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Lost Boy - Feuer und Frost

Die Stunden vergingen.
Die Nacht war an ihren Höhepunkt gekommen und Gilbert fand gerade diese Uhrzeit als besonders gut geeignet, um Matthew einen Inselrundgang oder besser gesagt Rundflug anzubieten. Voller Enthusiasmus sauste der Rotäugige mit Matthew an der Hand zu allen Orten, die ihm interessant erschienen und überrumpelte diesen mit allerhand Informationen, die im gerade in den Sinn kamen.

So erzählte er die Geschichte wie Peter und er in den verschneiten Bergen eine gigantische Schneeballschlacht veranstalteten, wobei er derartig oft einen Schneeball im Gesicht kassieren musste, dass selbst sein riesengroßer Schutzbunker nichts gebracht hatte.
Matthew konnte nicht anders, als auf die lustigen Geschichten seines Freundes zu lachen oder manchmal auch den einen oder anderen frechen Kommentar abzulassen, wenn die Gelegenheit dazu gegeben war. Selbst als Gilbert das Beispiel mit der Riesenlilie, die ihn und Gilbird beinahe unter ihrem Blütenkelch versteckt hatte, erwähnte, hinterließ auch das seine Spuren.

Was Gilbert jedoch besonders schätzte, war die Tatsache, dass Matthew mit der Zeit immer offener und zugänglicher wurde. Er kam aus seiner harten Schale heraus, zeigte in seiner neu erreichten Unbeschwertheit immer mehr seine vielfältigen Charakterzüge, die er sonst so gut verwahrte. 
Matthew war kreativ.
Matthew war verspielt.
Matthew war sogar allem voran ein wenig keck.

Matthew war freundlich.
Matthew war hilfsbereit.
Matthew war liebreizend...auf seine eigene Art und Weise.

Gilbert trug ein beflügeltes Lächeln auf dem Gesicht, als er Matthew bei einem kleinen Nebenort im Tal der Feen mit den Feen sprechen und spielen sah, die anscheinend auch einen Narren an ihn gefressen hatten, da diese ihn nie in Ruhe lassen wollten und seine kinnlangen Locken in kleine Zöpfchen flechteten und mit Blumen, Blättern und anderen Dingen schmückten, die ihnen gerade in den Sinn kamen. Die Feen hatten gute Arbeit geleistet, die sogar Gilbert den Mund offen stehen ließ. Gilbert hatte gestaunt wie sehr Matthew aufgeputzt wurde; wie lange er es sich über sich ergehen lassen hatte, eine Horde kleiner Fabelwesen an allen Seiten seines Kopfes hantieren zu lassen, nur um am Ende mit einem unbehaglichen Gefühl im Magen vor Gilbert zu stehen und zu spüren, wie die Hitze in seinen Kopf aufstieg.

Gilbird dagegen hatte in Matthews Schopf ein weiteres Mal einen kuscheligen Schlafplatz gefunden. Er musste sich bei Matthew sehr wohl fühlen, da er sich andauernd in seiner Nähe aufhielt und dabei sogar sein Herrchen für einige Minuten verließ. Gilbert vermutete bereits, dass Gilbird etwas damit andeuten wollte, doch er hätte den Grund für diese plötzliche Anhänglichkeit nie verstanden. Normalerweise blieb ihm sein Vogel treu und wagte es nicht einmal, Fremden allzu nahe zu kommen, und doch schien er seit der ersten Sekunde an Matthew zu vertrauen...
Zum ersten Mal in seinem Leben verstand Gilbert seinen Vogel nicht.
Er verstand nicht, weshalb er so anders auf Matthew reagierte.
Er verstand nicht, wieso er ihn ausgerechnet an sein Fenster geführt hatte.
Er verstand nicht, warum Gilbird sie im Laufe dieser Nacht immer näher zueinander brachte...

Nicht einmal jetzt und hier, wo sie doch an der äußersten Bucht des Nimmerlands in einem Wettrennen verwickelt entlangliefen und dabei dem Knirschen der Kieselsteine unter ihren Füßen, dem wild pfeifenden Wind, der sich um ihre Ohren schlug und dem kräftigen Rauschen, der Wellen, die an die Felswände preschten, lauschten, wusste er was Gilbird im Sinn hatte...und was er selbst für ein erfüllendes Gefühl in seiner Brust trug, wenn er in Matthews Nähe war...wenn er ihn zufrieden lachen sah.

Gilbert fiel einige Meter zurück - nicht einmal absichtlich wohl bemerkt - während Matthew mit Leichtigkeit und einem immer größer werdenden Vorsprung auf die große Trauerweide nahe der Klippe zuraste. Matthew war fest entschlossen das kleine, eigentlich unbedeutende Rennen zu gewinnen und wagte es nicht einmal daran zu denken, gegen Gilbert zu verlieren. Diesen Kampfgeist, das Adrenalin und das verlockende Gefühl, einmal der Sieger zu sein, trieb ihn immer weiter voran. Er atmete schnell, die Luft wurde immer dünner, aber das stoppte ihn nicht weiterzulaufen. Er spürte den Wind, der seine Ohrenspitzen auspeitschte; wie der salzige, frische Meeresduft in seine Nase kam.
Matthew wurde schneller, das Ziel befand sich nur noch wenige Meter entfernt.
Die schnellen Schritte hinter ihm wurden lauter und er bemerkte, wie Gilbert langsam aber sicher aufholte. Das allein ermutigte ihn ein weiteres Mal dazu, einen Zahn zuzulegen und mit aller Kraft zu beschleunigen. Matthew wollte gewinnen und er wusste, dass es eine Chance dafür gab.

Seine Beine schienen nicht mehr ihm zu gehören; er konnte sie weder anständig lenken noch steuern, sie liefen automatisch immer weiter, ohne sich anzustrengen. Es war als würde er über den Boden schweben; als wäre er in einem ewigen Kreis des Laufens gefangen, aus dem er nur herausgerissen werden konnte, wenn er endlich sein Ziel erreichte. Matthew machte einen großen Schritt nach vorne, kickte dabei einen Stein zur Seite und streckte die Hand aus.
Nur noch zwei Meter.
Ein letzter Blick zurück zu Gilbert.
Und dann war der Sieg sein.

