.°•Lost Boy•°. - Verlorene Kinder und Lagunen
Sie flogen über Wiesen.
Sie flogen über Felder.
Sie flogen über Städte.
Sie flogen über Wälder.
Sie tunkten ihre Fingerspitzen in das eisig kalte Wasser der Themse und machten einen Zwischenstopp auf den Zeigern der Uhr des Elizabeth Towers. Matthew konnte die gesamte englische Großstadt mit einem Mal sehen, konnte sogar jene Straße entdecken, in der er und Alfred einst von Arthur gefunden wurden. Die Aussicht war in jeder Hinsicht atemberaubend und einzigartig. Wer würde schon zur Weihnachtszeit ein verschneites, stilles London im Licht der großen Turmuhr begutachten können, wenn nicht Kinder, die mit Peter Pan auf der Reise ins Nimmerland waren.
Doch dieses Mal gab es keinen eindeutigen Peter Pan, keine Wendy, keinen Klaus, keinen Michael und auch keine Tinkerbell, die liebevoll Naseweis genannt wurde. Es gab nur Gilbert, Matthew und den kleinen Sternenvogel Gilbird, die sich auf den Spuren eines vermeintlich fiktiven Charakters befanden.
Und Matthew liebte es. Er liebte jede einzelne Sekunde der grenzenlosen Freiheit, dieser Magie, die seit dem Aufbruch in seinen Adern floss. Die bebende Kälte um ihn herum war unwichtig geworden, ihm ging es einzig und allein um das Erleben dieses bevorstehenden Abenteuers...dieses wunderschönen, wirklichen Traumes. Matthew konnte seine Freude nicht in Worte fassen, sie war einfach zu unbeschreiblich; ein zu mächtiges Gefühl.
Pure Freude hatte er in dieser Art noch nie erlebt, hatte sich noch nie so befreit und leicht gefühlt wie jetzt und allein diese individuelle, intensive Zuwendung einer Person erhellte seine Nacht. Oft hatte er nichts Anderes gewollt als einfach die Aufmerksamkeit von jemanden zu wecken, von jemanden wahrgenommen zu werden und nicht nur als einer von vielen zu gelten. Doch nun, wo er allein mit zwei Nimmerwesen unterwegs war, fühlte er sich erstmal als etwas Besonderes. Als einer von den Wenigen, die diese Reise antreten durften. Als einer der Wenigen, die so nahe am Nimmerland dran waren wie kaum ein anderer. Es war diese Magie, dieses plötzliche Herausreißen aus dem grauen Alltag, das ihn faszinierte und zum Weitermachen antrieb.
Matthew sah in dieser einen Nacht mehr von der Welt, als er sich je hätte erträumen können. Er sah das Meer. Er sah die berühmtesten Schauplätze. Er sah die Tiere; die Menschen, die sich noch außerhalb ihres Hauses aufhielten und er sah die Sterne, die kommen und gingen. Wie der Mond langsam herabsank und sich gen Horizont auszurichten versuchte. Es war eine wundervolle Zeit und das Gefühl einfach frei vor sich hin zu fliegen, ohne an irgendwelche Grenzen zu stoßen, hinterließ einen befreienden Eindruck, den Matthew jede weitere Sekunde lang ausgiebig auskosten wollte.
Dass Gilbert dabei immer ein Auge auf ihn hatte, während er völlig beflügelt um eine Wolke zischte, war ihm jedoch nicht bewusst. Er war zu sehr in seiner eigenen Welt - in seinen eigenen Wahrnehmungen - vertieft, um auf kleine Äußerlichkeiten wie diese zu achten.
"Hey, Mattie", Gilbert flog näher zu Matthew, schnappte ihn an den Handgelenken und zog ihn mit sich mit, "ich glaube wir sind gleich da!" Matthews Augen blitzten auf und seine Mundwinkel zuckten nach oben. "Wirklich?"
"Sicher doch!" Gilbert flog immer schneller voran, immer weiter aufwärts, bis sie durch eine dicke Wolkenmauer krachten, die ihnen in der Nase kitzelte. Kaum hatten sie Ruhe gefunden, schlich sich der Preuße hinter Matthew und hielt ihm die Augen zu, um ihn ein weiteres Mal in ein Spiel zu verwickeln. Zunächst erschrocken fuhr der Kanadier herum, verstand Gilberts urplötzliche Verspieltheit kein bisschen und der unangenehme Druck in seiner Brust wurde immer und immer stärker. "Gilbert, was soll das? Ich sehe nichts mehr!" Gilbert schwebte mit ihm einige Schritte vorwärts durch den Wolkenhaufen. "Das ist auch meinte Intention, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest. Das hier wird eine kleine Überraschung." Ein fieses Grinsen schlich sich auf sein Gesicht, das Matthew leider nicht sah. Dennoch bemerkte er die Körperwärme seines Begleiters, die mit ihrem umarmenden Charakter eine Kette von zarten Elektrostößen unter seiner Haut verursachten. Matthew hielt den Atem an und blieb wie zu Eis erstarrt auf der Stelle stehen, wehrte sich nicht und das Gefühl, von tausenden Augenpaaren durchbohrt zu werden , obwohl sie nur zu dritt waren, drehte ihm den Magen um.
Gilbert führte ihn weiter vorwärts, die Hände immer noch über seine Augen habend, doch Matthews Gliedmaßen waren auf einmal trotz der grenzenlosen Freiheit des Himmels schwer wie Blei. Matthew befürchtete, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen; er fühlte sich so weit weg von der Realität, dachte schon, er sähe sich selbst in der dritten Person vor sich, als Gilbert endlich seine Hände entfernte und seine Sicht wieder frei wurde. Das Licht der Sterne blendete ihn zunächst, leitete ihn dazu, sich die Augen zu reiben, bevor er das sehen konnte, was Gilbert ihm zeigen wollte.
Es war ein auffälliges Loch inmitten einer dicken Wolkenwand, das sich wie ein kleines Fenster um einen bestimmten Ausschnitt der Natur wickelte. Matthew flog näher ran, lugte durch die dicke, überraschend feste Wolkendecke und traute seinen Augen kaum, als er endlich erkannte, was sich vor ihm befand. Sein Herz machte einen Satz, er war wie gelähmt und seine Kinnlade fand den Weg nach oben durch das einfache Staunen nicht wieder zurück.
Er sah das glitzernde Meer.
Er sah die Insel mit dem schneeweißen Sand.
Er sah die hohen Berge.
Er sah die rauen Klippen.
Er sah die Lagunen.
Er sah die Wälder.
Er sah die Schiffe.
Und letzten Endes sah er es...Er sah...Er sah...
"Willkommen im Nimmerland, Matthew."
Gilberts Worte rauschten wie Meerwasser in seinen Ohren.
Nimmerland. Er war hier. Er war tatsächlich hier im Nimmerland. Er war in seinem Traumland, das er mehr als alles Andere verehrte; das ihn mit seiner Vertrautheit immer mehr anzog und ihn immer weiter nach vorne trieb. Matthew lehnte sich vorsichtig und kaum bemerkbar über das Wolkenfenster, schwebte zunehmend hindurch und betrat es. Das Nimmerland. Sein Nimmerland.
"Es ist schön, nicht?" Gilbert lächelte, doch ein Funken Qual verbarg sich in seiner Stimme, der Matthew verwirrte. Was hatte Gilbert bloß auf einmal? Matthew schnellte seinen Kopf zu ihm und nickte stumm. "Es ist wirklich genau so, wie ich es mir vorgestellt habe." "Das ist schön", murmelte der Albino kaum hörbar, seine Augenlider fielen leicht nach unten, als würde ihn etwas bedrücken.
Nun war Matthew endgültig aufmerksam geworden. Gilbert benahm sich eigenartig und Matthew hätte gerne gewusst wieso...Doch danach zu fragen wäre zu früh...Sie waren immer noch zu distanziert, sodass Matthew zurückschreckte, ihm eine solche Frage zu stellen. Trotzdem wollte etwas gegen Gilberts plötzlichen emotionalen Rückzug tun.
