprunghaft... Dramaqueen... Nie weiß er was er will... Er wird dir immer wieder weh tun... Er tut dir nicht gut... Er ist es nicht wert... Geh Drew... Geh und kehre nicht zurück... Du findest eine neue Liebe... Eine bessere... Einen Mann, der dich zu schätzen weiß, ...'
Ich sehe es in seinem Blick und gerade ist der Gedanke heute Nacht allein schlafen zu müssen unerträglich.
"Ich fand den Abend mit dir sehr schön Lewis", sagt Drew. Ich nicke.
"Ja. Das geht mir genauso", antworte ich leise und sehe mit Entsetzen, wie Drew sich umdreht und mit den Händen tief in den Manteltaschen vergraben von mir fort geht. Das Buch klemmt unter seinem Arm und der Kragen des schwarzen dicken Wollmantel versucht die eisigen Finger des Winters von seiner reinen Haut fernzuhalten. Die Silhouette seines Körpers wird immer kleiner und ich bin wie erstarrt. Mit der einen Hand auf der Klinke und der anderen die schlaff an meinem Arm hängt, aber vor Traurigkeit unaufhörlich zittert sehe ich ihm nach. Nein. Das ist nicht richtig. Warum tut er das? Wo geht er hin? Was habe ich getan?
"Drew", flüstere ich und weiß, dass er mich nicht hört. Zu leise ist meine Stimme. Zu weit ist er bereits entfernt. Ein kleiner schwarzer Punkt in der dunklen Nacht. Erhellt von winzig kleinen Schneeflocken, die auf meiner vor Kälte gereizten Haut unangenehm schmerzen. Aber das blende ich aus. Stattdessen begrüße ich den Schmerz wie einen alten Freund und lasse ihn Platz nehmen in dieser von dunklen Wolken umgebenen Welt. Ich weiß nicht, wie lange ich hier stehe, mit der Hand auf der Klinke und Leere in meinem Herzen. Meine Finger sind fast taub und bitterer Schmerz schießt durch jede Nervenzelle in meinem Körper. Das glatte Metall der Türklinke ist eisig und verstärkt die Kälteimpulse. Mein Kopf versucht mir zu signalisieren, dass es genug ist. Genug der Qual, genug des Schmerzes. Die Kälte der Dezembernacht frisst sich durch meine Kleidung und die Haut. Durchdringt Muskeln und Sehnen und legt sich schmerzend auf jeden einzelnen Knochen. Ich zittere und meine Zähne schlagen in einem gleichmäßigen Takt aufeinander.
Das klappernde Geräusch mischt sich mit den Tönen der Nacht einer Stadt die voller Leben steckt. Die Sirene eines Rettungswagens und das schrille Kläffen eines Hundes sind mir genauso vertraut, wie die Stimme, die mich ruft. Sie gehört zu einem Mann, der wie ein Hurrikan in mein Leben trat. Er entfachte einen Wirbelsturm aus Gefühlen und Emotionen. Längst vergessene Erinnerungen kamen aus dem tiefsten Winkel meines Bewusstseins hervor. Sie brachten Schmerz und Trauer. Aber er brachte Freude und Ekstase.
"Lewis", sagt er und ich spüre seine kalten Finger an meinem Kinn. Er dreht meinen Kopf in seine Richtung und ich sehe einen Schemen des Mannes, der mich hier in der eisigen Winternacht zurückließ. Ich blinzele und so langsam sehe ich wieder klarer. Drew steht vor mir und sieht mich mit Sorge in den Augen und einem riesigen Fragezeichen über dem Kopf an. Er schüttelt leicht den Kopf, der Schnee in seinen Haaren glitzert. Wie ferngesteuert hebe ich meine Hand und lasse meine Finger langsam durch seine vom Schnee kalten und feuchten Haare gleiten. In dieser dunklen kalten Nacht ist Drew der hellste Stern und Wärme durchströmt meinen Körper. Wellenartig breitet sie sich aus und kommt auf meinem verletzten erfrorenem Herzen zum Erliegen.
"Drew", flüstere ich und spüre seine Hand auf meiner. Mit leichtem Druck betätigt er die Türklinke und die Wärme unseres Hauses begrüßt uns. Die Aromen des Abendessens sind verflogen, es bleibt der Geruch nach Tannengrün und getrockneten Orangen mit einer Prise Sternanis und Zimt. Genauso wie der Geruch nach Meer und Salz und verbranntem Holz den Drew verströmt. Wo war er? "Lass uns rein gehen und eine heiße Dusche nehmen", sagt er und schiebt mich regelrecht in das Innere des Hauses, das ich gemeinsam seit nunmehr sechs Monaten mit diesem wunderbaren Mann bewohne. Allmählich erwache ich aus meinem schon fast katatonischen Zustand und streife mir den noch immer für diese Jahreszeit zu dünnen Parka von den Schultern. Ich lasse ihn einfach aus meinen steifen Fingern gleiten und sehe aus dem Augenwinkel, wie Drew das Stück Stoff auffängt und an den dafür vorgesehenen Haken hängt. Die Schuhe streife ich ab und stelle sie neben die von Drew. Seine gefütterten Boots stehen bereits an ihrem anvertrauten Platz und ich lächele leicht über diesen Anblick.