Der Dunkelblonde spürte die kühle, raue, teils sogar morsche Rinde an seinen Fingerspitzen und machte endlich halt, bevor er der Gefahr entgegenlief, in den Baum zu krachen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht und mit geröteten Wangen plus Nasenspitze drehte er sich zu Gilbert und winkte ihm enthusiastisch zu. Vorsichtig plusterte der Wind seine Haare auf und ließ einzelne Strähnen wie wild im Wind tanzen.
"Ha! Jetzt bin ich Erster!" Matthew schenkte Gilbert ein breites Lächeln, das er nur halbherzig erwidern konnte. Immerhin war er gerade seinen Ruf als "Awesomester Läufer" los geworden.
Dennoch hielt er es nicht besonders lange aus, beleidigt zu sein, als er sah, wie sehr sich Matthew über diesen kleinen Erfolg freute. Zudem war er zutiefst von Matthews Geschwindigkeit beeindruckt. Woher er diese Ausdauer wohl hatte?

"Das hab ich auch schon bemerkt...", er ächzte laut auf, als er den Baum erreichte, "Wäre ich in der letzten Zeit nicht so viel herum geflogen, hätte ich bestimmt gewonnen. Du hattest also nur Glück und Rückenwind." Gilbert schmunzelte verschmitzt.

"Bestimmt!", man konnte den Hauch von Sarkasmus in Matthews Stimme direkt herauslesen, "Immerhin bist du doch 'awesome'." Letzteres unterstrich der Siebzehnjährige mithilfe von gestikulierten Anführungszeichen, das den Albino zwar ein wenig anstichelte, aber dieser direkt auf die kleine Spielerei einging. "Sicher doch! Schau die Definition im Wörterbuch nach und du wirst meinen Namen finden." 

Gilbird drehte in diesem Moment seinen Kopf zu seinem Herrchen und sah ihn eindringlich an, als wollte er ihn auf etwas hinweisen.

"Unsere...unsere beiden Namen. Gilbird ist immerhin mein awesomer Vogel, also steht er gleich unter mir!" Empört flog Gilbird zu seinem Herrchen auf Augenhöhe und peckte ihn gegen die Stirn.

"Hey?! Was sollte das schon wieder?" Der Albino funkelte den Sternenvogel böse an, der Vogel selbst schien sich aber nicht sonderlich dafür zu interessieren, da er abermals einen neuen Haarschopf als Nest umfunktionierte. Gilbert seufzte. "Erst bist du zickig und dann auf einmal wieder anhänglich...Wie soll ich dich jemals verstehen können, wenn du so kompliziert bist?" Der Nimmerjunge versuchte das Tierchen auf seinem Kopf anzusehen, scheiterte dabei natürlich miserabel. "Hast du zufälligerweise Stimmungsschwankungen, du Vogel?"

Matthew kicherte. Gilbert war einfach zu komisch, wenn er sich so aufregte und die Reaktionen seines Vogels verbesserten die Lage nur. Wenn es eine Eigenschaft gäbe, die er Gilbert als aller erstes zuschreiben würde, dann wäre es 'lustig'. Gilbert war ein lustiger Geselle; egal ob gezwungenermaßen oder nicht, er brachte den sonst so verschlossenen Matthew immer wieder zum Lachen. 

Kopfschüttelnd wechselte Gilbert das Thema und schaute prüfend zu den Bergen. "Da oben geht's weiter zum Anouki-Dorf, da leben die Inuits. Wir könnten hier die Abkürzung nehmen, wenn du willst." Matthew folgte den Blick seines Freundes und sah den schön angelegten Pfad mit den vereisten Pflastersteinen umringt von einer dicken Decke aus Schnee und vereisten Pflanzen sowie tief liegenden Ästen, die selbst den Eingang wie ein Portal in eine andere Welt erscheinen ließen. Es wirkte wie ein kleines Winterwunderland, das sich hinter den schützenden Mauern der hohen, kargen Felswände verbarg, nur darauf wartend, entdeckt zu werden. 

Gilbert sah den Funken Neugier wie Wunderkerzen in Matthews Iriden aufblitzen, ehe dieser sich mit einem wortlosen Nicken zu ihm wandte und er sich abermals in den einzigartigen Mustern und Farbabstufungen dieser besonderen und zugleich auch geheimnisvollen Seelenspiegel verlor. Gerade jetzt, in diesem einen Augenblick, fiel ihm sogar dieser schwache Blaustich auf, der sich mithilfe dünner Fasern durch das blassviolette Farbenmeer durchzog...
Und der Nimmerjunge spürte auf einmal eine schwache Verbindung; eine Gemeinsamkeit.
Denn Matthews Augenfarbe war selten, gar schon ein Unikat...
Sie unterschied sich von den anderen, hatte ihren eigenen Charme.
Und war das nicht auch ein Merkmal, das Gilbert mit ihm teilte?
Dieses Winzige, äußerliche Detail, das so wenig und doch so viel ausmachen konnte?

Gilbert hätte noch stundenlang darüber philosophieren können, hätte sich jedes einzelne Detail und jedes noch so kleine Fragment einprägen können, wäre da nicht der alarmierende Ton von aufgeregt schlagenden Flügeln einer Horde Raben gewesen, die laut krähend in die Lüfte abhoben und dabei einige schwarze Federn verloren.  Es folgte ein ohrenbetäubender Klang und Matthew sowie Gilbert fuhren erschrocken herum. Es roch nach Rauch...oder doch eher wie Schießpulver.
Ein weiterer Schuss. Doch dieses Mal zischte auch eine schwarze Kugel scharf an den beiden vorbei.

Matthew begann zu zittern, die Angst in seiner Brust wuchs stetig. Woher kamen nur diese Schüsse? Weshalb passierte es genau hier und jetzt?  