Was würde Alfred in einer solchen Situation machen? Matthew erinnerte sich an die Momente, in denen sein Bruder seine konstante Egozentrik und Lautstärke zur Seite schob und alles daran setzte, um ihn wieder zum Lachen zu bringen.
Matthew grinste, nicht wissend, dass Gilbert seiner Mimik heimlich gefolgt war.
Und dann fiel Matthew auf, was all diese Erinnerungen miteinander verknüpfte.
Alfred lenkte ab.
Alfred suchte etwas, das er gerne hatte.
Alfred lachte.
Vielleicht konnte Matthew dieses Mal dasselbe für jemand anderen tun.
"Hey, Gil...eh, ich meine Gilbert, warum fliegst du eigentlich?" Matthew fühlte sich etwas komisch eine Frage wie diese ohne Kontext zu fragen, doch er hätte sich nicht anders zu helfen gewusst.
Gilbert hob verwirrt eine Augenbraue und sah ihn irritiert an, ehe er sich wieder abwandte.
"Weißt du, es ist ganz einfach...", Gilbert ließ sich zurückfallen; die trüben Augen wurden allmählich lichter, was Matthew ungemein beruhigte, "Ich liebe es. Ich liebe es einfach zu fliegen und nicht an einen bestimmten Punkt gebunden zu sein. Es ist die Freiheit der Vögel, die mich immer fasziniert hat, wie sie herumfliegen und dabei nicht an Grenzen stoßen. Ich wollte immer so frei sein wie sie und wenn ich ihnen im Himmel folgen kann, dann fühlt es sich an, als wäre ich Teil ihrer Freiheit." Seine Mundwinkel zuckten nach oben und Matthew wurde augenblicklich angesteckt. Er hatte es geschafft.
"Ich fliege zwar erst zum ersten Mal, aber ich verstehe, was du meinst. Es ist-"
"Einfach awesome!", beendete Gilbert seinen Satz und fasste Matthew ein weiteres Mal an den Händen. "Aber ich wette, ich finde hier etwas für dich, dass noch tausend Mal awesomer als Fliegen ist. Wir sind hier immerhin im Nimmerland." Matthew spürte die Hitze in seinen Wangen, ob sie von der Aufregung und der Begeisterung oder dem wirren Gefühlschaos in seiner Brust zuzuschreiben war, spielte keine Rolle. Er wollte einfach nur jeden einzelnen Augenblick in diesem wunderbaren Land genießen, ehe er schweißgebadet und in einer dicken Decke eingewickelt in seinem Bett aufwachte. Also nickte er rapide, ließ sich von dem Albino zur Insel führen, bis er den feinen, weißen Sand zwischen seinen Zehen herausquellen spüren konnte. Gilbird folgte ihnen, landete letztendlich wieder im zerzausten Haar seines Herrchens und baute sich ein kleines Nestchen darin.
Eine kühle Brise pfiff durch die Palmen, wirbelte einige der Sandkörner in die Höhe und ließ sie keine Sekunde später wieder sinken. Matthew atmete tief ein und konnte es immer noch nicht wahrhaben, dass er endlich angekommen war, dass er nach all den Jahren des Träumens und des Hoffens tatsächlich dieses scheinbar fiktive Land mit eigenen Augen sehen durfte...
Und ein Gefühl durchzog ihn. Ein Gefühl, das ihm ein warmes Kribbeln im Bauch bescherte, das ihn völlig betört zurückließ und ihn mit einer Flut von Geborgenheit und Vertrauen überraschte, die in ihren Wellen all die Wünsche seiner Kindheit neu erzählten und aufwarfen.
Und Matthew sehnte sich nach diesem einen Gefühl schon seit Ewigkeiten, dachte bereits, er hätte es zur Gänze verloren, doch hier, in diesem einen Augenblick, wusste er, wo er war.
Er war dort, wo all seine Wünsche wahr werden würden.
Er war dort, wo er frei war.
Er war dort, wo er er selbst sein konnte.
Er war zuhause. Zuhause im Nimmerland.
***
Die beiden verbrachten eine lange Zeit damit, jede Ecke der Insel zu erkunden und Gilbert wusste scheinbar zu jedem noch so kleinen Steinchen etwas. Er musste diese Insel wie seine Westentasche kennen, musste seit einer halben Ewigkeit hier gewohnt haben, um jedes einzelne Detail aus der Erinnerung heraus aufrufen zu können. Matthew war sprachlos und lauschte gerne den zahlreichen bekannten, aber auch unbekannten Geschichten, die sein Gegenüber von sich gab. Er lernte das Nimmerland auf eine völlig neue Weise kennen, entdeckte die unscheinbaren Kleinigkeiten, die ihm nie in den Sinn gekommen wären und jeder Schritt, den er zurücklegte, schien ihn immer weiter in seine persönliche Traumwelt zu führen. Fernab von der Realität. Fernab von seinem inneren Käfig, der ihm die Freiheit raubte, der ihn vor der Zukunft zurückschrecken ließ. Mit jedem Schritt schien er zu wachsen, fühlte sich zunehmend erholter und freier; der stetige Druck auf seinem Herzen wurde immer leichter. Das musste wohl das Gefühl der Freiheit, nicht? Matthew war sich noch nicht sicher, genoss es aber mit vollen Zügen.
Gilbert hatte ihm allein mit dem Besuch dieser Welt mehr gegeben, als er es sich je erhofft hatte. Diese Dankbarkeit in seinem Herzen - in seiner Seele - die irgendwann drohte überzuschwappen...Matthew hätte sich gerne bei Gilbert revanchiert. Allein diese paar Minuten der Zuflucht in seinem Zimmer waren vergleichsweise zu dem, was der Nimmerjunge ihm bot, absolut nichts wert. Aber was konnte ein simpler Waisenjunge wie er denn einem magischen Wesen, das womöglich bereits hatte, bieten? Materielles stand nur geringfügig zur Verfügung und etwas, das dieser Tat ebenbürtig sein konnte, gab es nicht.
In Matthews Brust entbrannte ein grauenvolles Ziehen.
Er fühlte sich schlecht, dem Albino nichts entgegenbringen zu können; ihm nicht danken zu können. Dabei wurde es ihm doch von Minute zu Minute wichtiger, Gilbert zu zeigen, was es ihm bedeutete...
Was es ihm bedeutete hier zu sein, wie viel ihm seine Aufmerksamkeit bedeutete...wie viel ihm seine gesamte Persönlichkeit bedeutete.
Es war eigenartig, das war Matthew bewusst, dass sie sich doch gerade erst kennenlernten und Matthew sich bereits so sehr an seinen neu gewonnenen Freund band. Doch er konnte sich nicht helfen. Gilbert begegnete ihm anders als die anderen, wichtigen Personen seines Lebens...er beschrieb eine völlig neue, ehemals leere Seite an Matthew, die dem Kanadier selbst völlig unbekannt war. Und vielleicht...vielleicht war dieses neue Kapitel seines jungen Lebens etwas, wonach er schon die ganze Zeit suchte.
Matthew lächelte mild und sah zu dem Preußen, dessen Hand sich seit einigen Minuten an seinem Handgelenk befand. Ein warmes, wohliges Kribbeln durchzog die Stelle, an der er Gilberts Nähe wahrnehmen konnte.
"Sobald wir aus diesem verfluchten Wald raus sind, zeige ich dir den Unterschlupf der verlorenen Kinder, der ist awesome!", prahlte Gilbert, Matthew immer noch durch den Wald ziehend, und setzte einen selbstgefälligen Gesichtsausdruck auf, "Immerhin hat das Awesome Me mitgeholfen, da muss es doch awesome sein!" Gilbird imitierte stolz sein Herrchen und einige Sternpartikel lösten sich von seinen Federn.
"Mhm" Der rote Schleier auf seinen Wangen wurde noch um eine Nuance intensiver.
Zusammen kletterten die drei geschwind einen steilen Hügel hinauf, ließen dabei die winzigen, trockenen Erdbröckchen herabrollen und schlenderten gemütlich durch den letzten Abschnitt des verlorenen Walds. Der schmale Trampelpfad wurde allmählich ebener und das Blätterdach über ihnen erschien immer dünner und lichtdurchlässiger, sodass man bereits den ein oder anderen Stern aufblitzen sehen konnte.
