V i e r
Es klopfte an meiner Tür und ohne auf eine Antwort zu warten, kam Megan mit einem kleinen Karton in den Raum.
„Guten Morgen, Eleanor. Ich bin Megan Murphy, eine deiner besten Freundinnen, ehemalige Zimmergenossin und Notfall-Schokoladenbesorgerin. Außerdem habe ich immer eine Packung Taschentücher bei mir und ein paar Sneakers, falls du dich mal wieder mit den hohen Schuhen verschätzt..."
Sie zwinkerte mir zu, warf ihre Regenjacke über einen Stuhl und zog die Vorhänge auf.
„Entweder ist das Personal so schlecht, oder sie wollten nicht, dass dich das regnerische Wetter deprimiert." Schulterzuckend starrte sie ein paar Sekunden durch das Fenster, wo der Regen wütend gegen schlug, dann drehte sie sich zu mir mit einem leichten Lächeln um.
„Tag Sechs im Willkommen-zurück-Leben, was?"
Sie zog sich einen Stuhl zu mir aufs Bett und legte mir den Karton auf den Schoß, ohne dass ich irgendein Wort bisher an sie gerichtet hatte.
„Was ist das?" fragte ich leise.
„Mach doch auf!" antwortete Megan nur und schob sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr.
Ich tat es ihr gleich und öffnete dann neugierig den Karton. Währenddessen fing Megan schon an zu erzählen: „Es sind die Sachen, die in deiner Handtasche waren. Die Tüten hat Will..." Sie stockte leicht, fuhr dann aber fort: „Also die Sachen, die du dir gekauft hast, hat Will schon ins Haus gebracht... Weißt du, er macht sich schreckliche Sorgen um dich und..."
„Ist das mein Handy?" unterbrach ich sie, auch mit der Absicht, dass sie aufhörte von Will zu reden und hielt ein iPhone in die Luft. Es hatte zwischen all dem Krimskrams aus Schlüssel, Kaugummis, Haarbürste, Portemonnaie und Sonnenbrille gelegen.
„Ja, ist es... ich glaube dein Code ist..." Sie verstummte erstaunt, als sie sah, wie meine Finger flink über das Tastaturenfeld huschten und mein Handy entsperrten.
„Meine Finger wussten, wohin sie mussten..." meinte ich als Erklärung und konzentrierte mich auf die Apps, die auf meinem Handy erschienen.
Ich hatte viel zu viele davon.
Gefühlt einhundert Modeapps und Verlinkungen zu Blogs, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte, füllten drei Seiten voll aus. Dazu hatte ich noch mehrere Ordner mit Namen, wo ich nicht wusste, was sie zu bedeuten hatten.
„Weißt du, du warst schon immer Verrückt nach Mode gewesen und hast auch kein schlechtes Händchen dafür.... Max und du habt erst vor zwei Wochen darüber geredet, dass ihr zusammen einen Blog eröffnen wollt. Will hat sich bereit erklärt die Fotos zu machen, er ist ja gelernter Fotograph..." Ihre Stimme wurde leiser und schließlich sah sie mir nur zu, wie ich auf jede einzelne App klickte, um herauszufinden, ob ich mich an irgendetwas erinnern konnte.
Mein Whatsapp zeigte mir über einhundert neue Nachrichten an und als ich es öffnen wollte, hinderte Megan mich daran, indem sie sagte: „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee wäre, Ellie..."
„Warum nicht?" fragte ich sie verwirrt.
„Es schreiben dir Personen, an die du dich nicht mehr erinnern kannst. Ich denke, es wäre zu viel auf einmal..."
„Oh..." machte ich nur und ließ meinen Finger wieder sinken. Sie hatte Recht. Was sollte ich denen schon antworten?
Danke für die Nachfrage, mir geht es gut, aber hey! Wer warst du nochmal gleich? Eine Freundin oder mein Postbote?
Langsam schüttelte ich meinen Kopf und gerade als ich mein Handy wieder ausschalten wollte, fiel mein Blick auf mein Fotoalbum.
„Eleanor..." fing Megan an, die wohl ganz genau wusste, was in meinem Kopf vor sich ging.
„Ich dachte, ich soll mit meinem Leben konfrontiert werden, also warum nicht mit Bildern?" unterbrach ich sie leicht genervt, woraufhin sie verstummte.
Ohne etwas Weiteres abzuwarten klickten meine Finger auf das Symbol und vor mir reihten sich über zehn Alben an, alle mit unterschiedlichen Namen.
Ich hatte über 2000 Bilder und ich klickte auf das zuletzt geschossene.
Es war ein Foto von Megan und mir beim Tätowierer. Es war am Unfalltag aufgenommen.