Wie von einer fremden Macht geleitet suchte er Schutz in Gilberts Nähe, konnte sich aber nicht überwinden, sich an Gilbert zu klammern. Stattdessen bohrten sich seine Fingernägel in seine Handfläche und hinterließen einen stechenden, rasch verschwundenen Schmerz. Matthew fühlte sich umzingelt. Der Verantwortliche für dieses Chaos konnte sich hinter jeder noch so kleine Felsansammlung verstecken, bereits auf sie zielen und sie auf ewig ausschalten. Matthew sah von Nervosität zerfressen zu Gilbert und biss sich auf die Unterlippe.
Was würde er tun? Hatte er dieselben Ängste wie er oder war er die Ruhe selbst?
Matthew stellte sich diese Fragen immer und immer wieder, darauf hoffend, dass Gilbert wüsste, was sie zu tun hatten. Doch er antwortete nicht, im Gegenteil, er wurde mucksmäuschenstill; der Stress sowie die Anspannung wurden allein durch seine Körperhaltung erkennbar. Es drehte Matthew beinahe den Magen um, auch Gilbert in einem Gemisch aus Furcht und Verwirrung zu sehen. Denn das, was ihm Kraft und Sicherheit spendete, drohte nun wie ein instabiler Schutzwall zusammenzubrechen und ihn in einer immensen, unausweichlichen Flut mit sich zu reißen, bis er sich ein weiteres Mal kurz vor dem Abgrund der tiefsten Dunkelheit befand.
Gilbert drohte zusammenzubrechen, wenn auch nur nervlich.
Aber das allein reichte aus, um Matthew zu verunsichern. Er brauchte beruhigende Worte, er brauchte die seelische Unterstützung inmitten dieses Gestricks aus möglicher Gefahr und Schutz. Doch Gilbert schaffte es nicht, Worte zu finden. Gilbert war genau so ratlos wie Matthew.

Die waghalsige Idee, einfach davonzufliegen, verwarfen sie in der Sekunde, als ein dritter und hoffentlich letzter Schuss gen Himmel gerichtet wurde. Eine dicke Rauchwolke stieg jenseits eines Busches auf der gegenüberliegenden Plattform hervor, was vermuten ließ, dass sich der Übeltäter in Sichtweite befinden musste. Gilbert schritt einige Meter zurück, den Blick nicht von dem potentiellen Versteck des Angreifers abwendend. Vorsichtig griff er nach Matthews Oberarm, zog ihn zu ihm und raunte ihm leise Worte ins Ohr. - Matthews Sinne schienen sich auf einmal alle zu verschärfen.
"In den Wald."
Matthew blinzelte verwirrt.
"Ich zähle bis drei und du versteckst dich so schnell es geht im Winterwald. Nimm keine Rücksicht auf mich, ich komme so schnell es geht nach."

Matthew nickte zögerlich, immer noch von der Situation überrumpelt. Sein Herz hämmerte in der Geschwindigkeit eines gefräßigen Jaguars gegen seine Brust und er spürte schon die ersten Schweißflecken durch den Stoff seines Hemdes sickern. Seine Luft wurde immer dünner, er wagte es nicht, auch nur ein kleines bisschen stärker zu atmen als nötig, allerdings blieb ihm der Sicherheit gebende Augenkontakt mit Gilbert erspart, dessen Mimik wie in Stein gemeißelt kalt und emotionslos war. 
"1..."
Matthew schnellte ein letztes Mal seinen Kopf zu ihm.
"...2..."
Er bildete seine Hände zu Fäusten, stach sich dabei mit den Fingernägeln in die Handfläche und atmete tief ein.
"...3"

Und Matthew rannte los.
Er rannte den schmalen Weg zum Eingang des Winterwaldes entlang, musste sich regelrecht zwingen, sich nicht umzudrehen, als ein weiterer Schuss ertönte.

Kaum hatte er den Winterwald betreten, überraschten ihn eine frostige Brise, die ihm mitsamt ihrer Schneeflocken an den Ohren vorbeizischte. Der Wind heulte, ließ die blätterlosen Äste der Bäume in seinem Rhythmus mittanzen bis sie sich in einem Gespann aus Naturgeräuschen und klimpernder Musik aus purem, kristallartigem Eis befanden. Matthew fühlte, wie seine Nasenspitze langsam kälter wurde, wie selbst die kalte Luft ihren wiedererkennbaren, neutralen Geschmack annahm und wie jeder Schritt auf dem vereisten Pfad vor sich hin knackte und der einst gepflasterte Weg schließlich unter einer schützenden Decke Schnee versank.

 Matthew atmete aus. Kleine, dicke Atemwölckchen stiegen in der kalten Winterluft hinauf und eine Gänsehaut jagte ihm einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Wie konnte es sein, dass es allein durch das Betreten einer neuen Region derartige Wetter- und Temperaturunterschiede gab? Zitternd rieb sich Matthew die Arme und nieste. Hoffentlich würde er bei dieser Kälte nicht noch einmal krank werden. 

Plötzlich traf es ihn und er blieb abrupt stehen. In seinen Ohren rauschte es, sein Kopf war wie leer gefegt. Lediglich sein ungebändigter Herzschlag, der gefühlt gegen seine Schädeldecke pulsierte, unterband die grenzenlose Stille des Walds.

Bevor Matthew Gilbert getroffen hatte, hatte er unter Schmerzen gelitten, hatte er mit den Winterkrankheiten zu kämpfen...doch seit seiner Begegnung mit ihm schien alles verflogen zu sein...dabei sollte das doch niemals möglich sein. Und doch war es wahr. Matthew ging es gesundheitlich blendend. Man hätte nie auch den Anschein gehabt, er wäre jemals krank gewesen. Doch warum war es so? Was war der Grund für diese wunderliche Genesung?

Matthew schüttelte den Kopf und einige Schneeflocken, die sich in der Zwischenzeit in seinem Haar verfangen hatten, glitzerten im schwachen Mondlicht. Er sollte nicht über jene Dinge nachdenken. Es war wunderlich genug, dass er sich hier, im Nimmerland, aufhalten durfte, dass er fliegen konnte und die verschiedenen Stämme dieser Welt kennenlernte.

Matthew ging weiter und spitzte die Ohren. Wann kam Gilbert nur wieder? Er irrte doch nur mehr durch dieses unbekannte, eisige, schier unendliche Land, ohne Ziel und ohne Begleitung. Matthew wollte gar nicht erst daran denken, was Gilbert zugestoßen sein könnte. Was jener Angreifer hätte verursachen können, sodass Gilbert auch nach einer Viertelstunde nicht aufholen konnte.

Es wurde immer kälter, seine Fingerspitzen spürte er kaum noch. Vom märchenhaften Eingang in dieses Paradies des Frostes war nichts mehr zu sehen. Matthews kleine Schritte im Schnee wurden binnen Sekunden wieder verwischt, als wären sie nie da gewesen und weit und breit gab es nichts. Keine Bäume, keine Sträucher, keine Berge, kein Leben. Matthew dachte schon daran, sich hoffnungslos verirrt zu haben, als er begann, sich panisch herumzudrehen. 