Matthew atmete tief ein. Es war lange her, seitdem er das letzte Mal einen Wald besuchen konnte; seitdem er die feuchte, frische Luft von nassem Gras und durchweichten Baumstämmen und deren Blätter riechen konnte. Matthew hätte noch tausende weitere Gründe aufzählen können, weshalb er es gerade jetzt so sehr genoss hier zu sein, als er plötzlich ein beinahe unmerkliches Summen an ihm vorbeizischen hörte, gefolgt von zarten Flügelschlägen, die seine Wangen nur knapp streiften. Matthew blieb abrupt stehen und erkannte aus dem Augenwinkel wie sich eine Horde fliegender, leuchtender Winzlinge durch den Wald schlängelte. Es waren Leuchtkäfer, die dieses Trara veranstalteten und sich in ihrer Gruppe tänzelnd in Schlangenlinien fortbewegten, sich schließlich nach wenigen Metern voneinander trennten und sich im gesamten Waldstück verstreuten.
Es war ein magischer Anblick, der dem Wald noch mehr Mystik und Tiefe verlieh, ihn in eine märchenhafte Atmosphäre tauchte, die einem mit ihrer friedlich-süßen Ausstrahlung bezirzte. Allein dieser Aufenthalt umringt von Bäumen schien die Zeit zu verlangsamen; sie schien einen aus dem schnellen, vergänglichen Leben zu reißen, das man, ohne mit der Wimper zu zucken, wegwarf, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein.
Matthew sprach ein lautloses "Woah" aus und konnte sich gar nicht genug satt sehen wie die Leuchtkäfer wie kleine Sternschnuppen durch die Lüfte schwebten. Auch Gilbert schien diese Zeit sehr zu genießen, denn er nahm sich Zeit, mit Matthew ein paar Sekunden lang die leuchtenden Schönheiten zu betrachten, was er in der Regel aufgrund seiner Hektik oftmals ignorierte, und er musste zugeben, es senkte seinen akuten Stresspegel enorm, einfach mal die Seele baumeln zu lassen.
Der Albino schielte zu seinem Gast hinüber, ein Grinsen zierte sein Gesicht, als er Matthews zufriedenen Gesichtsausdruck im Schein des Mondes und der übernatürlich hellen Käfer ausmachen konnte. Gilbert drückte vorsichtig Matthews Hand, die instinktiv den Druck erwiderte. Sie brauchten weder Worte, noch Augenkontakt, um zu wissen, wann der andere weitergehen wollte, denn allein ihr Gefühl verriet ihnen, was sie zu tun hatten.
***
Es dauerte nicht lange, da erreichte das bunt gemischte Trio endlich das Ende des Waldpfades und die Freiheit der nahe liegenden Lichtung war zum Greifen nah. Ein Wirrwarr an Stimmen drang in Matthews Ohren; ließ ihn für einen Moment an die wenigen, jedoch sehr lebhaften Kinder des kleinen Waisenhauses denken, die man meist schon um sechs Uhr morgens herumkichern oder jammern hörte. "Sind das die...", begann der Dunkelblonde, doch beendet wurde der Satz von Gilbert "....Verlorenen Kinder, ja, ja das sind sie." Grinsend drückte der Nimmerjunge die großgewachsenen Blätter von tropischen Pflanzen auf die Seite und verbeugte sich so übertrieben, als wolle er den Türsteher eines kostbaren, riesigen Palastes imitierten, als sie kurz davor waren, das Gebiet der Verlorenen Kinder zu betreten. Matthew kicherte aufgrund der Geste und Gilbird äffte wie üblich seinem Herrchen nach.
"Willkommen in meinem Reich, werter Herr", Gilbert sprach mit verstellter Stimme auf so eine geschwollene Art und Weise, dass sich Matthew nur schwer beherrschen konnte, ruhig zu bleiben, "treten Sie nur ein und genießen Sie den Aufenthalt."
Doch kaum hatte Gilbert fertig gesprochen, flitzte Gilbird in hohem Bogen davon in den hohlen, toten Baumstamm mit den verbogenen Ästen, der als geheimer Eingang in die geheime Basis der verlorenen Kinder führte.
Matthew starrte dem Ganzen nur noch hinterher. "Wo wollte er denn so schnell hin?"
"Ach", Gilbert schnappte Matthew erneut am Handgelenk und führte ihn immer mehr in die Mitte der Lichtung, "der sucht uns nur die Jungs und Mädels zusammen, damit ich dich ihnen vorstellen kann." Er grinste Matthew verschmitzt an und Matthew blieb nichts Anderes über, als sich davon anstecken zu lassen. Sein Lachen war einfach nicht zu umgehen...
Doch dann kam doch wieder der Zweifel auf und der Dunkelblonde mit der eigenwilligen Locke fasste sich an seinen aufgeregt kribbelnden Bauch.
"Glaubst du überhaupt, dass sie mich sehen wollen?"
"Natürlich! Du bist immerhin awesome", Gilbert stellte sich direkt vor Matthew, verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn ernst an, "zwar nicht ganz so awesome wie ich, aber immer noch genug awesome, um fast mit mir mitzuhalten. Und das sieht man nicht alle Tage!"
"Wie du meinst..." Seine Mundwinkel zuckten für einen Augenblick nach oben und er spürte, wie seine Wangen abermals warm wurden. Er genoss die Zuneigung Gilberts; es war ein komplett neues Gefühl für ihn, auf einmal eine so intensive Zuwendung erfahren zu können, ohne sie zwangsmäßig mit jemandem teilen zu müssen, wie es in seinem Leben sonst immer der Fall war. Und Matthew genoss absolut jede einzelne Sekunde, in der er, ohne selbst danach zu bitten, der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit einer Person war, sei es nur für ein paar Stunden oder gar nur Minuten.
Plötzlich raschelte es in den Büschen und Matthew fuhr erschrocken herum, stolperte einige Schritte nach vor und knallte mit dem Kopf gegen Gilberts Schädel. Es gab einen dumpfen Aufknall, ein brennendes Stechen breitete sich aus und beide Jungs mussten aufgrund des Schmerzes laut aufzischen.
"Großartig...jetzt ist das Bild total verwackelt...Na, vielen Dank aber auch..."
Eine, vom Akzent geprägte Stimme kam aus den ehemals raschelnden Büschen und ein kleiner Junge mit schwarzem Haar und altmodischer Kamera kämpfte sich durch die vielen Äste.
Matthew sah den Kleinen nur perplex an, verstand nur schwer, was gerade passiert war, während der Albino nur genervt mit dem Kopf schüttelte. "Kiku, was habe ich dir gestern Abend über das Anschleichen und Fotografieren von Leuten erzählt?"
"Ich soll keine Fotos, ohne Einwilligung der Abgebildeten, machen und sie in mein Fotoalbum kleben; Nimmerländischer Datenschutz, Paragraph 161 ABGB", erwiderte der vermutlich 12 Jährige in monotoner Stimmlage und schaute dabei bedrückt zu Boden, ehe er sich tief verbeugte. "Ich bitte um Entschuldigung, es scheint mir was entfallen zu sein."
Gilbert verdrehte die Augen. Es war jedes Mal dieselbe Ausrede, die der Japaner parat hatte, nur um weitere Schnappschüsse für sein geheimes Fotoalbum machen zu können. Was sich darin wohl für Bilder befanden, wusste Gilbert nicht direkt, aber er konnte bereits Ahnen, dass es sich hierbei in der Regel um Fotos von mindestens zwei Menschen handelte. Selbst eine Freundin von ihm war eine Kandidatin, die ihm tatkräftig zur Seite stehen würde.
"Hm, Entschuldigung ausnahmsweise angenommen...", er sah sich um, "Wo ist Elizabeta? Wenn du hier bist und Fotos von mir und Mattie machst, wird sie nicht recht weit sein..."
