E i n s
•Book two•
Das Weiß blieb.
Es war immer noch überall.
Aber anders...
Alles war anders und das betäubende Gefühl verschwand nur schleichend.
Dafür wurde ich von allem andere wie ein Zug überrollt.
Das Piepen dröhnte unerwartet laut in meinen Ohren.
Weiße Decke, weiße Wände.
Weißer Schnee?
Ich lag weich, aber es war kein Schnee. Meine Hände tasteten langsam über das raschelnde Etwas. Eine Bettdecke.
Es war eine Bettdecke.
„Ellie... du..." Diese Stimme, ich kannte sie.
Nur schwer konnte ich meinen Kopf zu ihr hindrehen, alles war so anstrengend, alles war so anders.
Mein Sichtfeld drehte sich und mehrmals musste ich blinzeln, bevor ich die Person links neben mir erkennen konnte.
Die junge Frau mit den blonden Haarsträhnen, meine Freundin, die gelacht hatte und mit der ich beim Tattooladen war, saß dort.
Aber ich erkannte sie nicht.
„Ellie, du bist wach."
Hilflos musste ich mit ansehen, wie sie nach meiner Hand griff und Tränen über ihre Wangen liefen. Warum weinte sie? Weinte sie wegen mir?
Es war alles so undeutlich.
Und alles dröhnte in meinem Kopf.
Ich wollte die Stille der Schneelandschaft wieder.
„Es tut mir leid, Ellie. Es tut mir alles so furchtbar leid..."
Ihre Stimme wurde immer leiser und mein Sichtfeld immer dunkler.
Ich wollte mich dazu zwingen, die Augen aufzulassen, alles zu sehen, mein Leben zusehen, aber die allumfassende Stille und Leichtheit ließ mich wegdämmern.
Sie gab mir die benötigte Ruhe, sie ließ das Dröhnen im Kopf und den Schleier vor meinen Augen verschwinden.
„Ms. Murphy, ich werde den Arzt holen, bitte verlassen sie jetzt das Zimmer. Sie können im Wartezimmer warten..."
Und dann nahm mich die Schwärze mit in eine Welt, in der ich mir um nichts mehr Gedanken machen musste. Es war so anders als das Weiß...
In der Schwärze konnte ich die Sterne erkennen.
Sterne und komischerweise auch Äste.
Und sie alle wirbelten um mich herum, so als wollten sie mich zu etwas auffordern.
„El... Nein!"
Louis?
Wo war er? Ich konnte ihn zwischen all der Schwärze, zwischen all unseren Sternen und zwischen all seinen Ästen nicht erkennen.
Doch bevor ich nach ihm hätte suchen können, verzog sich diese Dunkelheit mit den Sternen und den Ästen rasend schnell.
Ich war wieder im Leben. Ich spürte es jede einzelne Sekunde. Ich spürte es an dem Pochen in meinem Kopf und an der Luft, die komisch in meinem Mund schmeckte.
Doch mir fehlte die Kraft, um meine Augen zu öffnen.
„Dr. Fraychild, die Krankenschwester sagte, dass die Untersuchungen abgeschlossen sind...?"
Das war die Stimme von der mit den blonden Haaren. Ms. Murphy.
Jemand seufzte. Eine tiefe Stimme erklang dicht bei mir: „Miss, nun beruhigen sie sich. Körperlich scheint es ihr gut zu gehen. Aber nach einer derartigen Verletzung kann es sein, dass sie Gedächtnislücken aufweist..."
„Ich bleibe hier und warte bis sie aufwacht..."
„Halten sie sich bitte an die Besucherzeit. Sollen wir jemanden telefonisch benachrichtigen?"
Die tiefe Stimme entfernte sich. Das war gut, denn sie war viel zu laut in meinen Ohren.
„Nein, ich habe eben schon mehreren Bescheid gegeben."
Eine Tür wurde geöffnet und fiel dann klappernd wieder ins Schloss. Ich konnte aber immer noch nicht meine Augen aufmachen.
Die Frau seufzte und etwas schabte über den Boden. Ein Stuhl? Sie nahm meine Hand in ihre und strich vorsichtig mit dem Daumen über meinen Handrücken.
„Hey Ellie... Ich bin's Megan..."
Megan.
Megan...
Ein Bild von mir und diesem blondhaarigem Mädchen schoss mir für eine Sekunde vor mein Sichtfeld. Wie wir beide lachend auf einem Sofa uns die Fußnägel lackierten... Megan...