Es gab niemanden, der ihm helfen konnte. Nicht einmal Gilbird konnte ihm zur Rettung eilen, um mit Feenglanz in die Lüfte abzuheben. Er war ganz allein auf diesem herrenlosen Fleckchen Erde, das sich Winterwald nannte.

Matthew kniff die Augen zusammen und fletschte die Zähne. Er musste weiter, egal ob die Kälte ihn in eine Eisstatue verwandeln würde, an deren Oberfläche sich das kühle Licht des Mondes wie in einem Kristall spiegelte. Egal, ob Gilbert ihn ein weiteres Mal retten würde oder nicht. Egal, ob er unter schwerwiegenden Krankheiten leiden müsste.

Die Kälte, sie sollte ihn nicht mehr stören. Sie sollte ein Teil von ihm werden. Er sollte sie annehmen. Doch...war es das, was er auch machen sollte? Aufzugeben, dagegen anzukämpfen und einfach eins mit der Natur werden? Er hauchte schwache Atemwölkchen aus, das Rubbeln an seinen Armen ließ ihn nur noch mehr nach Wärme sehnen und jeder Schritt wurde steifer und beschwerlicher. Abertausende von kleinen Eisnadeln durchlöcherten seine Beine, seine Arme, seinen gesamten Körper und doch konnte sie niemand sehen. Und doch erloschen sie jede einzelne wärmende Flamme, die Matthew vor dem Tod schützen konnte.

Die Kraft verließ ihn, seine Beine wurden taub und er sackte in den weißen Pulverschnee, der sich wie Staub in die Lüfte wirbelte, als ein weiterer Windstoß an ihm vorbeistreifte. Matthew wurde müde, seine Augenlider konnte er gerade mal einen Spalt öffnen, nur um die eleganten, aber doch tödlichen Eisblumen auf seiner bleichen Haut zu entdecken, die sich wie Lauffeuer auf ihm ausbreiteten. Das eisige Gefängnis des Winters umschloss ihn, raubte ihm jedes einzelne Tröpflein Kraft aus dem Körper, bis er nur noch eine leere Eisleiche wäre. 

Klingeln.
Klingeln?
Da war ein Klingeln. So leicht und sacht wie ein Kinderlachen.
Matthew bemühte sich, seinen schweren Kopf zu heben, sah nur kaum merklich einige Lichter durch seine Augenlider durchscheinen. Etwas zog vermehrt an seiner Kleidung und schubste ihn wieder auf die Beine, doch auch nach diesem Ruck ließen ihn die Lichter nicht los. 

Matthew öffnete seine Augen nur einen Spalt und betrachtete die rasanten Lichtfunken genauer. Es waren kleine Wesen, die ihm bereits bekannt vorkommen müssten, als er ihre spitzen Ohren und Flügel erblickte. Es waren die Winterfeen, die sich um ihn versammelt hatten und immer weiter vorwärts zogen.

Matthew hätte sich gerne für die Hilfe bedankt, doch sein Mund blieb paralysiert. Und so wurde er weiter durch diese endlose Eishölle getrieben...

***
"Ist er tot?"
"Verdammt, nein, als ob die Feen uns eine Leiche hier ins Dorf schleppen würden!"
Der Rest der Unterhaltung verlor sich wieder in einem Meer an wirren Nonsenswörtern, die Matthew nicht verstehen konnte. Sein Kopf brummte und war schwerer als Blei, sein ehemals durchgefrorener Körper taute auf und die Wärme trat wieder in sein Leben ein, als er spürte, wie sich die wallende Hitze eines Lagerfeuers neben ihm flackernd in die Höhe räkelte.

Ein Haufen alter, flauschiger Decken war wie ein Nest um ihn herum gewickelt worden. Das Knarzen der Bodenplatten, das durch die schnellen Schritte über das Parkett erklang, rauschte an Matthews Ohr vorbei und der Geruch von süßen Früchten und Kräutern lag in der Luft.
Matthew musste also überlebt haben, soviel stand fest. Doch stellte sich die Frage: Wie lange noch? Wie lange und wie oft würde sein eigenes geliebtes Traumland, das Nimmerland, ihm einen Schubs von der Todesplanke geben, nur um vor dem Aufprall ins kalte Wasser gerettet, wieder aufgebaut und wieder fallen gelassen zu werden? Matthew befand sich in absoluter Ratlosigkeit. Niemals hätte er gedacht, dass das Nimmerland ihm derartig in den Rücken fallen würde und aus dem vermeintlichen Paradies eine Insel voller wunderschön-bedrohlicher Fallen wurde. Langsam schwand auch das Vertrauen darin, hier die perfekte Welt gefunden zu haben. Ob es diese überhaupt gab? Diese perfekte, wunderschöne Welt? Matthew kam dem mit Zweifel entgegen.

Perfekt.

Perfekt konnte nichts sein, egal, wie sehr man seine Geduld, seine Fähigkeiten und Mühe hineinsteckte. Perfekt, es war ein Scheinwort, eine Beschreibung für etwas Makelloses, aber...wann war etwas makellos? Alles in diesem Universum, egal ob magisches Reich oder die Realität, war mit ihren eigenen kleinen und großen Schwächen besetzt wie ein Diadem mit kostbaren Edelsteinen, die das Diadem erst zu dem kostbaren Schatz der Kaiser und Könige machte. So war es auch mit den Schwächen und Fehlern.
Es gab große, kleine, veränderbare und bleibende Schwächen, die einen zu dem Individuum machten, das man war. Sie störten den Perfektionisten, den Menschen, doch vermeidbar würden sie niemals sein. Sie waren ein Teil der Welt, ein Teil des Lebens, das man auf eigene Art und Weise schätzen sollte wie die Stärken, die einem innewohnten. 
Fehler, sie waren da, um für die Konsequenzen Lösungen zu suchen.
Fehler, sie waren da, um aus ihnen zu lernen.
Fehler, sie waren da, um den Menschen zu bessern.

Fehler und Schwächen...sie machten menschlich.
Sie machten einen sogar sympathisch.

Deshalb konnte Matthew das Nimmerland trotz seiner negativen Erfahrungen nicht hassen. Denn es hatte beides: Stärken und Schwächen, und genau das machte diese Welt für ihn auch so realistisch, jenseits von scheinbar perfekten Träumen. Das Nimmerland, es war keine träumerische Idealvorstellung mehr, sondern eine eigene Welt, voller Pros und Kontras.
Eine Welt, die ebenso Gefahren barg, wie die Welt, in der er einst aufwuchs...

