8. Kleine, große Umwege
„Das soll ja wohl ein schlechter Scherz sein", murmelte Margo ungläubig, als die beiden Männer sie hinunter zur Themse führten, wo ein verdammtes Floß angebunden war. Ein ... Floß. Das Wasser war durch den immer noch fallenden, leichten Regen in Aufruhr und an den Stellen wo die Tropfen auf dem Fluss zerplatzten, kräuselten sich munter Wellen.
„Was hast du denn erwartet, Liebes?", schnappte Hook missgelaunt zurück, während Smee in die Hocke ging und das Seil, welches an einem herausstehenden, rostigen Metallrohr befestigt war, löste. Das Rohr ragte aus der verwitterten Steinmauer, auf der Hook breitbeinig stand. Margo war die wenigen Steinstufen hinuntergestiegen und stand abwartend neben Smees, der unbeschwert vor sich hin summte.
Endlich war das Floß los. Es waren wirklich nur mehrere aneinandergebundene Holzstämme, in dessen Mitte ein provisorisch wirkender Mast und ein eingerolltes Segel, was sie verdächtig an ein rosa Leintuch erinnerte, angebracht war. Ernsthaft, sie konnte sogar die Nähte sehen.
„Jetzt komm endlich", nörgelte Hook und Margo realisierte, dass die beiden Männer sich bereits auf dem Floss befanden und der eine sie ungeduldig, der andere erwartungsvoll, anblickten. „Oder hast du es dir doch anders überlegt? Du kannst gerne hierbleiben, aber dann mach mir freundlicherweise noch diese Dinger ab!" Wieder einmal hielt er ihr seine in Eisen gelegten Hangelenke hin. Ganz kurz zögerte Margo wirklich. Immerhin wollte sie jetzt schon auf einem gammligen Floß nach Neverland schippern. Doch dann trafen ihre unsicheren, unterschiedlichen Augen die von Smees und der ältere Pirat nickte ihr aufmunternd zu. Dann, obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte, wagte sie den unsicheren Schritt.
Ihre Stiefelsohlen landeten auf rutschigem Holz und sie musste sich kurzzeitig am Mast festklammern.
Hook grinste böse und stieß ein abfälliges „Landratte" hervor.
Margo errötete nicht aus mädchenhafter Verlegenheit, sondern aus Zorn und quittierte seine Bemerkung mit einem giftigen Blick.
„Allesamt, gut festhalten!", wies Smees sie an und stieß sie im nächsten Moment kräftig mit dem langen Ruder vom Ufer ab. Das Floss schob sich in die Mitte der Themse und sie folgten ihrem Lauf. In regelmäßigen Abständen waren am Victoria Embankment aus Bronze gefertigte Löwenköpfe angebracht worden, die einen großen Ring im Maul hielten. Es handelte sich um ein frühzeitiges Warnsystem für Hochwasser aus dem Jahr 1984, um die Menschen rechtzeitig evakuieren zu können. Der Anblick der Löwen weckte eine alte Erinnerung.
When the lions drink, London will sink,
When it's up to their manes, we'll go
down the drains.
If the lions are ducked, then London is
F***ed.
Diesen Reim hatte ihr Großvater Michael ihr einst beigebracht, als sie noch ein ganz kleines Mädchen gewesen war. Er gehörte zu den wenigen guten Rückblicken, die sie von ihm besaß, wie sie gemeinsam die Themse entlangschlendert waren und freudig Himbeereis geschleckt hatten.
Plötzlich bemerkte Margo ein Vibrieren in ihrer Manteltasche. Zögernd zog sie ihr Handy hervor und starrte auf den Namen des aufleuchtenden Displays. Ted. „Tut mir leid", flüsterte sie schuldig und warf das technische kleine Wunderwerk ins Wasser, wo es hinunter auf den sumpfigen Themsengrund sank. Margo hatte ihre Entscheidung getroffen und würde sich von niemandem mehr umstimmen lassen. Ihr Herz raste und sie musste mehrmals blinzeln, denn nicht nur den Regen ließ ihre Sicht nun verschwimmen. Es war das erste Mal, dass sie ihre Tränen zuließ und die pure Verzweiflung einer Mutter sie übermannte. Andere hätten sie vielleicht dafür verurteilt, diesem Schmerz erst jetzt eine physiologische Form zu erlauben, aber wenn sie das zu früh getan hätte, wäre sie jetzt nicht hier. Sie würde heulend in ihrem Bett liegen oder bei einem Psychiater auf dem Sofa hocken. Und nichts von beiden hätte Liam in irgendeiner Weise geholfen.
Also riss sie sich auch jetzt wieder zusammen, wischte versucht unauffällig die salzigen Tränen mit ihrem Mantelärmel fort.
„Jetzt geht es los", hörte sie Smees fröhliche Stimme rufen und Margo reckte interessiert den Hals, um zu erspähen, was genau er meinte. Was ging los?
Doch sie sah nichts, außer dem gewöhnlichen Flussverlauf, der sich durch die Stadt schlängelte und die Straßen und Hausfassaden, die ihn flankierten.
Das einzig Ungewöhnliche war vielleicht, dass die Strömung etwas angezogen hatte.
„Das Kapitänlein hat Ihnen ja sicher bereits erzählt, was gleich passieren wird, Mademoiselle."
