S i e b e n
Der Rest schoss an mir vorbei wie ein Flimmerfilm. Jemand kam rein, half mir raus.
Jemand sprach zu mir.
Ich saß wieder.
Der Rollstuhl.
Stimmen, die viel zu weit weg waren.
Viel zu weit weg von mir.
Ein Gesicht, das sich vor meins schob. Doch ich fixierte mich nicht darauf.
Ich achtete nur auf Louis, den ich gar nicht mehr sehen konnte.
Doch ich sah ihn immer noch. Der Anblick hat sich in mein Gedächtnis, in meine Netzhaut, gebrannt...
Louis...
Louis, warum kommst du nicht zurück? Warum lässt du mich alleine?
Will ging.
Und Will kam.
Alles verschwamm zu einer einzigen Masse aus wirren Erinnerungen. Nichts machte mehr Sinn, nichts brauchte mehr Sinn zu machen.
Ich erinnerte mich jedoch immer und immer wieder daran, wie Louis und ich lachend auf der Landstraße tanzten, unser Lied, It is what it is, schallte blechern aus dem Lautsprecher des Jeeps und wir hatten einfach nur Spaß. Louis blaue Augen blitzten auf, eine Drehung, Schuhe, die den Straßenstaub aufwirbelten. Und wie wir uns immer darum gestritten haben, wer nun wieder auf Play drücken sollte, wenn das Lied tuckernd sein Ende fand.
Nur noch das brauchte Sinn zu machen...
„Okay, Eleanor, das reicht jetzt!" Die Stimme, die definitiv zu Will gehörte. Langsam drehte ich meinen Kopf in seine Richtung und blinzelte, um ihn zu fokussieren.
Er sprach unnatürlich laut. Schrie er mich an?
„Du isst nicht, du trinkst nicht und dämmerst seit zwei Tagen nur vor dir hin! Deine Eltern sind im Warteraum und wollen nichts sehnlicher als ihre Tochter, um die sie sich zu Tode gesorgt haben, in den Arm schließen..."
Ich blinzelte noch mehr. Meine Eltern?
Warum waren sie da?
Und auf die grausamste Art und Weise die ich mir hätte vorstellen können, fand ich heraus warum.
Es ging alles so verdammt schnell. Dr. Fraychild kam, Will ging.
Und dann betraten zwei Personen den Raum.
Rote Augen, weinend und aber doch ein schmerzvolles Lächeln auf den Gesichtern.
Arme, die mich umschlossen.
Stimmen, die mir zu flüsterten, dass sie mich liebten.
Und ich war wie versteinert.
Denn auf die grausamste Art und Weise fand ich heraus, dass mich diese zwei Personen mehr als alles andere auf der Welt liebten und ich mich dennoch nicht an sie erinnern konnte.
Einzig die Erinnerung an Mums Gesicht und ihre Stimme, wie sie mir die Sterne erklärte, blieb mein Anker in dieser all umfassender Dunkelheit.
Doch in all den Jahren, seitdem ich ein kleines Kind war, hatte auch sie sich verändert.
Falten zierten ihre Augen und während sie gequält mit ihren Händen mein Gesicht umfasste und mit mir leise redete, erkannte ich die ersten grauen Strähnchen am Haaransatz. Fasziniert konnte ich nur darauf starren und bekam gar nicht richtig mit, dass Dr. Fraychild das Zimmer verließ und mein Dad meine Hand mit seiner umklammerte. Erst als Will polternd mit einer riesigen Reisetasche in das Zimmer kam, schreckte ich aus meiner Gedankenwelt wieder hoch.
Bevor ich überhaupt selbst bemerken konnte, dass ich verwirrt auf die marinefarbende Tasche blickte, meinte Mum leise: „Wir haben ein paar Sachen von Zuhause mitgebracht. Dr. Fraychild meint, dass es vielleicht helfen würde..."
Plötzlich wurde meine Kehle ganz rau und ich nickte nur. Das waren also Sachen aus meiner Vergangenheit. Alles, woran ich mich nicht mehr dran erinnern kann.