Kiku kicherte nervös. "Ich befürchte, sie liegt hier entweder quietschend herum oder sie hat sich wieder in eine ihrer Höhlen verkrochen."
"Sie hat sich in ihre Höhlen verkrochen", mischte sich plötzlich ein anderes Kind ein, das hinter ihnen aufgetaucht war und Gilbird in seinem purpurroten Barett hausen ließ. Es hatte seine weißblonden Haare zu Zöpfen geflechtet, trug sehr farbenfrohe Kleidung, die man eher als Eigenproduktion einstufen könnte und in seinen Händen trug er zahlreiche Farbtuben und Pinsel, die aufgrund der überladenen Menge jeden Moment zu Boden krachen könnten.
"Ich habe sie vorhin bei der Meermädchen Lagune vorbeigehen sehen, als ich mit Wendy, Romeo und Peter dort die Wasserfälle abgemalt habe." Er machte eine Pause. "Obwohl doch eher Wendy und ich gearbeitet haben, während Romeo drauf und dran versessen war, zu den Meermädchen zu gehen, aber Peter ihn jedoch lieber zum Inuitstamm schleppen wollte...Ich bin geblieben, immerhin war es für die Kunst!"
Meermädchenlagune und Inuitstamm? Matthew wurde auf einmal ganz Ohr. Die Lagune war ihm bereits mehr als bekannt, immerhin wurde sie auch in zahlreichen Auffassungen der Geschichte Peter Pans erwähnt, doch der Inuitstamm war ihm neu. Bis jetzt hatte er geglaubt, es gäbe lediglich den Indianerstamm in den Bergen, allerdings wurde diese Einbildung nun widerlegt. Gerade diese neue Information reizte seine Sinne an, seine unstillbare Neugier auf jeden noch so kleinen Winkel dieser Welt.
"Inuitstamm?", Matthew drehte sich zu Gilbert, "Können wir da hingehen, ich weiß noch gar nichts davon...bitte."
Gilbert sah einen aufgeregten, flehenden Funken in Matthews ungewöhnlichen, aber gar wunderschönen Seelenspiegeln aufscheinen. Er schielte für einen Augenblick auf die Seite, vermied den Augenkontakt gezielt und spannte den Siebzehnjährigen extra lange auf die Folter.
"Von mir aus.."
Sie lächelten sich beide schüchtern und doch zufrieden an, als sich plötzlich ein Schwarm von Krähen kreischend in die Lüfte erhob und das ohrenbetäubende Geschrei zweier Kinder immer lauter und lauter wurde. Der Boden bebte in kurzen Abständen, was die zwei anwesenden verlorenen Kinder fast zur Flucht verleiten ließ. Denn wenn jemand ein solches Trara veranstalten konnte, dann waren es Wendy und Peter.
Die Rothaarige mit den Farbklecksen im Gesicht und der blonde Junge flitzten so schnell sie konnten zu ihren Freunden, waren jedoch nicht fähig ihr aufgeregtes Geplappere einzustellen, sodass sie aneinander in einer immensen Geschwindigkeit vorbei redeten. Matthew war überfordert, womöglich auch Gilbert, Kiku und Leo, da sie alle mit irritierter Miene versuchten, zu verstehen, welche Laus ihnen über die Leber gelaufen war.
Kiku war der Erste, der sich wieder fangen konnte. "Beruhigt euch, wir verstehen nichts, wenn ihr in solch einem Wirrwarr zu uns sprecht!" Peter und Wendy bemühten sich, ruhig zu werden, was ihnen jedoch nicht so ganz gelang, da sie oftmals in die Sätze des anderen reinredeten.
"Romeo ist bei den Meermädchen auf der kleinen Insel-"
"Weil er wieder einmal der Chameur sein wollte..." Wendy verdrehte die Augen.
"Und dann hat er sie verärgert-"
"Weil er zu dumm war, seine Grenzen einzuschätzen...wie immer..."
"Und jetzt..." Peter kratzte sich nervös am Hinterkopf.
"Sind sie eventuell dabei, ihn mit in ihr Reich zu verschleppen."
Ein Fragezeichen stand in den Gesichtern der Zuhörer geschrieben. Was zum Teufel hatte Romeo nur gesagt, dass es derartig eskaliert? Matthew wirkte allerdings komplett ahnungslos, da er nicht nachvollziehen konnte, was das Problem dabei war. Doch da meldete sich wieder Gilbert zu Wort, der grummelnd den Kopf schüttelte.
"Lass mich raten: Er ist zu sehr in seiner eigenen Welt versunken, um zu bemerken, in welcher Gefahr er schwebt?", er seufzte, "Dieser Idiot wird elendig ertrinken, wenn er nicht bald da weg kommt...." Gilbert schenkte Matthew einen entschuldigenden Blick. "Ich muss schnell zur Lagune, ansonsten kommt er nicht mehr lebend von der Insel runter. Die anderen können immerhin nicht selber hinschwimmen!" Letzteres betonte Gilbert lautstark, sicherstellend, dass auch Wendy ihn trotz zugehaltener Ohren hörte.
Er machte sich schon bereit, loszufliegen, als er auf einmal ein rasches Zupfen an seinem Ärmel wahrnahm und sich noch eine letzte Sekunde Zeit nahm, um zurückzusehen.
Es war wie zu erwarten Matthew gewesen, der ihn entschlossenen Blickes ansah. Er hatte seine linke Hand zur Faust gebildet, die andere hing noch zitternd an Gilberts Ärmel. Ein kaum merklicher, aber eindeutig anwesender Schleier von Verzweiflung und Flehen hing über seine Iriden und ließen sie für Gilbert verletzlicher erscheinen, als sie zugeben wollten. Doch warum reagierte Matthew auf einmal so enorm auf das, was er tat? Was brachte ihn dazu, einerseits so bestimmt und andererseits so verwundbar zu sein?
Wenn es Gilbert nur gewusst hätte...Er hätte es nicht glauben können, was die treibende Kraft hinter all dem war. Warum sich Matthew von diesem Gefühl in seiner Brust so zerfleddert fühlte wie ein zerrissenes Stück Papier, das herrenlos im Wind davonsauste...Warum Matthew das Gefühl hatte, dass ihm etwas entrissen werden würde, dass er etwas verlieren würde, wenn er ihm nicht folgen würde.
Matthew biss sich nervös auf die Unterlippe, schluckte und bemühte sich, das stetig steigende Hämmern seines Herzens zu unterbinden. Ein dicker Kloß bildete sich in dem Moment in seinem Hals, als er begann, zu sprechen, brachte jedoch nichts weiter als eine halbe Lüge raus, die nicht ganz seinen eigenen Wünschen und Gedanken entsprach. "Nimm...Nimm mich mit! Ich will auch die Lagune sehen!"
Matthew atmete tief ein, darauf wartend, eine Antwort zu bekommen. Wie würde Gilbert darauf reagieren? Würde er ihn zur Seite schieben und zurücklassen wie es bis jetzt jeder tat, der mit Matthew zu tun hatte? Er wollte gar nicht erst daran denken, was Gilbert wohl nun von ihm dachte, allein der Gedanke daran, dass er ihn verlassen könnte und er ein weiteres Mal allein stehen gelassen werden würde, sog Matthew in einen schier unendlichen Strudel voller Ängste, Enttäuschung und Verzweiflung. Und sei diese Situation auch nur ein lächerliches Überreagieren - und Matthew wusste, dass er sich zu viele Gedanken machte - für ihn war es so, als würde ihm jemand eine wichtige Bezugsperson auf ewig entrissen werden. Und diese Bezugsperson zu der er innerhalb kürzester Zeit so viel Vertrauen und Bindung aufbauen konnte, war Gilbert, so lächerlich und unglaubwürdig es auch klingen mochte. Er hatte allein in dieser Nacht eine Stellung in seinem Leben eingenommen, die jenseits der Importanz seines Bruders oder den Erziehern war. Gilbert war ihm anders entgegen getreten als es bisher jemals jemand tat. Und für eine Person wie Matthew, die in ihrem Leben so oft fallen gelassen wurde - sei es das Verlassen und der Kontaktabbruch seiner Freunde nach einem Adoptionsfall oder das ständige Hören der Wörter "Jetzt nicht, Matthew, ich habe gerade keine Zeit" gewesen - löste selbst das kleinste Anzeichen des Verlassenwerdens ein bedrückendes Angstgefühl aus, von dem er sich retten wollte...Er könnte es nicht mehr ertragen.
