S e c h s
Es verging noch ein ganzer Tag, bis Dr. Fraychild zusammen mit Will zu mir ins Zimmer kam. Mit einem Blick wusste ich, dass Will schon wieder nicht gut geschlafen hatte. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen und erneut regte sich das schlechte Gewissen in mir.
„Wenn du willst, darfst du für zehn Minuten zu Louis Tomlinson..." Als Dr. Fraychild sah, wie ich sofort Feuer und Flamme war, hob er mahnend einen Finger und fügte hinzu: „Aber erst, nachdem ich meine Untersuchungen abgeschlossen habe und – auf den Wunsch von Ihrem Verlobten – Sie etwas zu sich genommen haben."
In dem Moment war es mir egal, dass ich das eklige Gemisch aus Krankenhaussuppe herunter würgen musste, oder so viel trank, dass mein Bauch blubberte.
Auch war es mir egal, dass der Arzt an meine Körper herum tastete und mich erneut ein paar Sachen fragte. Ich wusste weiterhin keine Antwort, wobei ich mich auch nicht konzentrierte.
Meine gesamte Aufmerksamkeit lag bei dem Gedanken an Louis.
Und als mir Will schließlich langsam aus dem Bett half, mir die Pantoffel überzog und mich beim Laufen unterstützte wurde mir richtig klar, dass ich nun Louis endlich sehen würde.
Ich wäre wieder bei ihm.
Außerhalb meines Zimmers war es laut und es herrschte eine gestresste Atmosphäre. Auf einmal kam ich mir so verloren in meinem weißen Nachtkleid zwischen all den hetzenden Leute vor, auch wenn Will direkt neben mir war.
Die vielen Menschen jagten mir Angst ein, wie sie in den verschiedensten Gefühlslagen an uns vorbei liefen. Kein einziger grüßte uns, oder sah mich an, aber dennoch fühlte ich mich, als würden sie mich erdrücken.
Ich klammerte mich noch fester an Wills Arm und lehnte meinen Kopf leicht gegen seine Schulter. Will, der wohl zu spüren schien, was mit mir los war, beugte sich leicht zu mir herunter und meinte: „Keine Sorge, Ellie. Es ist nicht schlimm, du musst dich erst nur wieder daran gewöhnen. Kannst du noch laufen? Am Ende des Flurs sind Rollstühle..."
Er war nicht Louis, der mir versprach, immer auf mich, seine Prinzessin, aufzupassen, aber dennoch beruhigte er mich. Und erst dann spürte ich, wie unregelmäßig ich schon atmete. Es waren keine einhundert Schritte gewesen, die ich gelaufen war, aber dennoch fühlte es sich so an, als hätte ich an einem Marathon teilgenommen. Gestern hatte zwar meine Lauftherapie angefangen, aber da musste ich nichts weiter machen, als zwei Runden an einer Stange zu laufen und mich von der behandelnden Ärztin dehnen zu lassen.
Um meine Beine wieder an die Belastung zu gewöhnen, wie sie es mir erklärt hatte. Gestern hatte ich noch gedacht, dass sie Unsinn erzählte. Immerhin brauchte ich mittlerweile keine Hilfe mehr, um zum Badezimmer zu gelangen oder um mich umzuziehen, doch dieser Weg hier war viel länger als der zum Badezimmer.
Deswegen blieb mir nichts anderes übrig, als zu nicken und tapfer die letzten Schritte zu gehen, bis Dr. Fraychild aus einem Nebenzimmer einen klappbaren Rollstuhl holte.
„Tut mir leid, ich hätte daran denken müssen." Entschuldigte sich dieser, als ich mich vollkommen aus der Puste und mit einem vor Anstrengung wild klopfenden Herzen hinsetze.
In der Schneelandschaft hätte ich die gleiche Strecke rennen können und wäre nicht so außer Atem wie jetzt...