„Ist es okay... also, ich meine, ist es okay, wenn..." ich stockte, als Mum mir eine Hand auf die Schulter legte. Ich erkannte die Anzeichen von Tränen in ihren Augen und sie presste die Lippen zusammen, um ihnen nicht nachzugeben.
„Es ist okay, Ellie-Mäuschen. Es ist okay."
Sie wusste es. Sie wusste, dass ich gerade jetzt nicht mit diesen Sachen konfrontiert werden wollte. Sie kannte mich dafür gut genug und alles was mir von ihr übrig geblieben war, war ihre Stimme, die mir die Sterne erklärte.
Und in diesem Moment fragte ich mich, wofür ich, aber auch alle anderen, es so verdient haben, unter meiner ausgelöschten Erinnerungen zu leiden.
Ein paar Minuten später verließ Will mit den Worten, dass wir sicher Zeit für uns brauchten, das Zimmer und komischerweise wollte ich, dass er hier blieb.
Es wurde unnatürlich still, einzig und allein das stetige Piepsen und Surren der Maschinen konnte man vernehmen. Als sich mein Vater räusperte, zuckte ich erschrocken zusammen und schüttelte sofort meinen Kopf. Ich starrte auf meine Hände, die ich auf der weißen Bettdecke gefaltet hielt und als sich plötzlich die große raue meines Vaters über sie schob, blickte ich überrascht auf. Vielleicht hätte ich so wie bei Will meinen Vater eingehend studieren müssen, doch irgendetwas hatte mich daran partout gehindert. Vielleicht lag es daran, dass ich den Gedanken verdrängen wollte, dass er mir vollkommen fremd vorkommen würde...
Doch jetzt hatte ich keine Chance mehr mich davor zu drücken. Als erstes fielen mir seine braun-grauen Haare auf, die etwas karg seinen Kopf bevölkerten. Doch seine Augen strahlten mir entgegen und ich schluckte den Kloß herunter, der sich sofort wieder bemerkbar machte. Von ihm hatte ich meine Augen. Bevor mir wieder die Tränen kommen konnten, wandte ich den Blick ab und starrte an meinen Eltern vorbei auf die Tasche. Irgendwann würde ich sie öffnen müssen, doch heute würde es nicht sein. Zu viel war heute und in den letzten Tagen schon passiert...
„Willst du etwas essen?" fragte Mum mich, doch ich schüttelte meinen Kopf.
„Dr. Fraychild meint, dass du wenig isst, Ellie-Maus. Wir machen uns Sorgen..." Ihre Stimme klang so verzweifelt, dass ich mich ihr zu wendete und Schuldgefühle bekam. Ich hatte wirklich kaum etwas gegessen oder getrunken. Doch das musste ich in der schneelandschaft doch auch nicht....
Meiner Eltern Willen, nickte ich dann aber leicht und flüsterte: „Vielleicht würde eine Suppe gehen."
Das Strahlen im Gesicht meiner Eltern ließ auch mich etwas weniger trauriger werden.
Es war eine komische Situation im Bett zu sitzen und die geschmacklose Hühnerbrühe zu schlürfen, die mir eine Krankenschwester gebracht hatte. Ich nahm kleine Schlückchen, damit mein Magen nicht zu rebellieren anfing und ich ein Gespräch mit meinen Eltern umgehen konnte. Gedankenverloren sortierte ich gerade die kleinen Hühnerstückchen heraus, als meine Mutter anfing zu sprechen: „Das hast du damals auch schon gemacht..."
Überrascht sah ich hoch und mein Vater sprach weiter: „Du wolltest immer Hühnersuppe essen, mindestens einmal in der Woche im Winter. Aber dann hast du immer die Fleischstückchen herausgesucht, da du sie in der Suppe nur als Aroma mochtest... Genauso wie jetzt..."
Mein Blick wanderte von meinen Eltern zu den Fleischstückchen und dann wieder zurück. Ich musste mich zusammen reißen, um nicht erneut anfangen zu weinen, doch dies zu hören, zu hören, dass nicht alles von meinem damaligen Ich verschwunden war, gab mir Hoffnung. Es ließ mich hoffen, dass die ehemalige Eleanor Calder noch tief in mir drinnen war und einfach nur eine kleine Auszeit brauchte.
