20. Ein seltsames Gefühl
KAPITEL 20
Ein seltsames Gefühl
Montag, 14. November 1977
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DARJANA STECKTE IN EINEM DILEMMA. Es war Montag, was bedeutete, dass die berüchtigte Freistunde, die sie und Remus während Kräuterkunde hatten, heute war. Allerdings wusste sie nicht recht, was sie machen sollte, und grübelte vor dem Einschlafen darüber nach, ob es sinnvoll wäre, morgen zu ihm zu gehen oder nicht.
Glücklicherweise wurde ihr die Entscheidung irgendwie abgenommen, da sie nachts ihre Periode bekam, aber trotzdem saß sie am nächsten Tag beim Frühstück und sah nachdenklich zu Remus hinüber, der mit seinen Freunden über etwas lachte. Darjana blickte zu Charity, die etwas weiter entfernt mit Patience, Lysandra und Marissa zusammen saß. Sie fühlte sich, als würde sich irgendjemand lustig über sie machen. Frustriert ließ sie ihren Löffel laut in ihre Porridge-Schale fallen. Remus sah nicht einmal zu ihr.
Erst als er und seine Freunde auf dem Weg zum Ausgang waren, wanderten seine Augen über den Slytherin-Tisch und schließlich zu ihr. Sie konnte seinen Blick von hier hinten nicht lesen, aber sie erwiderte ihn stumm. Es fühlte sich länger an, als es tatsächlich war, bis er sich wieder wegdrehte, weil... Darjanas Finger schlossen sich automatisch fester um die Kaffeetasse vor sich. Zara, diese perfekte kleine Ravenclaw, war in die Große Halle gekommen und sprach ihn an. Darjana wusste nicht, was zwischen den beiden ausgetauscht wurde, aber da Sirius ihm auf die Schulter klopfte, nachdem Zara zu ihrem Haustisch gegangen war, konnte sie sich denken, dass es um das Hogsmeade-Wochenende ging.
Ganz toll. Wirklich toll. Sie freute sich ja so für die beiden.
Gereizt packte sie ihre Sachen zusammen und machte sich auf den Weg zum Zauberkunst-Unterricht. Wenigstens war er nicht da. Er hatte zur gleichen Zeit seinen Verwandlungs-Kurs. Sie war erleichtert darüber.
Statt zu ihm, ging sie in ihrer Freistunde zu Sven, Batman und Robin. Die gingen wenigstens nicht auf Dates mit Ravenclaws. Was natürlich völlig legitim war.
Remus schien sie aber gut genug zu kennen, da es nicht lange dauerte, bis sie sah, wie er auf ihre Entenfütter-Stelle am Schwarzen See zugelaufen kam. Doch statt ihren Kopf zu ihm zu drehen, behielt sie ihren Blick fest auf die Enten gerichtet, die zufrieden umherschwammen, während sie darauf warteten, dass sie mehr Obst und Getreidekörner ins Wasser warf. Als er neben ihr stehenblieb und ein paar Sekunden schweigend verharrte, hielt Darjana ihm nur wortlos die Dose mit den winzigen Apfelstückchen hin.
„Mögen sie das?", fragte er.
„Siehst du doch", antwortete Darjana.
Sie konnte ihn daraufhin lachen hören. Eine Weile standen sie schweigend dort und sahen dabei zu, wie die drei Enten sich an der Abwechslung in ihrem Speiseplan erfreuten. Plötzlich streckte Remus seine Hand nach ihr aus und sie zuckte leicht zusammen, als er mit ihren Fingern über ihre Wange fuhr und ihr schließlich eine Haarsträhne hinters Ohr strich. Nun drehte sie den Kopf doch zu ihm herum und sah in seine schrecklichen grünen Augen. Er machte vorsichtig einen Schritt auf sie zu und küsste sie so sanft, dass Darjanas Haut kribbelte.
Sie wusste nicht, was er ihr damit sagen wollte — sie glaubte nicht einmal, dass er es wusste. Schweigend betrachtete sie ihn, als er wieder zurückwich und bei dem Ausdruck auf seinem Gesicht spürte sie plötzlich ihre Augen brennen. Merlin, diese scheiß Hormone. Schnell wandte sie sie sich zur Seite.
„Du willst also noch... das hier?", fragte sie und verfluchte sich für die Unsicherheit in ihrem Tonfall.
Remus' Gesichtsausdruck hatte etwas Verwirrtes an sich, als sie zu ihm sah. „Ja", entgegnete er verständnislos. „Natürlich. Dachtest du—?"
„Nein", sagte Darjana schnell. „Ich dachte nur... es hätte ja sein können. Manchmal verlieren... Leute... das Interesse nach einem Mal."
Einen Moment lang sah Remus sie an, als versuche er, sie zu analysieren. „Welcher Idiot hat die glorreiche Aussage denn von sich gegeben?", fragte er. Das brachte Darjana leicht zum Schmunzeln.
„Niemand", murmelte sie, und es sollte sie beunruhigen, dass Remus ihre Lüge durchschaute und sie das nur an seinem Blick erkannte. „Willst du es wirklich wissen?"
Er zuckte nickend mit den Schultern. „Wenn du es erzählen willst."