Im ersten Moment war es mir peinlich, dass ich im Rollstuhl saß und durch die Gänge geschoben wurde. Ich wusste nicht genau warum, aber dieses Gefühl ließ mich unwohl hin und her rutschten. Aber als mich weiterhin keiner zu beachten schien entspannte ich mich einigermaßen und mein Herz beruhigte sich.
„Wir müssen mit dem Aufzug in die Intensivstation fahren. Bevor du zu Mr. Tomlinson darfst, musst du dich noch etwas hygienisch reinigen."
Ich nickte bekräftigend und wurde dann von Will in den Fahrstuhl gerollt. Dort erlebte ich meinen nächsten Schock.
Die Wände waren verspiegelt und die junge Frau, die mir im Rollstuhl sitzend entgegenblickte, war nicht ich. Zumindest nicht das ich, woran ich mich erinnern konnte.
Entsetzt hob ich meine Hände an meine vollkommen aufgeschürften Wangen. Warum hatte ich nicht vorher schon meine Verletzungen im Gesicht bemerkt?
Nun wusste ich, warum es im Badezimmer wohl keine Spiegel gab: Um einen Schockanfall zu vermeiden.
Meine Haare waren am Ansatz leicht fettig und ein paar Strähnen waren aus dem Zopf, den ich mir gestern Abend gemacht hatte, herausgerutscht. Als ich meinen Kopf drehte, entdeckte ich eine kahle Stelle. Sie war nur klein, aber ich wusste sofort, dass mir dort Haar fehlte.
„Wo sind meine Haare?" fragte ich panisch und griff mir an die kahle Stelle.
„Wie meinst du das, Ellie, du hast doch immer noch..."
Ich unterbrach Will indem ich meinen Kopf schüttelte und auf die kleine Stelle rechts hinterm Ohr zeigte. „Da, da sind meine Haare weg!"
Bevor Will antworten konnte, meldete sich Dr. Fraychild zu Wort: „die Rasur einer kleinen Stelle war von Nöten, Ms. Calder. Ansonsten hätten wir die Operation nicht durchführen können und Sie wären am Druck, der durch die Blutungen ausgelöst wurde, gestorben."
Langsam ließ ich meine Arme wieder sinken und verschränkte sie vor meinem Oberkörper. Ich blieb still und blickte ein letztes Mal in die viel zu groß wirkenden grün-braunen Augen mir im Spiegel gegenüber, bevor der Aufzug summend zum Stehen kam und Will mich im Rollstuhl herausschob.
Auf der Intensivstation war es gespenstig leise, nur ab und zu ertönte das leise Piepen der Maschinen aus verschiedenen Zimmern. Krankenschwestern und Ärzte huschten mit Papieren hin und her und verliehen dem ganzen Szenario noch eine bedrückendere Stimmung. Denn dies hier war kein glücklicher Ort.
Trotz der strahlend weißen Wände, war es ein Ort, wo Menschen um das Leben ihrer Liebsten bangen mussten. Allein der brennend scharfe Geruch von Desinfektionsmittel verdeutlichte dies.
Wir fuhren durch verschiedene Gänge, bis wir vor einem Raum zum Stehen kamen und Dr. Fraychild meinte: „Ab hier übergebe ich an die Schwester Leandra. Sie kümmert sich schon seit längeren um Mr. Tomlinson und ich habe noch einen Operationstermin...."
Genau in dem Moment, wo er wieder verschwand, öffnete sich die Tür und eine junge Frau mit feuerroten Haaren trat heraus. „Hallo, wie ich sehe, hat sich Dr. Fraychild wieder aus dem Staub gemacht." Sie runzelte die Stirn und schüttelte einmal den Kopf. Dann blickte sie aber wieder zu Will und mir und schenkte uns ein sanftes Lächeln. „Ich bin Leandra Rachels. Folgt mir bitte, ich erkläre euch, wie das hier jetzt abläuft." Sie ging wieder in den Raum und Will schob mich hinter ihr her.