Matthew war sich sicher, dass Gilbert bereits all seine Unsicherheiten von den Lippen gelesen hatte. Denn egal wie sehr er sich hätte bemühen können...Matthew blieb ein offenes Buch für den Nimmerjungen.
"Von mir aus, aber wir müssen schnell sein!", sprach Gilbert letztendlich und Matthew atmete erleichtert aus. Er würde doch nicht allein sein. Flink schnappte Gilbert Matthew am Handgelenk, pfiff sich Gilbird wieder herbei, um ihn wieder einer Feenglanzdusche zu unterziehen, bis sie schließlich beide in die Lüfte abhoben und den Weg zur, zum Glück naheliegenden, Lagune antraten.
***
"Und? Wie fandest du die verlorenen Kids? Awesome, nicht wahr? Ich habe sie alle ausgebildet!", fing der Albino nach einer kurzen Schweigeminute an zu prahlen. Gilbird konnte nur zustimmen und imitierte, wie schon so oft, sein Herrchen.
Matthew musste lächeln, ein zufriedenes Blubbern erfüllte zunehmend seinen Bauch.
"Man merkt jedenfalls, dass du Einfluss auf sie hattest", entgegnete der Kanadier frech.
"Wie soll ich das jetzt verstehen? Dass meine Awesomeness auf sie abgefärbt hat? Wenn ja, dann danke für das Kompliment."
"Nicht ganz", Matthew kicherte schüchtern, doch Gilbert stemmte empört die Hände in die Hüfte.
"Na also", er stockte, "was soll es denn sonst sein?"
Gilbert wäre vor lauter übertriebener Dramatik beinahe gegen einen Ast gedonnert, was Matthew wiederum amüsierte. "Das wüsstest du wohl gerne."
Gilbert verdrehte die Augen. Wann war aus dem kleinen, zurückhaltenden Mauerblümchen ein Frechdachs geworden? Ob sein eigenes Verhalten auf ihn abfärbte? "Ja, das würde ich tatsächlich gern wissen!" Seine Stimme klang mehr gereizt als sie eigentlich sollte, aber Matthew wirkte, als hätte er verstanden, wie es gemeint war.
Stille.
Peinliche Stille.
Keiner wagte es mehr, ein Wort zu sagen, obwohl sie noch so viel voneinander lernen hätten können. Für ein paar Augenblicke betrachtete Matthew den langsam immer dünner bewachsenen Wald, dessen Boden immer hügeliger und schließlich bergiger wurde, bis es ihn plötzlich traf wie einen Blitz.
"Hey, Gilbert?"
Der Albino drehte seinen Kopf zu seinem Gast.
"Was meinte Kiku vorhin mit dieser 'Elizabeta'? Er meinte, sie befände sich wieder in einer Höhle..." Gilbert sah ihn an als hätte er einen Geist gesehen. Hatte er etwas Falsches gesagt?
"Nun...Elizabeta ist...sagen wir, sie ist etwas eigensinnig. Eigensinnig und ein richtiger Dickschädel...", er machte eine Pause, "Lass mich dir eine Geschichte erzählen, Mattie, das ist einfacher." Matthew nickte und spitzte die Ohren, um ja nichts zu überhören.
"Es gab eine Zeit, in der es keine verlorenen Kinder gab. Es gab die Völker, es gab die Insel, aber kein Leben von außerhalb dieses Landes. Elizabeta war die erste Fremde, die einen Fuß auf die Insel setzte. Sie wurde angespült, lebte für lange Zeit in der Unwissenheit, dass sie ein Leben vor ihrer Ankunft führte und war somit das erste verlorene Kind. Doch irgendwann, als wir eine Wette am laufen hatten, verlief sie sich in den Schädelhöhlen. Ich fand sie erst drei Tage später wieder und seitdem ist sie wie ein anderer Mensch. Es musste etwas in den Höhlen vorgefallen sein, das sie so veränderte und so von der Idee besessen machte, dass das Nimmerland ein verfluchtes Paradies sei, das uns derartig in die Herrlichkeit des ewigen Kindseins zu bezirzen versuchte, um unsere Seelen hier gefangen zu halten. Deshalb würde man hier nicht altern, da diese Insel anscheinend die Seelen ihrer Bewohner in ihren Besitz nahm, bevor sie den Himmel erreichten. Elizabeta redete von ihrer Vergangenheit, die ihr wieder eingeleuchtet war, fühlte sich zunehmends hier wie in einem Gefängnis und seitdem sucht sie einen Weg, zu fliehen..."
Matthews Augen weiteten sich. Das Nimmerland, sein Traumland, sollte nichts weiter als ein grausamer Fluch sein? Das konnte er nicht glauben, das wollte er nicht glauben. Aber dennoch hörte er weiterhin zu. Elizabetas Verschwörungstheorie hatte, trotz aller Negativität, sein Interesse geweckt.
"Niemand glaubte ihr und sie blieb mit ihrem Entschluss, die verlorenen Kinder von diesem verfluchten Ort zu 'retten' allein. Ich hatte versucht, mit ihr zu reden, aber es endete jedes Mal in einem Konflikt oder sie würgte mich ab."
Matthew blieb nichts Anderes übrig, als zu nicken.
"Seitdem verschwendet sie ihre Zeit damit, in den sieben Höhlen des Nimmerlands nach irgendwelchen Mitteln zu suchen, die ihr helfen. Überraschenderweise hat sie am Ende immer etwas Eigenartiges dabei, also ganz hinfällig scheinen ihre Hirngespinste nicht zu sein."
Matthews Miene verfinsterte sich, Sorge spiegelte sich in seinen Augen wider. Könnte an den Theorien etwas Wahres dran sein? Matthew musste wissen, was Gilbert darüber dachte. Er lebte die längste Zeit hier, hatte alles mit eigenen Augen beobachten können...er wollte eine Rückmeldung haben, die seine eigenen Bedenken entschärfte.
"Denkst du...", Matthew strich sich eine lose Haarsträhne zurück, "...das Elizabeta es durchziehen könnte? Dass sie das Nimmerland...zerstören würde?" Seine Stimme wurde zunehmend brüchiger, was auch Gilbert beunruhigte. Es war eine schwierige Frage, zu der es keine hundertprozentige Antwort geben konnte.
"Nein, ich glaube nicht...jedenfalls nicht in näherer Zukunft, aber ich sollte sie lieber nicht unterschätzen." In Gilberts Visage fand sich seine Zwiegespaltenheit wieder, seine Bedenken, die er nicht zu Wort zu bringen vermochte und Matthew erkannte mit einem Mal dieselbe Trauer in seinen Iriden, die er bei seiner Ankunft im Nimmerland erfahren durfte. Diese Thematik schien Gilbert zu beschäftigen, wenn nicht sogar Angst zu machen. Gilbert, der in Matthews Augen so furchtlos und sorglos erschien, wurde nun ein weiteres Mal in die Schmerzenshölle seiner selbst hinab gezogen.
Matthew fühlte sich abermals schlecht, seinen neu gewonnenen Freund an einer sensiblen Stelle getroffen zu haben, hätte es am liebsten wieder gut gemacht, wäre da nicht das auffällige Gekicher von Meerjungfrauen in den Weg gekommen, die einen Jugendlichen in tausenden Muschel und Blumenketten einkleideten...oder doch eher fesselten, bis er sich keinen Zentimeter mehr bewegen konnte, ohne dass er es selbst mitbekam.
Matthew hörte, wie Gilbert neben ihm sich gegen die Stirn schlug und zögerlich zur Landung ansetzte. Er zischte. "Romeo, gottverdammt, was stellst du nur wieder an?"