Matthew hustete. Wo auch immer er sich nun befand, er war demjenigen dankbar, der ihn hier nahe des Feuerplatzes auftauen ließ. Wer weiß, was noch hätte passieren können, nachdem Matthew beinahe schockgefroren wurde?

Auf einmal stupste ihn etwas Feuchtes, Kaltes an der Wange an und Matthew sprang augenblicklich auf, als der schließlich auch noch die weichen Ballen einer Tatze an seiner Stirn fühlte. Aufgewühlt fuhr er herum, sah in erstaunte Gesichter und fand schließlich den Übeltäter in einem kleinen, flauschigen Eisbären, der sich neben seinem Deckenhaufen eine Höhle gebaut hatte. Matthews Herz klopfte auch nach dem Schreck schmerzhaft gegen seine Brust, doch die Angst, die sich in ihm aufgestaut hatte, schrumpfte in dem Moment zusammen, als er in die schokoladenbraunen Knopfaugen des kleinen Eisbären sah, der sich brummend an ihn schmiegte. Anscheinend besaß dieser einige Verhaltensweisen einer Katze; Matthew musste lächeln und strich dem kleinen Eisbären vorsichtig über den Kopf. Beinahe wäre ihm ein kleiner Quietscher rausgerutscht, als er bemerkte, wie weich das Fell des eigentlich wilden Tieres war. Es lehnte sich immer mehr in Matthews beruhigendes Streicheln und schien die zärtlichen Gesten gerne in Empfang zu nehmen, was den Siebzehnjährigen natürlich umso mehr freute.

Doch die Harmonie des gerade verfallenden Moments wurde durch die heitere, dezent töricht klingende Stimme eines älteren Jungen gebrochen. 
"Na, sieh mal einer an! Keine zwei Minuten wach und schon hängt Kumajiro an dir!" 

Erschrocken von der plötzlichen Lautstärke schnellte Matthew seinen Kopf nach oben und betrachtete sein Gegenüber mit Staunen. Wer auch immer er war, er musste unglaublich viel Zeit im Bad verbringen, um solche kreuz und quer stehende Haare zu haben, die physikalisch eigentlich unmöglich waren. Andererseits...sie waren im Nimmerland, da konnte das vielleicht sogar als alltäglich gelten.

Der blonde Junge mit den Wuschelhaaren kniete sich zu Matthew auf den Boden. "Wie heißt du denn? Immerhin sollte ich wissen, wen ich hier in meine Hütte lasse."

"Deine Hütte?", ein weiterer Blondschopf mit einer silbrig glänzenden Spange betrat den Raum und schlug dem anderen mit einem dicken Wälzer auf den Schädel, "Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du der alleinige Eigentümer bist."
Der Lautere mit dem Dänisch klingenden Akzent rieb sich den Kopf. "Aua, Lukas, warum bist du immer so grob zu mir, ich habe doch nichts gemacht!"

"Doch. Indem du existierst und dieselbe Luft atmest wie ich, Mathias." Ein weiterer Schlag mit dem Buch fiel, bevor sich der Norweger, ohne einen einzigen Mucks zu machen, neben den Dänen niederließ und seine Aufmerksamkeit auf Matthew richtete.
"Also, wie heißt du denn?" 

Der Angesprochene zögerte einen Moment und biss sich angestrengt auf die Lippe. "Matthew."

"Gut, ich bin Lukas und die Personifikation von chronisch bedingten Kopfschmerzen in blond neben mir ist Mathias."

"Hey, das ging doch schon mal netter, Lu!" Der Däne zog eine Schnute und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich dachte, wir hätten Frieden geschlossen."

"Ich kann mich nicht daran erinnern...", er machte eine Pause und sah Mathias eindringlich in die Augen, "Und wenn du mich noch einmal 'Lu' nennst, sorge ich dafür, dass du eines Tages mit Glatze aufwachst." Mathias Augen weiteten sich und er streichelte beschützerisch über seine unmögliche Frisur. "Nicht meine Haare! Weißt du wie viel Mühe da drin steckt?"

Matthew musste kichern. Die beiden waren Entertainment pur, dennoch fragte er sich, wo er war und wie er wieder zurück zu Gilbert fände. Kumajiro, der bis jetzt die beschützenden Arme Matthews nicht verlassen wollte, kuschelte sich nah an seine Brust und ein kleines Grinsen zeichnete sich automatisch auf Matthews Gesicht ab. Dieser Bär war wirklich herzallerliebst, sodass er ihn am liebsten mit nach Hause nehmen würde. Er streichelte weiterhin über das weiche, weiße Fell des Tieres, bis er auf einmal einen Ton wahrnahm.
"Wer?"
Perplex sah er auf den Eisbären, der ihn mit großen Augen ansah und seinen Ein-Wort-Satz wiederholte. 
"Wer?"

Ob der Bär wohl fragte, wer er war? Nervös entgegnete er Kumajiro mit einem Lächeln. "Ich bin Matthew." Der Eisbär blinzelte einige Male bevor er sich von Matthew abwandte und es einfach nur genoss, gestreichelt zu werden, als plötzlich zwei weitere Personen den Raum betraten. Dieses Mal mit einem Teeservice und kleinen Zimtschnecken im Schlepptau anstatt eines Buches. Der Kleinere der beiden stellte das Tablett mit dem dampfenden Getränk auf das kleine Tischchen neben ihnen, wobei die Porzellantassen ein kurzes, helles Klirren von sich gaben. 

"Oh, wie schön, du bist endlich wach!", man hörte den Finnischen Akzent gut heraus, "Ich dachte schon, wir hätten dich verloren, weil du bereits so blass ausgesehen hast." Der Finne drückte Matthew ohne zu zögern eine Tasse heißen Tee in die Hand. Die angenehme Wärme des Porzellans, taute seine eisigen Finger auf und Matthew genoss die Hitze, die ihn vom Inneren heraus wärmen konnte.

"Berry...ähh, ich meine Berwald hat Zimtschnecken gebacken, du darfst dir sicher etwas nehmen...", der Finne drehte sich zu Berwald, "Nicht wahr?"
Vorsichtig nickte dieser und eine Gänsehaut breitete sich über Matthews Haut aus. Dieser Mann war ihm nicht so ganz geheuer und als ihn der Brillenträger genau musterte, stellte sich jedes einzelne Härchen auf seiner Haut auf.