Ich schloss die Großansicht wieder und scrollte etwas nach oben, bis ich willkürlich stoppte und ein Bild anklickte. Es zeigte ein altes Auto und wie ich daran lehnte, breit grinsend eine alte Baseballcap auf meinem Kopf. Ich konnte mich nicht daran erinnern.
Ich wischte mit meinen Fingern über den Bildschirm und sah mir ein weiteres Bild an.
„Das ist Max. Ein Freund von uns." Erklärte Megan mir, doch ich schüttelte den Kopf. Ich konnte mich nicht daran erinnern, auch nicht, als ich mir jedes kleines Detail von ihm ansah. Seine Haare waren lang, aber es stand ihm. Er trug eine Sonnenbrille, eine Lederjacke und eine enge gemusterte Hose.
„Ist er schwul?" fragte ich vollkommen ernst gemeint Megan. Doch sie prustete vor Lachen los und schüttelte den Kopf.
„Wenn du unbedingt diese Diskussion ein weiteres Mal mit ihm haben möchtest, kannst du ihn gerne selbst fragen..."
Ich biss mir auf meine Lippe und sah mir weiter die Bilder an.
Es waren alles Momente von Erinnerungen, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte.
Manche weniger, andere mehr bedeutender.
Bilder von Anziehsachen, Blumen, Geburtstagen und einem Hund namens Bruce, der anscheinend mir gehörte, wie Megan mir erkläre, zeigten sich mir und mittlerweile war ich an dem Punkt angelangt, an dem ich nur noch einen kleinen Blick auf sie warf und dann weiterswitschte.
Doch bei einem Bild, stockte ich, ließ meine Hand sinken und schüttelte meinen Kopf.
„Das ist..."
„Louis..." beendete ich Megans Satz und starrte auf das Bild. Ich bemerkte ihren überraschten Gesichtsausdruck nicht, denn ich war vollkommen in dem Moment gefangen, indem das Foto aufgenommen wurde.
Louis stand hinter mir, hatte seine Arme um mich geschlungen und die Augen weit aufgerissen. Ich selbst grinste über beide Ohren in die Kamera und versuchte dabei meinen Drink nicht zu verschütten.
„Kannst du dich an ihn erinnern?"
Langsam nickte ich und biss mir auf meine Lippen. Ich kam nicht von seinen blauen Augen los. Selbst auf diesem Foto strahlten sie wie Sterne. Wie meine Sterne.
„Eleanor, das ist toll. Das ist mehr als toll!" Sie klang aufgeregt und beugte sich zu mir vor.
„Woran kann du dich genau erinnern? Hast du Dr. Fraychild davon schon berichtet?"
Ich antwortete ihr nicht sofort, da mich das Foto vollkommen einnahm, aber schließlich wendete ich meinen Blick langsam zu ihren Gesicht und sprach: „Woran ich mich erinnern kann?" Ich räusperte mich, da meine Stimme auf einmal wieder so rau wie vor vier Tagen klang, als ich zum ersten Mal meine Augen aufgeschlagen hatte. „Ich erinnere mich an... die Wiese..." Ich schloss meine Augen und zusammen mit dem nächsten Atemzug atmete ich die warme Frühlingsluft und den Geruch von gemähtem Gras ein. Kindergelächter erreichte mein Ohr, genauso wie eine Kinderstimme, die mir etwas versprach. Louis' Stimme.
„Seine Augen sind in meinem Kopf... Diese strahlend blauen Augen..." Ich musste lächeln als vor meinem inneren Augen seine erschienen. Sie strahlten mir entgegen, gaben mir Hoffnung.
„Und wir tanzen auf einer Landstraße mitten im Nirgendwo... Da ist dieser alte Truck und wir hören... sein Lied... It is what it is... Wir tanzen und lachen... und sind glücklich und oh, wenn er singt, dann... dann..."
Die Erinnerungen überfluteten mich, Gänsehaut schoss mir über den Arm bei seinem Gesang, doch die brütend heiße Sonne, die auf uns auf der Landstraße tanzende Personen prallte, erhitze meine Haut wieder, brachte meine Haare zum kringeln und machte unser Lachen schöner, freier, unbeschwerter.
„Eleanor? Erinnerst du dich, was vor drei Wochen passiert war?"
Von einem Moment auf den anderen waren die Sonne, die Landstraße und unser Tanz weg. Louis Stimme verblasste wie ein Echo und beinahe verwirrt blinzelte ich Megan an.
Diese sah mich vorsichtig an und ein unsicherer Ausdruck trat auf ihr Gesicht.