Beim Erklimmen der Stufen hoch in das Obergeschoss stocke ich kurz. Wieder bleibt das Knarzen auf einer der unteren Stufen aus.
"Hast du die Stufe repariert?", frage ich.
"Habe ich. Ebenso die kaputte Diele. Und auch die Schublade deines Schreibtisches", antwortet Drew. "Danke. Das wäre nicht nötig gewesen."
"Das habe ich gerne gemacht. Ich hatte heute bereits den ersten Tag meines wohlverdienten Weihnachtsurlaubes. Ergo hatte ich Zeit. Außerdem bin ich fast jede Nacht von dem Geräusch wach geworden, wenn du zu deinem Feldzug auf der Jagd nach dem letzten Eis oder der Tafel Zartbitterschokolade im Küchenschrank über dem Herd aufgebrochen bist", sagt Drew kichernd und kurz überlege ich, ihm einen kleinen Schubser mit einem verächtlichen Schnauben zu geben. Aber dann würde er laut polternd die Treppen hinunterstürzen und sich sonst was brechen oder sogar den schönen alten Fußboden vollbluten. Die Vorstellung, dass Drew blutend auf dem Boden liegt, jagt mir einen eiskalten Schauder über den Rücken und ich schlucke trocken. Das wäre furchtbar und ich am Ende meiner Nerven. Niemals würde ich zulassen, dass Drew etwas Derartiges geschieht.
Unsere Klamotten sind wir schnell losgeworden und auch wenn das Bad durch die Fußbodenheizung eine angenehme Temperatur verströmt, ist mir noch immer unsagbar kalt. Mit klammen Gliedern und zittrigen Händen steige ich unter die Dusche und sobald das heiße Wasser auf meine kalte Haut trifft, brumme ich wohlig. Ich spüre Drews harten von der körperlichen Arbeit gestählten Körper und seine starken Arme, die mich von hinten umfassen. Gemeinsam stehen wir unter dem Strahl und das heiße Wasser prasselt unablässig auf unsere Körper. Ich höre das Rauschen über mir, spüre Drews Hände auf meiner Haut, fühle die Wärme der einzelnen Tropfen, die meine Glieder erwärmen und Drews Stimme nah an meinem Ohr lässt mein Herz höherschlagen.
"Wenn du bereit bist darüber zu reden, dann werde ich dir zuhören. Aber bitte tue mir einen Gefallen. Lass es nicht an mir aus", raunt Drew an mein Ohr und greift an mir vorbei um sich das Duschgel zu holen. Ohne eine Antwort von mir zu erwarten, beginnt er damit das wohlriechende Gel in seinen Handflächen zu verreiben. Ich schließe meine Augen und spüre seine Hände auf meinem Körper, die sanft über meine Brust und den Bauch fahren. Drews Berührungen sind mir so vertraut und ich gebe mich vollkommen seiner Führung hin. Mal wieder. Aber es ist genau das, was ich jetzt brauche. Mit einer Ruhe und Andacht, die mich jedes Mal aufs Neue überrascht, streicheln wissende Hände über meinen Körper. Brust, Bauch, Arme, Schultern. Eine Abfolge von kreisenden Bewegungen und sanftem Massieren über von Kälte schmerzende Muskeln.
Ich lege meinen Kopf auf Drews Schulter ab und erinnere mich an das erste Mal, als ich dies tat. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Und doch ist es gerade einmal fünf Monate her. Der Sommermond schien strahlend hell in das Zimmer. Silbrig glitzernde Funken tanzten durch die Dunkelheit und es begann eine Reise, von der wir beide nicht wissen, wohin sie uns führen wird. Drew haucht Küsse auf meinen Hals und die Schulter, ein elektrisierendes Prickeln, wenn weiche Lippen auf meine Haut treffen. Funken stoben und Wassertropfen zerplatzen auf unseren Körpern.
"Baby dreh dich um. Ich will deine Haare waschen", sagt Drew sanft und kaum das ich mich zu ihm gedreht habe, liegen seine Hände in meinen Haaren und ich stöhne leise über das berauschende Gefühl.
"Wir haben es noch nie in der Dusche getan", sage ich.
"Das werden wir noch. Aber nicht jetzt. Es ist spät. Lass uns schlafen", antwortet Drew und befreit meinen Körper und die Haare vom wohlduftenden Schaum. Zurück bleiben Drew und das Aroma von Wasser, Salz und Meer.
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