Flink näherten sich die beiden plus Vogel der abseits liegenden Lagune. Die Felsen, die diesen kleinen Abschnitt des Meeres wie eine schützende Mauer umrandeten, leuchteten in einem strahlenden Ultramarinblau, deren kleinste Partikel mit kristallenen Steinchen ausgeschmückt waren und selbst das gewöhnlichste Gestein wertvoll erscheinen ließ. Der Wasserfall, der in rauschendem Getöse in einem nebeligen Gemisch aus feuchter, warmer Luft und Wasser in die Tiefe stürzte, benetzte die Oberfläche des Riffs mit einem dünnen Film aus Wasser, das es einem umso schwieriger machte, Halt zu finden. Umringt von tropischen Pflanzen, die durch die Ritzen der niedrigsten Ebene, kurz vor der Meeresbrandung, herausschossen, lud die Lagune dazu ein, die Seele einfach baumeln zu lassen und jegliche Sorge zu vergessen.
Und doch hatten Matthew und Gilbert keine Zeit zu vertrödeln, denn Romeos Naivität und Unfähigkeit, die anbahnende Gefahr in den Taten der Meerjungfrauen zu lesen, konnten innerhalb weniger Sekunden zum Verhängnis werden. Gilbert schoss auf die kleine Insel inmitten der Lagune zu, während Matthew etwas weiter im Abseits landete und die Szene lieber von Weitem beobachtete.
Weder die Meerjungfrauen noch Romeo bemerkten, wie sich der Albino auf sie zubewegte, weswegen sie immer noch tief im Gespräch versunken blieben.
"Danke, danke, meine Lieben, aber denkt ihr nicht, dass es schon genug Ketten sind? Wie ich immer sage: Weniger ist mehr, es sei denn es geht um Komplimente an schöne Mädchen wie euch." Romeo lachte dämlich, von den schön verpackten Worten der Meerjungfrauen betört, herum. Doch die Meerjungfrau mit dem rotbraunen Haarschopf kicherte nur. "Nein, nein, im Gegenteil, Romeo, das ist zurzeit in Atlantica der letzte Schrei, da schwimmen alle Meermenschen, die etwas auf sich halten, so herum. Nicht wahr, Nadja? Joanna?"
"Aber sicher, wirklich jetzt!" Die Blondine setzte Romeo eine Blumenkrone auf und betrachtete ihr Werk. Die Größte, irgendwie auch Furchteinflößenste von ihnen klatschte in die Hände. "Stimmt, Ashley! Er sieht schon besser aus als, der letzte, den wir erträn-" Plötzlich hielt die Brünette Nadja den Mund zu.
"Shhht! Nadja! Halts Maul!"
"Ich würde euch ja liebend gerne weiter lauschen, meine, leider nicht ganz so awesomen Damen, aber ich glaube, der Junge da gehört zu mir." Gilbert hatte es sich inzwischen auf einen kleinen Felsen gemütlich gemacht und verbeugte sich übertrieben. Unzufriedene Blicke wurden hin und her geworfen, besonders Nadja schien mit ihrem passiv aggressiven Verhalten einige Wutanfälle zurückzuhalten.
Ashley übernahm jedoch die Führerrolle und war die Erste, die dem Albino, der gerade ihr nächstes Mordopfer mitnehmen wollte, die Stirn bieten konnte. "Aja, schön zu wissen...wer bist du? Man sollte bekanntlich nicht mit Fremden mit." Gilbert raunte, bemühte sich aber, sich zusammenzureißen, bevor dieses verrückte Pack an Weibern ihn auch noch ertränken wollte.
"Man sollte auch nicht mit Fremden reden und trotzdem machen wir es gerade in dem Moment....Und Gilbert der Name, ich befürchte, du wirst schon von mir gehört haben."
"Natürlich, du bist diese lästige Fliege, die Tag und Nacht herumschwirrt und nur Schei-"
"Nadja, nicht jetzt! Wir befinden uns in einer Unterhaltung!" Ashley schob ihre Kumpanin, die sich eingemischt hatte, zur Seite. "Wirklich jetzt, Ash? Das ist nicht cool, wir sind auch noch da..." Joanna stieß Ashley ihren Ellbogen in die Rippen und funkelte sie böse an.
Gilbert war sichtlich amüsiert von dem anbahnenden Zickenkrieg der Meerjungfrauen, den er eigentlich dafür ausnützen könnte, um Romeo hier weg zu bringen. Aber...das wäre doch langweilig und vorhersehbar. Lieber wollte er die drei noch ein wenig provozieren und sie auf die Palme bringen, bevor er sich den wichtigeren Dingen zuwendete. Wann hätte er denn sonst die Gelegenheit, ein paar leicht reizbare Mädchen auf 180 zu bringen?
Während er also die Mädchen eine Weile hinterrücks gegeneinander aufhetzte, befand sich Matthew noch immer im Hintergrund, darauf wartend, dass Gilbert endlich wieder zu ihm zurückkam. Es vergingen einige Minuten und Gilbert machte immer noch keine Anstalten, einen Zahn zuzulegen, weswegen Matthew langsam mit seinen Bedenken zu tun hatte, dass Gilbert auf ihn vergessen hatte. Der Einzige, der ihm im Moment Gesellschaft leistete, war Gilbird, der sich aus Matthews fluffigen Haarschopf ein weiteres Mal ein Nest gebaut hatte und ein Nickerchen hielt. Matthew könnte es nicht weniger stören, viel mehr aber die Tatsache, dass Gilbert so viel Zeit vertrödelte.
Matthew war normalerweise sehr geduldig und es ging ihm nur selten etwas auf die Nerven, aber dieses Mal machte es den Anschein, andersrum zu sein. Ein unangenehm prickelndes Gefühl machte sich unter seiner Haut breit, jagte ihm einen Schauer nach dem anderen über den Rücken und ließ ihn angespannt in der Gegend herumschauen. Man hätte seine Ungeduld dafür verantwortlich machen könnten, jedoch lieferten ihm diese Emotionen neue Erfahrungen, die Matthew eher schwach belächelte.
Es war das schmerzende Ziehen in seiner Brust.
Es war der Drang einfach wegzuschauen.
Es war dieses Unwohlsein in allem, was ihn umringte.
Und vielleicht war es auch die plötzliche Angst, nicht mehr relevant zu sein, vergessen und ersetzt zu werden, die an ihm nagte. Das Verlangen einfach zu weinen, es wurde immer einladender und allmählich stürzte es Matthew in einen endlosen Kreisel aus Verwirrung und dem Unbekannten, in das er sich immer mehr hineinstürzte, je weiter er voranging. Immer mehr Fragen kreisten unaufhörlich in seinem Kopf herum, ließen ihm keine Ruhe und zwangen ihn dazu, sich vor Erschöpfung hinzusetzen.
Wieso empfand er so plötzlich diese Massen an Gefühlen, die ihm über den Kopf wuchsen?
Weshalb schmerzte es ihm, nicht mehr der zentrale Punkt von Gilberts Aufmerksamkeit zu sein?
Warum war ihm Gilbert, den er kaum kannte, so wichtig geworden?
Matthew wusste auf diese Fragen weder eine Antwort noch eine Erklärung. Lediglich das Wissen - das Erahnen - dieser neuen Emotion führte ihn stückchenweise näher an das große Mysterium heran, das in dieser Nacht stetig weiter wuchs und bald die ersten Früchte träge.
Denn diese neue Emotion, dieses neue Gefühl, das ihn heimsuchte und sich wie ein giftiger Parasit in sich ausbreitete und nur darauf wartete, die Überhand zu ergreifen....war die Eifersucht.
Dieses Fläschchen Gift, das sich in jedem Menschen, egal ob fromm oder gemein, befand und einem die Sicht auf das Schöne vernebelte, bis man sich in einem selbst geschaufelten Grab seines Leids wiederfand aus dem man nach dem Schaden, den man angerichtet hatte, von alleine wieder heraus kommen musste.
Matthew hasste dieses Gefühl; er wollte es nicht empfinden, fühlte sich zunehmend schlechter, dass er tatsächlich wegen einer solchen Kleinigkeit ein riesiges Trara veranstaltete.