„Nein", widersprach Margo bestimmt und drehte den Kopf in seine Richtung. „Er hat es um ehrlich zu sein, mit keinem Wort erzählt. Was passiert gleich?"
„Oh", machte Smee und seine ohnehin schon großen, blauen Iridien weiteten sich besorgniserregend, während er zurückstarrte. „Nun, ich denke das Ausschlagebenste wird sein, dass Sie ganz fest daran glauben, dass wir den Sturz vom Wasserfall unbeschadet überstehen. Alles andere wird sich schon ergeben."
„Welcher Wasserfall?", fragte Margo nun ziemlich neben der Spur und kräuselte die Stirn. Wovon redete er da bloß?
„Sie kann ihn ja ohnehin nicht sehen", mischte Hook sich ein. „Deshalb fand ich seine Erwähnung auch überflüssig, aber um es kurz zu machen, wir werden gleich einen mehrere hundert Meter tiefen Wasserfall hinabstürzten. Keine Sorge, wir haben das schon dutzende Male gemacht, alles wird gut."
„Ja, normalerweise haben wir zwar ein Schiff und eine geschulte Besatzung, anstatt eines klapprigen Floßes, aber bisher hielten sich die Komplikationen in Grenzen", ergänzte Smee, sie anstrahlend, doch durch sein spöttisches Augenfunkeln erkannte Margo sofort, dass er das eigentlich weit weniger gelassen sah. „Dass eigentlich gefährliche ich auch nicht der Fall", erklärte er lächelnd weiter, „sondern das Monster, was auf der anderen Seite auf uns lauert."
„Das Monster?", wiederholte Margo, jetzt erst richtig beunruhigt. „Dieses ... Krokodil? Tick Tock?"
„Wenn du einen Deinosuchus mit 10 Meter Kopf-Rumpf-Länge als Krokodil bezeichnen möchtest, dann ja", bestätigte Smee sie mit einem heiteren Glucksen.
„Z-Zehn Meter?", forschte Margo nochmals geschockt nach und wandte dann den Kopf zur anderen Seite, um Hook anzublicken. „Das nächste Mal, wenn du jemanden gegenüber dieses Vieh erwähnst, kannst du ruhig dazu sagen, dass es sich um einen längst ausgestorbenen Dinosaurier handelt. Das ist nämlich eine ziemlich wichtige Information!"
„Ach ja?", fragte er sie unbeeindruckt. „Was macht das denn für einen Unterschied? Das Ding hat Zähne und will uns fressen. Davon abgehen, habe ich nie behauptet, dass Tick Tock ein Krokodil wie in deiner Welt sei. Du hast das einfach angenommen. Und jetzt ist es meine Schuld, weil du nicht genauer nachgefragt hast?"
Margo öffnete die Lippen, um zu einer harschen Erwiderung anzusetzen, doch in diesem Augenblick, wurde das Floss von einem gewaltigen Ruck erfasst, als hätte es eine unsichtbare Hand gepackt und mit Schwung vorwärts geschoben. Der Polizistin entwich ein erschrockener Aufschrei und sie klammerte sich erneut am Mast fest, welcher allerdings kaum Halt bot und bedrohlich schaukelte. Sie spürte den kalten Fahrfahrtwind auf ihrem Gesicht und konnte fühlen, wie das Floss immer mehr beschleunigte, nur den Grund dafür, konnte sie nicht ausmachen. Was hatte Hook vorhin gefaselt? Sie konnte den Wasserfall ja ohnehin nicht sehen.
Einem Impuls folgend, glitt ihre Hand in die feuchte Manteltasche hinein und fischte Johns Brillengestell heraus, welches sie vor einiger Zeit dort verstaut hatte, da die falsch eingestellte Sehstärke ihr eines Auge zu stark beansprucht hatte. Jetzt setzte sie sich die Sehhilfe wieder auf den Nasenrücken und blickte hindurch.
Dass was sie sah, entfesselte eine unbändige Angst in ihrem Inneren. Dort, mitten im Stadtzentrum, wo eigentlich die Themse ruhig fließen sollte, erblickte sie nun den Rand eines Abgrunds. Es war komplett absurd, als wäre die bekannte Welt eine Scheibe und würde einfach irgendwann aufhören und in die Tiefe stürzen. So wie es sich die Menschen vor etlichen Jahren vorgestellt hatten, aber selbst wenn sich alle Naturwissenschaften geirrt hatten und dieser Weltenbruch wahrhaftig existierte, dann doch sicher nicht mitten im modernen London. Doch sich noch mehr Gedanken über diese skurrile Situation zu machen, war Margo nicht fähig. Der Abgrund näherte sich in unfassbarer Geschwindigkeit, das Wasser schäumte bedrohlich und selbst wenn sie gewollt hätte, sah sie keine Möglichkeit mehr, noch irgendwie ans rettende Ufer zu gelangen.
Ihre Augen hefteten sich an den nun ungewohnt leeren Horizont hinter diesem Abgrund, wo sie nur unendliches Blau erblickte. Und dann hörte sie Wendys freundliche Stimme, als wäre sie ganz nah bei ihr, die ihr zuflüsterte: keine Angst, Margo. Alles, was du tun musst, ist daran zu glauben. Glaube daran ... und du wirst fliegen.
Nein sie würde nicht fliegen. Sie würde fallen und sterben. Ganz sicher.
***
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