Aber bevor ich diese Erinnerung länger festhalten konnte, war sie wieder verschwunden.
Ich lauschte eine Zeit lang einfach nur ihrem gleichmäßigen Atem. Es war beruhigend aber dennoch so anders.
Ich war wirklich wieder hier.
Hier im Leben.
Mein Zeitgefühl war immer noch nicht wieder da und deswegen wusste ich nicht, wie lange ich brauchte, um langsam meine Augen zu öffnen.
Geradewegs blickte ich in die blau-grünen Augen von Megan.
„Hi." Brachte ich über meine Lippen. Warum klang meine Stimme so rau und zittrig, so schwach? So habe ich doch auch nicht in der Schneelandschaft geklungen....
„Hi Ellie..." Sie fing an zu lächeln, aber ich erkannte die Tränen in ihren Augenwinkeln.
„Nicht weinen..." flüsterte ich und sie nickte: „Das würde ich nicht, Ellie. Das würde ich nicht...." Sie stockte, räusperte sich und sprach dann weiter: „Aber ich freue mich so sehr, dass du wieder hier bist." Sie drückte meine Hand und ich erkannte an ihrer zittrigen Lippe, dass sie sich dazu zwang, nicht ihren Tränen freien Lauf zu lassen.
Sie weinte fast. Wegen mir.
Und dabei konnte ich mich nicht einmal an sie erinnern.
Das einzige was mir von ihr blieb, war die Erinnerung an den Unfall und die, die ich eben hatte.
Ein Tattooladen, ein Unfall und ein Nagellack. Das war alles, was ich nun mit Megan verbinden konnte.
Mehr nicht.
„Megan..." Ich hielt inne, da ich dieses Krächzen in meiner Stimme nicht mochte. Doch es blieb, als ich weiter sprach: „Megan... was ist... was ist passiert?"
Und dann flossen die ersten Tränen über ihre Wangen. Wie ein kleiner unbändiger Fluss tropften sie auf meine Bettdecke und auf unsere Hände. Ich zuckte zusammen, als mich der erste Tropfen traf, da ich dieses richtige Fühlen nicht mehr gewöhnt war...
„Dr. Fraychild meinte, dass du vielleicht Gedächtnislücken haben könntest. Das ist normal, meint er... Mach dir keine Sorgen..." Unsicher fuhr sie sich durch ihre blonden Haare, die ihr ungewaschen im Gesicht hingen. Dann schüttelte sie ihren Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. „Aber ich bin dir gerade keine große Hilfe, oder?"
Ich wollte ihr nicht sagen, dass ich mich an fast gar nichts mehr erinnerte.
Ich wollte es ihr nicht sagen.
Ich wollte diesen Moment genießen, denn es war Leben. Aber stattdessen spürte ich, wie auch mir so langsam die Tränen kamen.
War es wirklich normal, sich an nichts mehr zu erinnern?
„Aber was passiert ist... Es ist alles meine Schuld, Ellie. Ich habe dich dazu gezwungen, mit mir mitzukommen, obwohl du schon seit Tagen davon gesprochen hast, wie sehr dich die Vorbereitungen stressen... Aber du kennst mich ja..."
Nein, ich kannte sie nicht.
Nicht mehr...
„Wir haben uns Tattoos stechen gelassen und du hast mit mir das Kleid für den Geburtstag von Danielle nächste Woche ausgesucht, weil ich mich nicht zwischen Schwarz und Rot entscheiden konnte. Wir haben das Eis vom Italiener in der Seitengasse geholt und wollten... Wir wollten wieder zurück zum Auto, aber dann habe ich wieder meine Späße gemacht und du... du bist auf die Straße gegangen. Und das Auto... es kam wie aus dem Nichts...
Ich habe geschrien, aber du hast nicht reagiert, du warst wie weg und... und..."
Mehrmals schüttelte sie ihren Kopf und vergrub ihre Hände in den Haaren.
Und mir blieb nichts anderes übrig, als ihr dabei zu zuschauen.
Alles war so anstrengend. Selbst das Atmen.
„Es ist nicht deine Schuld." Flüsterte ich und wollte mich erneut räuspern. Doch es ging nicht. Ich hatte nicht die Kraft dazu.
Alles war so anders, so viel schwerer als in der Schneelandschaft. Ich wollte nur noch meine Augen schließen und wieder schlafen, all der Schwere entschwinden.