Mit einem Blick über die Schulter sprach die junge Krankenschwester weiter: „Eigentlich dürfen nur enge Familienmitglieder Personen auf der Intensivstation besuchen. Da aber mehrere Ärzte zu dem Entschluss gekommen sind, dass ein Besuch bei Ihrem früheren Freund zur Heilung beitragen würde, wurde bei der Familie Tomlinson nachgefragt, ob dies in Ordnung wäre und sie haben ihre Einverständnis erteilt..."
„Wie soll dies hier zur Heilung beitragen?" Wills Stimme klang neutral, doch ich hörte die unterdrückte Verständnislosigkeit. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Denn welcher Verlobte wollte, dass ein anderer Junge seiner zukünftigen Partnerin half und man selbst nichts tun konnte?
„Ms. Calder kann sich allein an Louis erinnern und wenn wir diese Erinnerungen fördern, kann es vielleicht zu einer Kettenreaktion kommen. Dies ist eine Methode, die auch bei Komapatienten angewendet wird. Nahstehende Personen sprechen die betreffende Person an und können diese somit zum Aufwecken antreiben... Könnten Sie mir bitte Ihre Hände reichen? Ich muss sie desinfizieren..."
Ich tat, wie sie bat und streckte ihr meine Hände entgegen. Während sie diese mehrmals reinigte und einschmierte, brummte mir mein Kopf. Die Kopfschmerzen wurden nur noch schlimmer, doch es war mir egal. Denn was wäre, wenn ich mich wirklich gleich wieder erinnern könnte? Oder was wäre, wenn Louis bei meiner Stimme aufwachen würde?
Was wäre, wenn er die Augen aufschlagen, mir ein Lächeln schenken und mir dann erklären würde, dass dies hier alles nur ein böser Traum war und ich nur die Augen richtig aufmachen musste.
Vielleicht musste ich wirklich nur aufwachen.
Vielleicht würde ich dann neben Louis im Bett aufwachen, er würde mich fragen, warum ich so durch den Wind war und ich würde es ihm alles erzählen.
Er würde darüber lachen, so wie er immer über so etwas lachte, mich dann aber in den Arm nehmen und mir anbieten einen Tee zu machen.
Doch ich würde ablehnen, denn alles was ich zur Beruhigung brauchte war er.
Denn dann würden seine Arme mich halten, während ich wieder glücklich und zufrieden ins Land der Träume gleiten konnte...
Aber vielleicht war diese Vorstellung der Traum.
Dieser weit entfernte Traum, der nie in Erfüllung gehen würde...
„So, du bist fertig.... oh, tut mir leid, man darf nur einzeln in das Zimmer und nur Ms. Calder hat die Erlaubnis..." fügte Leandra hinzu, als sie sah, wie Will dabei war, mich weiter zu schieben.
„Es ist okay." Beschwichtigte ich meinen Verlobten, als er protestierend den Mund zum Sprechen öffnen wollte.
Sein Blick traf auf meinen und nachdem er mich lange prüfend musterte, seufzte er auf, fuhr sich durch die Haare und nickte.
„Ich geh in die Cafeteria..."
Dann ging er weg.
Leandra schob mich durch die leeren Gänge und erklärte mir leise was mich erwarten würde. Sie erzählte, dass er womöglich nicht so aussah, wie ich ihn in Erinnerung hatte und dass ich mir nicht zu große Hoffnungen auf Reaktionen seiner Seits machen sollte.
Dies alles nahm ich schweigend zur Kenntnis.
Ich konnte es kaum erwarten, bis ich da war.
Bei ihm war.
Doch anderseits schien etwas in mir tief drinnen zum Zerreißen gespannt sein. Das mulmige Gefühl drückte mit jedem weiteren zurück gelegten Meter mehr auf meine Brust und ich krallte meine Fingernägel in den dünnen Stoff meiner Strickjacke, die ich über meiner Krankenhauskleidung trug, damit mir nicht kalt wurde.