„Der Arzt meinte, er liegt im.... Koma." Ich räusperte mich und schüttelte den Kopf. Bei dem Gedanken daran, wie ich Dr. Fraychild angeschrien hatte, bis dieser mir ein paar notdürftige Informationen rausgerückt hatte, wurde mir übel.
„Aber was ist genau passiert...." Ich hob wieder meinen Blick und klammerte mich an ihren fest.
„Ellie, du weißt, dass ich so etwas nicht kann... Oder naja, zumindest weißt du jetzt, dass ich so etwas nicht gut erklären kann, aber Louis hat ein Schwannom, das ist ein Tumor des Nervensystems.... Du konntest es mir damals so viel besser erklären, Ellie. Du warst immer die, die jede Fakten aus dem Arzt gequetscht und tagelang an Louis Bett gesessen hat... Ich weiß doch gar nicht, ob ich es dir richtig erklären kann..." Megan schüttelte traurig den Kopf, aber bei mir drehte sich alles.
Tumor im Nervensystem.
Nervensystem.
Tumor.
Louis.
„El, mir geht es nicht gut. Ich weiß nicht was los ist, aber ich kann kaum noch aufstehen..."
„Geh zum Arzt, Louis. Soll ich dich fahren? Ich kann Will sagen, dass wir das Abendessen verschieben müssen..."
Es war kein Bild, nur unsere Stimmen als Erinnerung.
„Ich habe ihm zum Arzt gefahren..." meinte ich leise und mein Blick wanderte zu der weißen Decke. Ich war zusammen mit ihm hier.
„Du hast ihn somit das Leben gerettet, Eleanor... Der Tumor hat gegen seinen Lungenflügel und gegen sein Herz gedrückt.... Er konnte kaum noch aufstehen, weil sich Wasser in seinem ganzen Körper angestaut hatte. Wäre er nicht sofort operiert worden...."
Ich schluckte.
Bilder schossen an mir vorbei.
Bilder von einem weißen Gang, Plastikstühlen und umher eilende Menschen in Kitteln.
Ich saß dort, mit dem Kopf in den Händen gestützt.
Und neben mir war jemand.
Will.
Wir beide haben dort gesessen und gewartet.
Ein Gesicht tauchte in meinem Kopf auf.
Ein Gesicht, das mir eine schlechte Nachricht mitgeteilt hatte.
„Die erste Operation war fehlgeschlagen... Er wäre beinahe verblutet..." flüsterte ich und schloss meine Augen. Die Erinnerungen daran kehrten zurück. Verwirrend, verblassend.
Doch sie waren da.
„Ellie, es ist gut, dass du dich erinnerst. Auch wenn es solche Momente sind, die man am liebsten vergessen möchte, es ist gut..." Megan legte eine Hand auf meinen Arm und ich ließ es zu. Erinnerungsfetzen kämpften um meine Aufmerksamkeit.
„Sind Sie Ms. Eleanor Calder? Die zweite Operation ist schlechter als erhofft verlaufen, aber Mr. Tomlinson hat es vorerst geschafft. Nun muss er alleine kämpfen. Wir hoffen, dass er nach zwei bis drei Wochen aus dem medikamentösen Koma zurückgeholt werden kann... Vorerst müssen wir aber seine Nieren, Lungen und sein Herz im Blick haben..."
Schlagartig öffnete ich wieder meine Augen und krallte mich in Megans Arm. Das Handy fiel von der Bettdecke und landete mit einem Knall auf dem Boden. Es war mir egal.
„Was ist los?" quiekte meine Freundin überrascht auf. „Hast du Schmerzen, soll ich einen Arzt holen?"
Ich schüttelte meinen Kopf, sodass dieser nur noch mehr dröhnte.
„Louis. Er sollte nach zwei bis drei Wochen wieder aufwachen.... Aber es war doch schon vor drei Wochen! Kann ich zu ihm? Ich muss ihn sehen..."
Etwas veränderte sich in ihrer Miene, das mich dazu brachte, ihren Arm loszulassen und zu verstummen. Etwas in mir sagte, dass Megan wirklich keine schlechten Neuigkeiten überbringen konnte.
„Eleanor..." Setzte sie an, unterbrach sich selbst indem sie sich räusperte und fuhr dann langsam fort: „Louis sollte am Freitag, als du selbst noch im Koma gelegen hast, in den Aufwachraum... doch... es kam zu ungeahnten Komplikationen. Es schien, als wollte er noch nicht aufwachen..."
Komplikationen.
Louis Zusammenbruch in der Schneelandschaft.
Als wollte er nicht aufwachen.
Seine Beichte.
Sein Wunsch für immer mit mir in der Schneelandschaft zu bleiben.
„Megan, ich muss zu ihm. Jetzt sofort..." Mein Atem ging unregelmäßig und sie sah mich überfordert an.