„Doch, Ellie. Es ist meine Schuld..."
„Ich bin müde..." flüsterte ich leise und dieses unbekannte aber gleichzeitig so vertraute Gefühl streckte seine Finger nach mir aus und wickelte mich in eine Decke aus schwarzem Samt.
„Ich bleibe hier... Ich werde auf dich aufpassen, Ellie..."
Selbst ihre Stimme klang gedämpft und so weit weg von mir.
Doch ich war an einem Ort angelangt, wo dies mich nicht mehr interessierte...
Diesmal musste ich nicht mehr mit mir kämpfen, damit ich meine Augen öffnen konnte.
Blinzelnd versuchte ich mich zu orientieren und blieb an einem Mann mittleren Alters hängen, der im weißen Ärztekittel auf einem Drehstuhl saß und auf einem Block herumkritzelte.
So als hätte er meinen Blick gespürt, hob er seinen Kopf und war mir einen Blick über seiner runden Brille hinweg zu.
„Ms. Calder, wie schön Sie wach zu sehen. Wie geht es Ihnen?"
„Ca- Calder...?" fragte ich leise und runzelte meine Stirn bis es mir wie Schuppen von den Augen fiel.
Calder.
Eleanor Calder. Mein Name. Das war mein Vor- und Nachname. Es klang richtig. Es fühlte sich vollständig an.
Ohne auf seine Frage einzugehen, versuchte ich mich aufzurichten, wurde aber durch etwas in meiner Hand gestört.
Irritiert bemerkte ich, dass ein Schlauch in meinem Handrücken steckt, durch den eine Flüssigkeit in meinen Körper floss. Fasziniert betrachtete ich dieses Schauspiel und bekam erst mit, dass der Arzt aufgestanden war, als er plötzlich neben mir am Bett stand.
„Das ist eine Infusion, Ms. Calder. Damit werden sie mit Medikamenten und Flüssigkeit versorgt. Ich bin übrigens Dr. Fraychild, Ihr behandelnder Arzt. Ich habe auch Ihre Operation durchgeführt und..."
„Operation?" unterbrach ich ihn verwirrt und verängstigt zugleich.
Dr. Fraychild richtete seine Brille und blätterte in seinen Unterlagen, bis er mir wieder in die Augen sah und antwortete: „Ms. Calder, Sie wissen sicherlich, dass Sie einen Unfall hatten?"
Langsam nickte ich und versuchte das Dröhnen in meinem Kopf zu verdrängen.
„Gut, das ist sogar sehr gut, Ms. Calder." meinte er zufrieden, hinsichtlich auf mein Nicken und erzählte dann weiter: „Durch den Aufprall auf dem Asphalt haben sie sich ein paar Rippenbrüche und ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen. Als Sie hier ins Krankenhaus eingeliefert wurden, haben wir Sie stabilisiert und eine Computertomographie durchgeführt, bei der wir zum Glück schnell ein epidurales Hämatom festgestellt haben..."
„Ein epidu... was?" Er verängstigte mich. All diese Fachbegriffe und seine nüchterne Art jagten mir einen Schauer über die Haut und ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt wissen wollte, was dieses Hämatom bedeutete...
„Ein epidurales Hämatom bedeutet, dass durch den Aufprall eine Gehirnblutung zwischen äußerer Hirnhaut und Schädeldecke bei Ihnen ausgelöst wurde. Uns blieb nichts anderes übrig, als sie mehrmals zu operieren, bevor der Druck weiter zugenommen hätte, Ms. Calder..."
Gehirnblutung.
Mehrere Operationen.
Zunehmender Druck.
„Sind Sie ehrlich zu mir?" fragte ich ihn leise.
„Wie meinen Sie das? Als Arzt bin ich dazu verpflichtet..." Überrascht richtete Dr. Fraychild seine Brille und legte die Dokumente auf einen kleinen Beistelltisch.
„Dann bitte erzählen Sie mir, wie es um mich stand, Dr. Fraychild." Meine Stimme klang so rau und leise im Gegensatz zu seiner lauten und einschüchternden.
Und seine nächste Worte waren noch präsenter, noch erschreckender als alle anderen davor: „In Ordnung, ich werde ehrlich zu Ihnen sein, Ms Calder. Es sah nicht gut aus. Wir mussten Sie dreimal innerhalb von zwanzig Stunden operieren. Beim zweiten Mal war ihr Zustand kritisch und beim dritten Mal waren sie für ein paar Sekunden tot, bis wir sie wieder zurück ins Leben holen konnten..."