„Könnt... Könnt ihr mir noch mehr erzählen?" fragte ich leise und vor Freude weinend nickten beide meiner Elternteile. „Natürlich, Ellie-Maus, natürlich." Flüsterte Mum, als sie mir über meine Haare strich. Und dann fing mein Vater zu erzählen.
Er erzählte von Angelausflügen, die regelrecht ins Wasser fielen.
Von Geburtstagsfeiern mit Mamas legendären Schokoladenkuchen.
Von meinem Zimmer und wie ich mit neun Jahren beschlossen hatte, es selbstständig rot zu streichen, nicht beachtend, dass Rot wie eine Signalfarbe auf den weißen Möbeln leuchtete.
Er erzählte von den heißen Sommertagen, die wir bei meinen Großeltern auf dem Land und von den kalten Winternächten, die wir zu dritt im Bett mit einem Kakao in der einen und einer Weihnachtsgeschichte in der anderen Hand verbracht hatten.
Vielleicht ließen sie Louis, meinen damaligen besten Freund absichtlich weg, da sie wussten, was seine momentane Verfassung war, doch es störte mich nicht.
Denn für ein paar Stunden, die sich wie unsere kleine persönliche Unendlichkeit anfühlte, tauchte ich in die Vergangenheit ein. Es war diesmal egal, dass ich mich nicht erinnern konnte. Ich war nicht den Tränen nahe, nein, überhaupt nicht.
Eher lachte ich darüber, wie blöd ich mich beim Dekorieren des Weihnachtsbaumes angestellt hatte, sodass der Heiligabend in der Notaufnahme geendet hatte.
Sie erzählten es so lebendig, dass ich den Zimtgeruch riechen, unser Lachen hören und die riesigen Sommerwiesen voller bunter Blumen sehen konnte. Meine Eltern schenkten mir Erinnerungen, die ich ein zweites Mal dank ihren Erzählungen erleben durfte. Und für jede einzelne war ich dankbar.
Viel zu schnell kam Dr. Fraychild wieder und schickte meine Eltern mit den Worten, dass ich nun noch ein paar Tests und meine Übungen machen musste, bevor ich wieder meine Ruhe brauchte.
Als meine Mum und mein Vater mich umarmten und schließlich durch die Tür gingen, waren sie keine verloren gegangene Erinnerung mehr.
Mum war nicht mehr länger die Frau, die mir die Sterne erklärte und Dad nicht mehr der Mann mit den großen Händen.
Mum war die, die nach einer Mischung aus Zimtkeksen, Blumenparfüm und Vanille roch. Sie war diejenige, die mir mit vier das Schreiben beibrachte, mit mir schief singend durch die Küche sprang und währenddessen die Butterbrote für die Grundschule, dann für die High-School und schließlich sogar für die Uni schmierte.
Und Dad war derjenige, der mir verbotenerweise mein erstes Stück Schokolade gab und mir dann selbst aus der Unterhose die Schokoladenflecken schrubben musste. Er war der, der mich immer weiter und immer schneller auf der Schaukel an stupste, selbst als ich es schon alleine konnte. Er war der, der die Jungs in der Grundschule davor warnte, mich noch einmal zu ärgern und Jahre später in der High-school die gleichen Jungs von der Tür matte scheuchen musste, da sie alle vier mit mir zum Winterball gehen wollten.
Mum war meine Göttin.
Und Dad mein Held.
Genauso wie ich Louis Prinzessin und er mein Superheld war...
Während den Test und den anschließenden Gedächtnis- und Laufübungen war ich abwesend. Ich konnte mich nur schwer konzentrieren, aber dennoch war Dr. Fraychild sehr zufrieden mit mir. Und das alleine, weil ich behauptete, dass ich mich vielleicht an den Zimtgeruch von den Keksen erinnern konnte, die wir jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit gebacken hatten.
Vielleicht war dies aber auch nur Einbildung.
Ein Hirngespinst, das sich in meinen Kopf eingenistet hat, nachdem ich den Erzählungen meiner Eltern gelauscht hatte.
Ich wusste es nicht.