"Aber das is' mein' Frau."
Berwald legte seine Hand auf die Schulter des Kleineren, der Matthew gerade einen Teller mit frischen, duftenden Zimtschnecken hinstellte.
Erschocken von der plötzlichen Ansage des Schweden verschluckte Matthew sich an seinem Tee und hustete.

"Berry, ich bin nicht deine Frau, ich bin dein Mann! Seit wie vielen Jahren haben wir diese Diskussion nun schon?" Der Finne verschränkte die Arme vor der Brust und blies beleidigt die Backen auf. Doch genau dieses kindliche Verhalten verleitete Berwald dazu ein kaum merkbares Lächeln aufzusetzen, das sogar Matthew auffiel.

"Lange, Tino", er machte eine Pause und überraschte den Kleineren mit einem kurzen Kuss auf die Stirn, "Aber ich lieb' dei' Reaktion."
Das brachte Tino dazu, einen Rotstich auf den Wangen zu erlangen. "Trotz...Trotzdem will ich, dass du damit aufhörst!"

Und so fanden sich auch diese zwei Turteltäubchen in einem süß-sauren Gespräch wieder und Matthew sah ihnen mit milder Miene zu. Es war niedlich den beiden Pärchen - Tino und Berwald sowie Lukas und Mathias - zuzusehen und die genervten und doch voller Liebe sprühenden Visagen betrachten zu können. Es war diese Vertrautheit und die emotionale Zärtlichkeit, die zwischen ihnen herrschte, die die Sehnsucht selbst jemanden an seiner Seite zu haben, verstärkte.
Matthew fand es schön, sie so glücklich zu sehen.
Matthew fand es schön, dass sie jemanden gefunden hatten, der für sie da war.
Matthew fand es schön, dass ihre Herzen mit einem unsichtbaren Band verbunden waren.

Doch zur selben Zeit zerbrach es ihn.
Die Schmerzensklinge setzte einen tiefen Schnitt an seinem Herzen an, durchtrennte die robusten Fasern des starken und doch zerbrechlichen Herzens. Dieses Herz...es hatte doch schon so viele Kratzer, so viele Narben und Stichwunden, die es nach und nach verbluten ließen, bis es schlussendlich nur noch ein vor sich hin leidendes Organ war, dessen Gefühle betäubt und dessen Existenz nur noch für das Überleben eines ohnehin kaputten Körpers notwendig war.
Aber warum schmerzte genau diese Wunde der Einsamkeit mehr als das lodernde Feuer der Hölle?
Vielleicht war es die Sehnsucht nach Liebe, nach Sicherheit und Freude, die ihn in den blanken Wahnsinn trieb.
Vielleicht war es das Fehlen von individueller emotionaler Zuneigung, die ihm seit dem Verlust seiner Eltern nicht mehr wieder gegeben werden konnte...egal wie sehr sich Arthur oder Francis Zeit zu nehmen versuchten. 
Vielleicht war es aber auch das unbewusste Vermissen einer Person, ohne die Matthew orientierungslos durch die Dunkelheit seines Unwissens und seines Leides torkelte. 

Eine Person, die die Mauern um seine Seele herum eingeschlagen hatte und ihn nach und nach wie neu gewonnene Schmetterlingsflügel selbst entfalten und über sich hinauswachsen ließ. Eine Person, die so vieles für ihn getan hatte, auch wenn hier und da einige Fehler und Missgeschicke auftraten...

Matthew musste lächeln und eine angenehme Wärme sammelte sich um seine Nase herum. Der Schmerz linderte sich mit dem Gedanken an Gilbert und all die Dinge, die er versuchte, ihm zu ermöglichen, trotz häufiger Unfälle. Es war das alleinige Wissen, dass er sich die Mühe gab, jemandem wie Matthew ein solches Abenteuer zu schenken, das Matthews Laune wie ein sanfter Kerzenschein erhellte. Dass sich jemand so sehr für ihn bemühte...Matthew war einfach überfordert mit der Flut an Dankbarkeit, die sich in ihm aufstockte und bereits drohte überzuschwappen. 
Doch handelte es sich dabei tatsächlich nur um reine Dankbarkeit?

Zweifel kam auf und der Siebzehnjährige vermutete, dass bereits mehr dahinter steckte. Es fehlte ihm nur noch der letzte Schritt, der eine letzte Schlüssel, um hinter die Tür seiner versteckten Gefühle blicken zu können. Denn er wusste, dass ihm Gilbert wichtig war, dass er ihn sehr schätzte und mochte sowie die sofortige Zufriedenheit, die sich in seinem Bauch als eine Horde zarter Schmetterlinge entpuppte, deren sanfte Flügel an seiner Magenwand streiften und dabei ein wohliges, beinahe sogar elektrisierendes Gefühl auslösten.

Ob es vielleicht schon Liebe war? 

Matthew würgte den Gedanken sofort wieder ab und verstaute ihn in das hinterste Kämmerlein seines Bewusstseins. Er und im Rahmen einer einzelnen Nacht verliebt? Das war unmöglich.
Es musste unmöglich sein, denn Liebe brauchte Zeit um zu sprießen, zu wachsen und zu gedeihen wie eine wilde Rose auf dem Getreidefeld, die sich den Weg zur Sonne durchzukämpfen bemühte. Aber...
Aber was war dann dieser eine Augenblick der tranceartigen Ohnmacht, in der er sich befand, als er ihn zum ersten Mal lachen sah? Die Gefühle, die er empfand, waren sie nicht auf dem ersten Blick auf ihn eingeprescht? 

Matthew wusste nicht mehr, was wahr und falsch, oben und unten oder links und rechts war. Alles schien immer mehr in einem Wirrwar an tausend Fäden zusammen zu hängen, das er nicht zu entflechten vermochte. Er brauchte ein Zeichen. Ein klitzekleines Zeichen, vielleicht sogar nur eine Andeutung, um sich zu versichern.

Es klingelte.
Es klingelte?
Matthew fuhr herum als das sacht spielende Geräusch an sein Ohr kam. Er hörte eine Stimme von draußen, sie klang durch die geschlossenen Fenster und Türen ganz stumpf, doch er erkannte die Sorge und Verzweiflung in der Tonlage. 