Aus seiner Abneigung entflammte eine Wut. Eine Wut auf sich selbst und seine Gefühle. Doch auch der Zorn galt als Neuland, das nach wenigen Augenblicken von seiner bekanntesten Emotion, dem Kummer, überflutet wurde.
Matthew war verwirrt.
Verwirrt von sich selbst.
Er fühlte sich entzwei gerissen von dem Chaos, das sich in seiner Seele, in seinem Herzen, zusammenbraute und ihn in einem endlos drehenden Karussell gefangen hielt. Ihm wurde schwindelig. Der Stress nagte an seinen Nerven, arbeitete sich bis in die letzte Zelle seines Körpers vor, bis er auch das Herz in einen Wettlauf verwickelte. Matthew ließ sich auf den Boden fallen, überwältigt von der plötzlichen Stressattacke, die ihm einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Er hatte sich zu sehr hinein gesteigert. Er hatte sein Gefühlschaos nicht unter Kontrolle bringen können und fand keine Möglichkeit mehr, sich ohne Unterstützung beruhigen zu können.
Matthew krallte sich mit den Fingernägeln in den Boden hinein, vollzog tiefe und lange Atemzüge, um wenigstens sein Herzrasen zu mindern, doch es half nur vage.
Seine Umwelt blendete er aus und alles verschwamm in ein Gemisch aus Farben, die er nur noch mit Mühe differenzieren konnte.
"Ruhig bleiben, ganz ruhig blieben...", sprach er zu sich in Gedanken und schloss die Augen.
Nur wenig wusste er, dass es eine kleine Truppe von Meerjungfrauen dazu einladen würde, ihn weiterhin anzusticheln, während er wehrlos am Boden kauerte. Es dauerte nicht lange, da gesellte sich schon der erste unanständige Gast zu ihm.
"Oje, oje, wen hat die Flut denn da ans Ufer geworfen?" Die Meerjungfrau legte den Kopf schief, ehe sie sich zu ihren zwei Freundinnen umdrehte. "Maddie, Catherine, ich glaube, da erstickt jemand!"
"Was? Wo? Das muss ich sehen!", flötete die eindeutig ältere von den beiden und schubste den Winzling neben sich auf die Seite, "Weg da, Maddie!" Maddie brummte beleidigt, folgte ihnen aber, ohne ihren Kopf weiter als bis zur Nase aus dem Wasser zu strecken.
Catherines Lächeln verschwand als sie Matthew sah. "Der erstickt doch nicht, Liv, da müsste er bereits blau sein." Liv verdrehte die Augen. "Und weiter? Wir könnten ihm trotzdem helfen, dass er damit Schluss macht, toter Fisch zu spielen, oder?"
"Mir egal, haltet mich da raus..."Maddie wollte noch weiter untertauchen, wurde aber von Liv wieder hoch gezogen. "Nein, entweder wir alle oder keiner..." Maddie seufzte, gab sich geschlagen und begann nun gemeinsam mit Liv und Catherine den armen Matthew mit Wasser abzuspritzen.
Matthew quiekte erschrocken auf, als er das eisig kalte Wasser auf seiner Haut spürte und robbte einige Meter zurück, nur um sich den Kopf an der eckigen Felswand anzustoßen und den stechenden Schmerz zusammen mit einer Ladung Salzwasser in der Nase und in den Augen zu spüren. Im ersten Moment konnte er sich nicht zurecht finden, hielt instinktiv nach Gilbert Ausschau, in der Hoffnung, dass er ihm heraus half, doch er sah niemanden.
Niemand war da, um ihn aus der Gefahr zu leiten.
Niemand war da, um ihn zu unterstützen.
Niemand war da, der sich auch nur ein Sterbenswörtchen für ihn interessierte.
Das Wasser sog sich in seinen Pyjama, machte ihn immer schwerer und träge und wie sehr er es auch versuchte, aufzustehen, Matthew rutschte immer wieder raus. Er wollte schreien, um Hilfe flehen, darum beten, dass diese Meermädchen ihn endlich in Ruhe ließen, allerdings blieben ihm all diese Optionen verwehrt. Sein Hals war wie zugezogen, seine Stimmbänder schienen nicht mehr zu existieren. Er zwang sich ein weiteres Mal auf die Beine, mit dem Ziel, so schnell wie möglich zu verschwinden und sich so lange zu verstecken, bis Gilbert sich wieder Zeit für ihn nahm. Er wagte einige Schritte auf die Seite, rutschte ab und fühlte sich für einen Moment schwerelos und in der Zeit eingefroren. Sein Herz blieb stehen und Gilbird, der vor wenigen Augenblicken entsetzt mit den Flügeln flatterte, als ihn das Wasser berührte, erschien vor seinen Augen. Matthew sah, wie er zu seinem Herrchen flog, die goldgelben Flügel rastlos auf- und abschlagend.
Und Matthew sah Gilbert.
Gilbert, wie er mit dem Rücken zu ihm stand.
Gilbert ,wie er nicht einmal bemerkte, dass er jeden Moment vom immer näher kommenden Meer umarmt und in die Tiefe gedrückt werden würde.
Gilbert, wie er ihn so fallen ließ wie es zahlreiche andere Leute vor ihm getan hatten.
Er bemerkte nicht einmal den lauten Platscher, den er darlegte, als ihn das Wasser mit allen Einzelheiten ergriff. Er bemerkte nicht, wie ihm die Luft mit einem Schlag wegblieb. Er bemerkte nicht, wie sehr die rabiate Gruppe von Meermädchen an seinen Haaren zupfte, ihn aus dem Wasser zog und wieder hineintauchte als wäre er das Badespielzeug eines Kleinkindes.
Die Hoffnung, dass Gilbert ihm entgegenkäme, seine Hand ergreife und ihn aus dem Schlund des düsteren, märchenhaften Terrors ziehe, wurde immer kleiner und kleiner. Matthews wehrende Bewegungen wurden immer schlaffer, immer schwächer und er sah keine andere Möglichkeit mehr, als nachzulassen und sich der luftlosen Dunkelheit hinzugeben.
Sein Geist verschwand in dichten Nebelschwaden, verwischten die Linie zwischen Realität und Fiktion, sodass er die Rufe anderer nur als fremdartiges Rauschen in seinen Ohren wahrnehmen konnte. Er verfiel immer mehr der ruhigen und doch grauenvollen Betäubung der Kälte, die seine schützende Körperwärme wie ein Haufen hungriger Ameisen verzehrte und zunichte machte. Die Farben verblassten, sein Puls sank und auch sein Bewusstsein schwankte zwischen ewiger Verdammnis und rebellischer Willensstärke. Er dachte, hier und jetzt wäre sein Ende. Inmitten seines Traumlandes, das er im Herzen immer schwor zu hüten und wertzuschätzen.
Erst als er einen festen Griff um sein Handgelenk spüren konnte, bewahrte sich der letzte Funke zu erlöschen. Jemand zog ihn hoch. Der Druck des Wassers wurde weniger; die Wärme kam zurück. Seine Finger durchbrachen die dünne Oberfläche, fühlten den erfrischenden Wind an ihren Spitzen, gleich danach verließ der Kopf sein wässriges Gefängnis und Matthew schnappte gierig nach Luft. Er hustete stark, seine Beine waren zu steif und zu schwach, um sich aufrecht erhalten zu können. Er taumelte benommen nach vorne und fand Schutz in den Armen der Person, die ihn gerettet hatte. Zwei Arme schlangen sich um seinen Oberkörper, drückten ihn nah zu ihrem Besitzer, der sich nun endlich leise schluchzend auf die Knie fallen ließ, Matthew aber keinesfalls mehr losließ. Matthew hustete weiter, kam langsam von alleine wieder zu Sinnen, als er plötzlich wieder etwas hören konnte und für einen kurzen Augenblick, für ein einmaliges Wimpernzucken innehielt und lauschte. Es war nicht das Gezwitscher eines aufgeregten Vogels, der angespannt hin und her hoppte, es war nicht das, glücklicherweise weit entfernte, Rauschen der Wellen...Es war etwas Anderes. Etwas Selbstverständliches und Simples, das Matthew zur Ruhe brachte.