Doch es reichte mir allein, dass ich mich daran festhalten konnte.
Die Laufübungen stellten mich dafür sehr auf die Probe und trieben mich bis an die Grenze meiner Schmerzgrenze. Als ich halb im Spagat vor Schmerzen bettelte, dass die Krankenschwester aufhören sollte, mein Bein zu dehnen, seufzte diese und half mir hoch.
„Ich helfe Ihnen noch beim Waschen, dann können Sie ins Bett. Heute Abend gibt es Brei. Zwar waren Sie nicht lange im künstlichen Koma, aber wir wollen Ihren Magen dennoch erst wieder vollkommen an feste Nahrung gewöhnen."
Genervt und immer noch gequält nickte ich. Jeden Tag rasselten sie die gleiche Leier herunter. Doch es machte mir eh nichts aus, wenn ich nun eine Suppe oder ein Schnitzel aß.
Denn beides würde ich nur herunter würgen, damit ich nicht wieder an den Tropf musste und sich keiner Sorgen machte. In Wahrheit hatte ich nämlich keinen Hunger. Nie.
Als ich selbst nach dem Essen noch Schmerzen in den Beinen hatte und diese nicht nach meinen täglichen Tabletten besser wurden, hielt ich mit einer Handbewegung die Krankenschwester, die gerade meinen halbaufgegessenen Brei mitnehmen wollte, auf. Fragend sah sie mich an.
„Kann ich vielleicht weitere Schmerztabletten bekommen? Durch das Laufen habe ich nur noch Schmerzen."
Etwas unsicher betrachtete die noch junge Frau mich, seufzte dann aber schließlich auf und kramte in ihrer kleinen Tasche herum. „Aber nur Ms. Calder wenn Sie morgen Ihr Essen aufessen. Sie haben bereits zehn Kilo abgenommen und steuern geradewegs auf die elf zu, wenn Sie nicht etwas mehr essen."
Sofort nickte ich und streckte meine Hand aus. Dann würde ich halt morgen etwas mehr essen. Hauptsache die stechenden Schmerzen in meinen Gelenken und Muskeln hörte auf.
Aufmerksam beobachtete sie mich wie ich die Tabletten schluckte und mich dann ins Kissen zurück lehnte.
„Gute Nacht, Ms. Calder." Meinte sie, während sie das Zimmer verließ und das Licht ausmachte.
Meine tägliche Schlaftablette ließ mich schläfrig werden und da die Schmerzen immer mehr abklingen, schloss ich langsam meine Augen.
„El!"
Weiß. Schnee. Bäume.
Sofort riss ich meine Augen wieder auf und fuhr keuchend hoch. Mit pochendem Herzen sah ich mich um. Ich lag im Krankenhausbett, die einzige Lichtquelle waren die kleinen Lämpchen an den surrenden Geräten und ein bisschen Licht fiel durch den Spalt unter der Tür hindurch. Ich war hier, im Krankenhaus.
In London.
Nicht in der Schneelandschaft.
Aber das war Louis Stimme gewesen. Louis hatte nach mir gerufen.
~
(19.09.2015)
Es tut mir wirklich unglaublich leid, dass ich erst nach so langer Zeit update. Ich hatte vorher einfach nicht die mögliche Motivation und Zeit hier weiter zu schreiben, doch in den letzten Tagen hatten sich dann die Ideen wieder gesammelt, sodass ich auch wusste, wie ich die Eltern-Sache, auf die ich ehrlich gesagt, überhaupt keine Lust hatte, angehen wollte...
Denn so bekommt El und aber auch wir einen kleinen Einblick in Ellies Leben und den kleinen Sachen, die das Leben so einzigartig machen.
und endlich geht's auch wieder etwas voran, was die Sache mit Louis betrifft.
Die wunderschöne Collage hat mir wieder einmal Jenny @heartsforsale gestaltet und ich kann immer noch nicht genug davon kriegen <333 es ist echt genial, auch wie sie das mit den Händen gemacht hat, oder? Das Lied passt auch irgendwie gut zum Kapitel, finde ich :3
Danke fürs Lesen, ihr Lieben!
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