"Hey, Matthew, ich glaube dein Boyfriend steht vor der Tür." Ein Jugendlicher, womöglich knappe 16 Jahre alt, warf ihm von der hintersten Ecke aus Blicke zu. Hätte er so eine Spange wie Lukas im Haar getragen, könnte man sie beinahe als Zwillinge bezeichnen, trotz des Altersunterschieds. Matthew hatte den Jungen nie bemerkt, seit er angekommen war, geschweige denn ihn reden gehört. War er schon immer alleine in der Ecke gesessen? Und was meinte er mit diesem 'Boyfriend'?

Matthew wollte etwas antworten, doch es blieben ihm die Worte weg, weswegen der Junge mit dem isländischen Akzent weiter sprach.

"Ich bin Emil, falls du dich fragst..."
"Und ich bin sein großer Bruder." Lukas hatte sich neben Emil auf den Boden sinken lassen und blickte ihn spitzbübisch an. "Na, Emil, sag es doch Matthew, dass ich dein großer Bruder bin."
Emil schüttelte energisch den Kopf. "Nein."
"Sag es." 
"Nein."
"Sag es!"

"Ich will euch ja nicht stören, aber da draußen friert gleich der nächste ab", unterbrach Mathias die beiden. 
"Dann mach doch die Tür auf, ein bisschen Bewegung würde dir bestimmt nicht schaden." Lukas sah seinem Freund unbegeistert ins Gesicht.
"Aber-"
"Aber du bist einfach zu dumm dafür, wir wissen es."

Matthew rollte mit den Augen. Das konnte mit ihnen noch lange dauern...
Kurzerhand entschloss sich Matthew, die Tür einfach selbst zu öffnen, da keiner dazu bereit war, fünf Schritte zu gehen. Augenrollend legte er seine Hand an der eisigen, vergoldeten Türklinke an und drückte sie hinunter, nur um dann von einem rubinroten Augenpaar überrascht zu werden, das ihm eine unerträgliche Hitze durch den Körper jagte. Die verschiedenen Farbnuancen, Musterungen und Sprenkel eisblauer Farbe...Matthew brauchte sie nur einen Augenblick sehen, um zu wissen, zu wem sie gehörten.

"Gil..." Ein spontaner Ruck brachte ihn aus dem Konzept und zwei Arme schlangen sich links und rechts um seinen Körper. Er war wie gelähmt, konnte sich nicht widersetzen, selbst wenn er es gewollt hätte und ließ es letzten Endes einfach geschehen. 
Er hörte seinen Puls, der ihn still werden ließ und ihm Sicherheit versprach.
Er spürte seine vor Kälte fast erstickte Wärme, die ein Feuerwerk nach dem anderen in seiner Magengegend entzündeten.
Er vernahm seinen Körpergeruch, der ihn beruhigte und mit einem Mal einfach wohl fühlen ließ.

Eine Welle an Gefühlen preschte an Matthews eigene kleine Bucht, ließ ihn neue Erfahrungen machen und alte Fragen beantworten zu denen er plötzliche eine Antwort wusste. Seine Beine wurden zunehmend schwächer, sie schienen wie Zucker zu zergehen und doch blieb er stehen, als Gilbert ihn näher an sich drückte, als hätte er Angst, Matthew sofort wieder aus den Augen zu verlieren.

Gilbert atmete scharf ein, wollte etwas sagen, konnte jedoch kein Wort über seine Lippen bringen. Er blieb stumm, wortlos und für Matthew ein unlösbares Rätsel.
Wie lange hatte er nach ihm in der Kälte gesucht und sich bereits die schlimmsten Szenarien vorgestellt. Gilbert wollte sie vergessen.
Er wollte die Angst vergessen, die ihm innewohnte, als er nicht einmal mehr Matthews Fußspuren im Schnee entdecken konnte, nach ihm gerufen hatte und letzten Endes nur eine Gruppe von Winterfeen traf, die ihn zu dieser Hütte führte. Gilberts Druck um seinen Freund wurde leichter und  freier.
Denn Matthew war hier.
Hier in seinen Armen.
Größtenteils unversehrt und lebendig.

Und das war doch das, was zählte, nicht wahr?
Gilbert seufzte, seine Finger in Matthews Hemd bohrend.
Warum war es erneut geschehen? Warum hatte er ihn ein weiteres Mal in Gefahr gebracht?
Ob all dies damit zusammenhing, dass er...dass er...

Nein.
Gilbert weigerte sich, den Gedanken zu vollenden. Egal wie plausibel ihm diese Erklärung auch erschien, das konnte doch nicht die einzige Begründung dafür sein, dass ihm all diese Missgeschicke widerfuhren.
Es konnte nicht sein.
Es durfte nicht sein.
Denn wenn es sich befürwortete...was hieße das dann für Gilbert?
Wäre er auf ewig dazu verdammt, dass er...dass er...

"Gilbert?", Matthews leise Stimme riss ihn aus seiner inneren Verzweiflung heraus, brachte ihn wieder in das Hier und Jetzt, "Wo warst du?"

Gilbert löste die Umarmung allmählich, schenkte dem Dunkelblonden irritierte Blicke. "Was?"
Doch Matthew fuhr weiter fort, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. "Wo warst du? Wo warst du die ganze Zeit? Wer hatte uns angegriffen? Wer..."
"Matthew..." Gilbert versuchte, Matthew aus seiner aufbauenden Panik zu reißen, wurde aber von der immer schlürfiger und vor Traurigkeit strotzenden Stimme übertönt.
"Gil, ich wäre fast...erfroren. Ich wusste nicht mehr, wo ich war; hatte Angst, du wurdest verletzt."

Ein dumpfer, fiktiver Schlag setzte Gilberts Herz kurz zum Schweigen.
Schon wieder...schon wieder wäre es beinahe zu einer Katastrophe geworden...

Sachte wischte Gilbert Matthew ein paar seiner Locken aus dem Gesicht und seufzte. 
"Es tut mir leid, Matthew. Es tut mir leid, dass ich dich allein hierher gejagt habe und dich nicht mehr wieder finden konnte", er machte eine Pause und setzte ein falsches, bitteres Lächeln auf, "Ich hätte es eigentlich besser wissen sollen."
Matthew lockerte seinen Griff und suchte verzweifelt nach Augenkontakt.
"Und was ist mit den Wahnsinnigen, die auf uns geschossen haben?"