Es war das gleichmäßige Pochen, das Hämmern eines Herzens.
Gilberts Herz.
Matthew konnte sich nicht erklären, weshalb gerade das einfache Herzklopfen eines anderen so viel Wirkung bei ihm zeigte, und doch war es ihm egal. Denn er wusste nun, dass Gilbert hier war. Dass er den Part eines sicheren Hafens für ihn einnahm. Dass er ihm aus seiner Not geholfen hatte. Und doch schwieg er. Und er schwieg lange Zeit. Er lauschte wie Gilbert endlos Phrasen wie "Es tut mir so leid...so, so leid" unter kalten Tränen hervorpresste. Er spürte, wie eng Gilbert ihn an sich drückte, als würde er jeden Moment wie Sand aus seinen Fingern davonrieseln und in Milliarden kleiner Körnchen zerspringen...Als hätte er Angst, ihn zu verlieren.
Matthew hätte ihm am liebsten die Tränen weggewischt, ihm versichert, dass nun alles wieder in Ordnung war, jedoch blieb ihm genau das verwehrt. Er befand sich noch immer im Zustand des Schocks, trotz aller Beruhigung, die die Welt ihm geben konnte. Er brauchte eine Weile, bis sich seine Atmung normalisiert hatte; bis sich sein beinahe eingetretener Systemabsturz wieder erholt hatte und er aus seiner Starre heraustreten konnte.
Der vorherige Schrecken erschien ihm nur noch vage und immer mehr wie die letzten Sekunden eines schlimmen Traumes, aus dem man durch das rettende Wecken einer anderen Person fliehen konnte. Und dieses Mal war es Gilbert gewesen, der ihm einen Fluchtweg aus dem Verderben geebnet hatte, der ihn aufgeweckt hatte. Er musste für Gilbert also wenigstens einen gewissen, wenn auch Wert ausmachen, der ihn davon abhielt, ihn seinem Schicksal zu überlassen. Er hätte ihn genau so gut ertrinken lassen können; ihn zurücklassen und in Zurückgezogenheit verbittert werden lassen können.
Aber er hatte es nicht gemacht.
Und allein das machte für Matthew einen riesengroßen Wert aus, der unmöglich in Worte zu fassen war.
Matthew vertiefte die Umarmung, gestaltete sie inniger, indem auch er die Nähe zuließ und auch gab. Er erwiderte Gilberts Umarmung und hörte augenblicklich ein weiteres Mal die Worte "Es tut mir so leid." Gilbert fügte noch weitere Wörter hinzu, faselte von etwas, das Matthew das Gefühl gab, Gilbert gäbe sich die Schuld an dem Zwischenfall. Doch Matthew stimmte dem nicht zu. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Meermädchen auch unter Gilberts Aufsicht versucht hätten, Matthew zu ertränken.
Der Dunkelblonde sah kaum merklich auf die Seite. Die Meermädchen waren wie vom Erdboden verschluckt, es schien keine Gefahr mehr zu geben. Der Junge, den Gilbert hier herausholen wollte - Romeo - kniete neben dem kleinen Packerl bestehend aus zwei umarmenden Heulsusen. Sein besorgter, teils sogar beschämter Blick lag auf Matthew. Könnten Augen sprechen, hätte er sich wohl hier und jetzt tausendfach dafür entschuldigt, die beiden in ein solches Unglück gestürzt zu haben, doch er selbst schwieg. Ebenso Matthew, Gilbert und selbst der Sternenvogel. Einzig und allein war das immer ruhiger werdende Schniefen Gilberts zu hören, das mit Matthews behutsamen Streicheln über seinen Rücken glücklicherweise immer mehr verstummte.
Irgendwann wurde es jedoch Zeit, diesen Vorhang des Schweigens beiseite zu schieben und Matthew durchbrach diese schreckliche Stille. "Gilbert...es ist in Ordnung. Es ist alles okay."
Matthews Hals kratzte fies, als er wieder zu sprechen begann und jedes gesprochene Wort unterlag seiner Heiserkeit. "Okay?!", Gilberts Emotionen übernahmen die Oberhand und er wurde lauter, was Matthew wiederum zurückschrecken ließ, "Du wärst mir hier gerade fast ersoffen, was ist daran okay?!" "Gil-" "Ich hätte einfach Romeo mitnehmen und nicht die Mädels weiterhin provozieren sollen. Das war alles Andere als awesome von mir. Ich habe verdammt nochmal die Verantwortung für dich! Wenn dir etwas passiert wäre, wenn du gestorben wärst, hätte ich nicht nur Gewissensbisse, sondern auch ein Problem mit...deiner Welt." Letzteres presste er mit zögernder Zerknirschtheit in seinem Tonfall heraus...fast so, als fiele ihm etwas ein, das er gezielt versuchte, zu unterdrücken und zu vergessen. Matthew blieb jedoch im Schutz der süßen Unsicherheit zurück und ahnte nicht, was diese Worte eigentlich für den Nimmerjungen bedeuteten...
"Gilbert, hör mir zu, es ist wirklich okay. Ich bin hier. Ich lebe", Matthew löste sich vorsichtig aus ihrer Umarmung und bemühte sich um ein schüchternes Lächeln, als er Gilberts schrecklich aussehendes Gesicht sah, "und außerdem hast du mich doch wieder herausgefischt. Hättest du mir nicht geholfen...wer weiß, was dann passiert wäre...Deshalb...danke" Gilbert wusste darauf keine Antwort, musterte mit seinen rot geweinten Augen Matthews gütige, erbarmende Miene und atmete tief ein. Sein Herz, von der Furcht, ein weiteres Mal jemanden zu verlieren, hämmernd, verlangsamte sich. Aus dem hitzigen Gefühlschaos seiner Brust wurde allmählich wieder zur neutralen Gelassenheit und das ständige schmerzhafte Pochen in seinem Kopf schwächte sich ab.
Behutsam wischte Matthew Gilbert einige lose Haarsträhnen aus der Stirn, sein mildes Lächeln immer noch auf den Lippen tragend. Das allein brachte Gilbert dazu, sich der Ruhe, die Matthew ausstrahlte einfach hinzugeben. Er konnte sich nicht deuten, wie es ein einfacher Junge wie Matthew schaffte, einen quicklebendigen Rabauken wie ihn ruhig zu stellen und seinen schnellen Lebensstil zu verlangsamen, aber er fand tatsächlich gefallen daran. Vielleicht waren es diese unbekannten Angewohnheiten in den kleinen Momenten, die ihn...auch schon damals...zu ihm geführt hatten.
"Wir sollten Romeo zurückbringen, deshalb sind wir doch hier, nicht wahr?" Der Dunkelblonde stand mit wackeligen Beinen vom Boden auf. Sie waren wohl noch immer ein wenig angeschlagen. "Ja, hast recht...", der Nimmerjunge sah zu dem italienischen Kind, "und du lässt dich nicht mehr von den Wahnsinnigen hier um den Finger wickeln. Es sei denn, du willst am Grund des Meeres landen." Romeo schluckte und nickte heftig mit dem Kopf. "Ich werde es versuchen", er sah zu Boden, "Und es tut mir leid..."
Gilbert seufzte; sein Vogel stimmte mit ein. Wahrscheinlich müsste er diesen Zwölfjährigen am nächsten Tag von den Indianern abholen, weil er Tiger-Lily schöne Augen machte, aber Häuptling Vash jeden Fremden von seinem Gebiet jagte.
"Gut...dann lass uns zurückfliegen. Gilbird? Neuer Feenglanz für die beiden, bitte."
Gilbird piepte fröhlich und flog voller Elan um die beiden Jungs herum, bis auch diese unter einem dünnen Mantel aus Feenglanz verhüllt waren. Gilbert half den beiden beim Abheben und folgte ihnen dann wieder weiter durchs Nimmerland.
Über Wiesen und Wälder.
Über Lagunen und Felder, bis hin zur kleinen Lichtung der verlorenen Kinder...
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