„Eleanor, das wird nicht gehen, du musst dich ausruhen..."
„Nein." Ich schüttelte heftig meinen Kopf und zappelte unter meiner Bettdecke. Es war viel zu warm unter ihr, meine Haut war unangenehm heiß und ein paar Haarsträhnen klebten mir an meiner Stirn.
„Eleanor, du kannst nicht..." Megan versuchte die Decke wieder gerade zu ziehen, doch ich zappelte nur noch mehr und unterbrach ihr Unterfangen damit, dass ich schon beinahe schrie: „Nein! Ich muss zu Louis! Er ist doch noch dort in der Schneelandschaft, er weiß doch nicht, dass er wieder zurück kann!"
Ich schlug Megans Hand weg und wollte aus dem Bett klettern. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und ich ignorierte die Schmerzen, die durch meinen ganzen Körper jagten und meine Sicht für ein paar Sekunden schwarz färbten.
„Eleanor!" Megan zuckte geschockt zurück, griff dann aber wieder gefasst nach meinen Arm und drückte mich mühelos zurück ins Bett.
„Lass mich!" Ich wollte mich aus ihrem Griff winden.
Verstand sie denn nicht, dass ich unbedingt zu Louis musste? Sie war nicht zusammen mit ihm in dieser Schneelandschaft. Sie war nicht dort und hatte das erlebt, was ich - was wir - erlebt hatten. Sie konnte meine Eile nicht verstehen. Louis war noch in der Schneelandschaft und wusste nichts über seinen eigentlichen Zustand.
Er brauchte Hilfe.
Er brauchte mich.
Und ich brauchte ihn.
Ich brauchte ihn in diesen Wirren des Lebens, das anscheinend meins sein sollte.
Ich brauchte ihn, damit er mit mir zu unserem Lied tanzen konnte.
Ich brauchte ihn, damit er mein Superheld sein und mich vor allem beschützen konnte.
„Eleanor? Eleanor!" Megans Stimme riss mich zurück in die Realität und blinzelnd ließ ich langsam meine Arme sinken.
„Ich frage Dr. Fraychild, ob es möglich ist, dass du vielleicht bald zu Louis kannst, ist das in Ordnung?"
Sofort fing ich an zu nicken. Ich musste zu Louis. Er sollte aufwachen und mit mir über die Schneelandschaft reden können.
„Aber ich mache das nur, wenn du dich schonst."
Widerwillig nickte ich auch auf diese Forderung und biss mir leicht auf die Unterlippe. Ich schmeckte den metallischen Geschmack von Blut.
Megan bückte sich und hob mein Handy auf, das vorhin heruntergefallen war. Sie legte es in den Karton, der noch immer auf meinem Bauch ruhte und stellte diesen schließlich auf meinen Nachttisch.
„Du bist sicherlich müde. Das war genug für heute, oder? Will wollte nachher noch einmal dich besuchen kommen. Deine Eltern suchen schon seit Tagen nach einem Flug hier hin, aber so wie der Stand der Dinge ist, werden sie frühestens in fünf Tagen kommen können..."
Will. Meine Eltern.
Mum. Die Sterne.
Von Mum war nichts außer den Sternen in meiner Erinnerung geblieben. Doch wegen ihnen habe ich mein Leben zurückbekommen. Mum hatte mir zweimal das Leben geschenkt.
Will. Er wollte wiederkommen. Wenn ich mein Augen schloss, dann sah ich immer noch in seinem, mir völlig unbekanntem Gesicht den Schmerz, den Verlust und die Liebe. Und ich sah die Tränen in seinen blauen Augen. Blau. Sie waren dunkler als das von Louis. Aber ich erkannte ihn nicht.
„Warum..." Ich stotterte, unsicher ob ich es wirklich fragen sollte. Ich hatte Angst vor der Antwort, doch schließlich gab ich mir einen Ruck und flüsterte unsicher: „Will, habe ich ihn geliebt, Megan?"
Megan, die gerade die Vorhänge wieder zu ziehen wollte, stockte in ihrer Bewegung. Es dauerte ein paar Sekunden bis sie sich langsam zu mir umdrehte und sich dabei eine Haarsträhne hinters Ohr strich.
„Oh Eleanor..." Ihre Stimme klang brüchig und als sie auf mich zukam, erkannte ich die Tränen in ihren Augen. „Ob du ihn geliebt hast? Oh ja, das was euch verbunden hat war magisch, Ellie. Du liebst... Du hast in mit deinem ganzen Herzen und mit deinem ganzen Leben geliebt und er liebt dich noch immer...."
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(29.07.2015 ~ Geburtstagsupdate :) )
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