Drei Operationen.
Drei Zusammenbrüche.
Es war auf einmal so deutlich, so einfach zu verstehen.
Und ich war für Sekunden tot gewesen, bei der dritten Operation. Das war der Moment gewesen, wo ich mich entscheiden musste, wo Mum mir sagte, dass ich nach den Sternen greifen, aber dennoch mit beiden Beinen auf dem Boden, im Leben, bleiben sollte. Und ich habe mich für die verdeckten Sterne, für das Leben entschieden.
Ich war Sekunden auf der anderen Seite, im unendlichen Nichts, habe mich aber dagegen entschieden.
Gegen den Tod und für das Leben.
„Welcher... welcher Tag ist heute?"
„Samstag."
„Und wann..."
„Der Unfall war Mittwochabend, Ms. Calder. Sie lagen in einem medikamentösen Koma, lassen Sie sich durch diesen Gedanken nicht beunruhigen. Erinnern Sie sich noch an etwas anderes, als an den Unfall?" Dr. Fraychild setzte sich wieder auf den Stuhl und zog einen Stift aus seiner Kitteltasche um ihn dann, mich erwartungsvoll ansehend, auf einem Blatt Papier ansetzte.
„N-nein..." flüsterte ich abgelenkt, da meine Gedanken immer noch bei den Tagen hingen.
Mittwoch. Samstag. Drei Tage war ich in der Schneelandschaft gewesen. Drei Tage, die sich wie drei Monate angefühlt haben.
Er schrieb sich etwas auf, als ich ihn unterbrach: „Welches Datum haben wir?"
„Den 28. März. Es ist normal, wenn..."
„Und welches Jahr?"
Diese Frage brachte Dr. Fraychild dazu, von seinen Notizen aufzusehen und mein Gesicht zu studieren.
„Es ist der 28. März 2015. Ms. Calder, haben sie weitere Gedächtnislücken?" Seine Stimme war langsam und ich wusste sofort, dass es sicherlich nichts Gutes verhieß, trotzdem nickte ich langsam.
„Ms. Calder, woran können Sie sich erinnern?"
Ich schüttelte meinen Kopf. Ich wusste doch rein gar nichts.
„Können Sie sich an irgendetwas erinnern?"
Er sollte aufhören, mich zu fragen. Sah er denn nicht, dass ich nichts wusste?
„Ms. Calder..."
„Nein!" unterbrach ich ihn fast schon schreiend und hob meine Hände an meine Ohren. „Ich weiß nichts, hören Sie damit auf!"
Ich konnte mich doch nicht erinnern.
Er sagte doch, dass es normal wäre, wenn man Gedächtnislücken hatte.
Es war mir zu viel, es war mir alles viel zu viel.
Wo war die Leichtigkeit aus der Schneelandschaft hin?
„Ms. Calder, es tut mir Leid. Bitte beruhigen Sie sich. Es war eine lange Wachphase für Sie, wie wäre es, wenn Sie sich etwas entspannen und schlafen? Machen Sie sich keine Sorgen, die Erinnerungen kommen meistens wie von selbst im Laufe der nächsten Wochen wieder..."
Doch seine Stimme, die beruhigend klingen sollte, täuschte nicht darüber hinweg, dass ich erkannte, was er mit einem roten Stift auf seinem Blatt schrieb. Und dieses Wort, mit dem riesigen Fragezeichen dahinter, brannte sich in meine innere Festplatte ein, wie die Tatsache, dass ich mich immer noch nicht erinnern konnte.
Es war das Wort retrograde Amnesie, welches mir klar machte, dass ich mich vielleicht getäuscht hatte.
Denn ich hatte die ganze Zeit, in der ich ohne Erinnerungen an mein Leben in der Schneelandschaft gefangen war, gedacht, dass es die Hölle wäre. Ich hatte keinen einzigen Gedanken daran verschwendet gehabt, dass es vielleicht ein Zufluchtsort vor der wahren Hölle war.
Denn vielleicht war aber nicht die Schneelandschaft die Hölle, sondern das hier. Diese Welt, die mich nicht loslassen, ich aber vergessen wollte.
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(06.07.2015 - Danke heartsforsale , das Cover ist wundervoll, mach dir keine Gedanken, Jenny, es ist so wunder-wunderschön!!!)
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