„Hier sind wir." Meinte sie schließlich und wir hielten vor einer unscheinbaren Tür an. Die Gardienen zum Flurfenster waren zugezogen und komischerweise fühlte ich mich in diese Szenen aus Krankenhausserien versetzt.
Denn hinter dieser Tür lag Louis und er war das einzige, was von meinem alten Ich noch übrig war.
Und er war der Grundstein meines neuen Ichs.
Dem Ich, das beim Aufwachen in der Schneelandschaft die ersten Atemzüge gemacht hatte.
„Schaffst du es alleine, oder soll ich dich hineinschieben?" Leandras Hand strich leicht über meinem Unterarm, so als wüsste sie, was gerade in mir vorging.
Doch ich schüttelte den Kopf und meinte: „Ich schaffe es alleine."
Sofort stemmte ich mich ohne ihre Hilfe aus dem Rollstuhl und drückte die Klinke der Tür, die mich von Louis trennte, herunter.
„Denk bitte an meine Worte... Es kann am Anfang beängstigend wirken, doch es hilft ihm zum Überleben... Ich hole dich in 10 Minuten wieder raus."
Ich hörte ihr nur noch mit einem Ohr zu, denn ich war schon dabei langsam das Zimmer zu betreten. Die Tür fiel hinter mir leise wieder ins Schloss und sperrte Leandras Stimme aus.
Ich war alleine.
Mit Louis.
Und dem leisen Piepen von Maschinen.
Mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich mich langsam zu Louis umdrehte.
Und dann, als ich ihn sah, hörte es für einen kurzen Moment ganz auf zu schlagen.
Geschockt schlug ich mir meine Hände vor den Mund und schüttelte den Kopf. Meine Beine, die bis so tapfer durchgehalten haben, gaben unter mir nach und ich rutschte die Wand herunter. Der Fußboden unter meinem Hintern war kalt, doch dies bemerkte ich kaum. Trotz der Tränen, von denen ich gar nichts mitbekommen hatte, die mir meine Sicht verschwimmen ließen, konnte ich Louis erkennen.
Louis und all die Geräte, Schläuche und Verbände.
Louis, der unnatürlich dünn und grau unter einer Decke lag, ein Rohr im Hals und einen Schlauch in der Nase stecken hat.
Er sah nicht aus, wie der Louis aus der Schneelandschaft oder wie der Louis aus meinen Erinnerungen. Dieser Louis war nur ein Schatten seiner Selbst, so wie ich es auch war.
Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, doch dies hier überforderte mich. Ich wollte Louis nicht so schwach und zerbrechlich sehen. Denn er war doch mein Superheld...
Tränen strömten über meine Wange, hinterließen eine nasse Spur und tropften auf meine Arme. Ich konnte meine Hände nicht von meinem Mund wegnehmen und versuchte ein Wimmern zu unterdrücken. Mein Kopf dröhnte, doch dies war nichts im Vergleich zum seelischen Schmerz.
„Lou... Louis..." brachte ich hervor, ohne jedoch verhindern zu können, dass das Wimmern aus meiner Stimme verschwand. Denn ich musste es versuchen. Ich musste ihn wiederholen.
„Louis... Ich bin's... El..." Weinend sah ich zu Louis im Bett auf, doch er blieb still. und dann zerriss es in mir.
Denn Louis war nie still. Es lag nicht in seiner Natur und umso deutlicher machte diese Stille, die nur durch das Piepen durchbrochen wurde, diese Situation und deren Folgen.
All meine Hoffnungen, Wünsche und Vorstellungen zerrissen und hinterließen nichts als Tränen.
Denn ich sprach zu Louis und dennoch wachte er nicht auf.
Er entschied sich gegen mich.
~
(13.08.2015 )
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