Da zuckte Gilbert kurz zusammen und Nervosität stand in seinem Gesicht geschrieben. Irgendetwas musste passiert sein, soviel stand fest.
"Nun ja, sagen wir's so, sie hatten eigentlich nicht absichtlich auf uns gezielt." Gilbert kratzte sich am Hinterkopf und hoffte inständig, nichts Falsches gesagt zu haben. Doch anstatt ein verständnisvolles Gesicht zu erblicken, sah er die Definition des blanken Sarkasmus in Matthew.
"Sicher doch. Deshalb ist mir auch überhaupt nicht fast eine Kugel in die Schulter gejagt worden." 

"Warte, warte, du verstehst das falsch, Mattie, das war so..." Gilbert versuchte verzweifelt, Matthew die Situation zu erklären und übertrieb dabei völlig mit Gestik, sodass es seinen Gegenüber noch um einiges mehr verwirrte. Bevor er jedoch ausreden und endlich von den fünf Blondschöpfen herein gebeten werden konnte, standen plötzlich die nächsten beiden Kandidaten vor der Tür. Beide von ihnen trugen auffällige, dicke Mäntel, die ihnen bis zu den Knien gingen und an den Rändern mit goldenen Stickereien besetzt waren. Eine dünne Schneehaube hatte sich bereits auf ihren breitkrempigen Filzhüten mit dem prächtigen Federschmuck gebildet und die einst gold schimmernden Knöpfe hatten einen matten Glanz angenommen. Allein ihre Optik ließ vermuten, dass es sich hierbei um Piraten handelte, jedoch erfüllten sie nicht so ganz den Geist eines furchterregenden Seeräubers. Besonders nicht der größere der beiden, der mit einem törichten Grinser in die Runde schaute und stolz ein dickes Federvieh in die Luft hielt.

"Hola amigos! Ich habe Wildenten für euch alle dabei!" 

Erschrocken wich Matthew zurück und starrte wie gebannt auf die tot geschossene Ente, die der Spanier in der Hand hielt. Pure Übelkeit überfiel ihn in dem Moment, als die kalten, blutverklebten Federn seine Haut streiften und der Brünette - gefolgt von einem weniger begeisterten, vor Kälte zitternden Jungen mit Tomatenkorb - richtete seine Aufmerksamkeit auf die fünf nordischen Männer. Kumajiro beobachtete in der Zwischenzeit gierig die frische Beute, als würde er jeden Moment zum Angriff bereit sein. Jedoch nahm Matthew ihn gerade jetzt auf den Arm und die Möglichkeit an Frischfleisch zu gelangen, wurde zunichte gemacht. Brummend wehrte sich der kleine Eisbär in Matthews Armen, als er plötzlich Gilbird wie vereist und komplett verstört auf Gilberts Schopf sitzen sah. Die toten Enten waren für ihn wohl zu einer puren Ohnmachtssituation geworden, die ihn ganz aus der Fassung brachte. 
Armer Sternenvogel, dachte sich Kumajiro und hätte das magische Geschöpf am liebsten an seinem kleinen Köpfchen gestreichelt.

Gilbirds Herrchen dagegen schien von etwas oder jemandem abgelenkt worden zu sein, sodass er auf seinen treuen, traumatisierten Kumpanen vergaß.
"Das ist Antonio, ein guter Freund von mir", Gilbert kicherte nervös und kratzte sich am Hinterkopf, als er Matthews Blick auf sich spürte, "Wir hatten uns in seinem Jagdgebiet aufgehalten und über uns sind ein paar Wildenten geflogen, deshalb hat er geschossen."

"Also entweder ist er einfach dumm oder er hat eine verzerrte visuelle Wahrnehmung, wenn er schon auf uns zielt." Matthew rollte mit den Augen und schaute grantig zu Boden. Es war doch wirklich eine Frechheit, dass ein guter Freund einen beinahe abschießt.

"Hey", der jüngere Mann mit dem Tomatenkorb und der auffälligen Locke auf der Seite funkelte Matthew böse an, "der Einzige, der diesen hirnlosen Bastard als dumm bezeichnen darf, bin ich. Pass auf, was du sagst oder ich mache Ravioli aus dir!"

Gerade als Matthew etwas dagegen sagen wollte, drängte sich der Albino dazwischen und posaunte mit seiner lauten, schrillen Stimme durch das ganze Erdgeschoss, darauf hoffend, dass sich der kleine Brünette nicht sofort mit Matthew prügelte. Matthew hielt er in der Zwischenzeit hinter sich versteckt.
"Antonio! Lovino will kuscheln, ihm ist kalt!" 

Als wäre das ein Stichwort gewesen, drehte sich Antonio mitten im Gespräch um und ließ Tino, Berwald, Mathias, Lukas und Emil alleine stehen, nur um seine, mehr oder weniger, herzige Begleitung fest an sich zu drücken; ganz gegen Lovinos eigentlichen Willen.
Er wehrte sich stetig gegen den festen und doch locker gehaltenen Griff, schaffte es aber nicht, dem Spanier zu entfliehen. 

Während sich der Süditaliener so derartig plagte, packte Gilbert Matthew, trotz dessen Widerwille, an der Hand und führte ihn langsam zur Tür wieder in die verschneite Welt hinaus. Matthews kurzer, unsicherer Blick zurück, an dem Türrahmen vorbei zu den fünf Blondschöpfen, verriet Gilbert, dass er sich wohl noch dringend für die Gastfreundschaft bedanken wollte.
Süß.

"Ich richte deinen Dank später aus, das werden sie schon verstehen." Matthews Kopf schnellte augenblicklich zu Gilbert; er nickte stumm. Gilbert selbst richtete seinen Blick in die Höhe, sah den großen runden Mond endlich hinter den bauschigen Wolken hervorscheinen und grinste. Die Tageszeit war geradezu perfekt.
"Ich weiß, wo wir jetzt hin gehen. Komm mit!"

Matthew legte den Kopf schief, wurde aber bereits von Gilbird mit Feenglanz bestäubt, sodass er wieder einige Male vom feinen Staub niesen musste. "Aber wohin denn?" Der Feenglanz kitzelte furchtbar im Rachen, sodass sogar Kumajiro, der sich entschieden hatte bei Matthew zu bleiben, ruckartig zu schnaufen begann. Nichtsdestotrotz lächelte der Albino weiterhin und tätschelte den Kopf des Siebzehnjährigen, der mit dem kleinen Eisbären in den Armen noch um einiges niedlicher aussah.

"Das bleibt eine Überraschung!" 

***

Leuchte, leuchte, lieber Stern,
Jedes Kind hat Dich gern.
Strahle dort am Himmelsrand,
Führ' uns in das Gute-Nacht-Land.

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