Darjana sah gedankenverloren zu den drei Enten, die langsam wieder in die Ferne schwammen, jetzt wo es nichts mehr abzustauben gab. Passend zum Thema... „Mein erster Freund", gab sie schließlich zu. Sie war sich unsicher, ob er das wirklich hören wollte, aber als sie zu ihm schaute, blickte er sie abwartend an. Sie seufzte. „Es war Ende der Vierten, ich war fünfzehn, er siebzehn. Ich war ziemlich verknallt in ihn, was vermutlich der Grund dafür war, dass ich so dumm war. Ich wollte ihm echt gefallen, auch wenn ich das Gefühl hatte, nie genug zu sein. Nichts war gut genug für ihn. Es war nicht so, dass ich vorher niemanden geküsst hatte, aber es war nie mehr. Er hat immer davon geredet, dass Sex eben zu einer Beziehung gehört und er mit seiner Ex-Freundin Schluss gemacht hat, weil sie nicht wollte. Sie war vierzehn, da hätten mir eigentlich schon die Alarmglocken läuten sollen."
Sie würde am liebsten ihr vergangenes Ich treffen und sich selbst den Kopf waschen. „Mir war klar, dass er sich nicht wirklich dafür interessiert hat, was mich interessiert, obwohl ich alles über ihn wusste, selbst seine Lieblingsfarbe. Eigentlich wollte ich es auch noch gar nicht, aber ich dachte, wenn ich es mache, verliebt er sich vielleicht mehr in mich", fuhr sie fort. Remus sah auch so aus, als würde er gerne mal mit ihrem vergangenen Ich ein Wörtchen reden. „Danach war er irgendwie komisch und als ich ihn darauf angesprochen habe, meinte er, dass es nicht so war, wie er sich vorgestellt hat und es irgendwie den Reiz verloren hat. Er meinte, dass er gedacht hätte, ich wäre besser."
„Aber..." Er blinzelte ein paar Mal und legte verständnislos die Stirn in Falten. „Das war doch dein erstes Mal. Und mal davon abgesehen—"
„Ja, ich weiß." Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hatte richtig Liebeskummer. Ob du's glaubst oder nicht, ich war mal romantisch."
„Schwer sich vorzustellen", antwortete Remus trocken und sie stieß ihm mit einem belustigten Lächeln in die Seite.
„Mein Bruder hat ihn dafür geschlagen, das hat geholfen", fuhr sie fort.
„Gut", sagte Remus zufrieden. Ihre Mundwinkel zuckten. „Wollen wir eigentlich reingehen?"
„Ich hab meine Periode", erklärte sie.
„Oh", erwiderte Remus ein wenig perplex. „Okay."
Darjana nickte.
„Wir können trotzdem—", begann er.
„Nein, lieber nicht", antwortete sie. „Ich fühl mich nicht so gut dafür."
„Nein, ich meinte...", begann Remus ein wenig unbeholfen. „Wir können was zusammen machen. Was anderes. Reden oder so."
Darjana konnte ihre Überraschung darüber kaum verbergen. Das war... ungewohnt. Aber auf eine wohltuende Art und Weise. „Manchmal weiß ich nicht, ob es mich skeptisch machen sollte, dass du solche Dinge sagst."
„Warum?", fragte Remus ehrlich verwirrt.
„Du weißt gar nicht, was ich mir schon dafür anhören musste, Nein zu sagen, oder?", fragte sie.
Remus runzelte die Stirn und schüttelte schweigend mit dem Kopf.
Darjana schnaubte leise und wusste nicht, ob sie überhaupt davon erzählen sollte.
„Was?", fragte er jedoch in diesem Moment ernsthaft interessiert und sie atmete tief durch.
„Willst du das echt alles hören?" Sie sah ihn so an, als glaube sie nicht wirklich, dass er an so etwas Interesse hatte.
„Ja", antwortete er jedoch mit fester Stimme.
Sie seufzte erneut. „Als ich letztes Jahr Carrow gesagt habe, dass ich meine Tage hatte, meinte er ‚Okay, aber deinem Mund geht's doch gut, oder nicht?'."
Remus vergrub die Hände in seinen Taschen an und wenn sie sich nicht täuschte, spannte er den Kiefer an. Also fuhr sie fort.
„Letzten Sommer war da ein Typ, der mich angequatscht hat und mich gefragt hat, ob wir einen Kaffee trinken wollen. Und er war nett und für mich war halt nichts dabei, aber er wollte dann mehr an dem Abend und als ich Nein gesagt habe, meinte er ‚Toll, meinst du, den Kaffee habe ich dir einfach so bezahlt?'"
„Ah ja, der klassische Fall, Frauen mit einer Tasse Kaffee zu kaufen...", gab Remus ironisch zurück und schüttelte angeekelt den Kopf. Darjana sprach einfach weiter, während ihr Herz immer schneller und aufgebrachter klopfte.
„Als ich wegen meinem ersten Freund Liebeskummer hatte, war ich danach auf einer Party, ziemlich betrunken und ziemlich traurig. Irgendwie hatte ich dann was mit jemandem, ich konnte mich nicht wirklich dran erinnern... Auf jeden Fall war er dann der Ansicht, dass ich ihm noch ein nächstes Mal schulde. Ich musste ihm ziemlich deutlich machen, dass er mich in Ruhe lassen soll."
„Aber er hat mit dir geschlafen, als du betrunken warst?", fragte Remus stirnrunzelnd.
„Ja", antwortete Darjana, als verstehe sie das Problem nicht.
„Du warst nicht gerade in der Verfassung zu beurteilen, ob du das wirklich willst, wenn du betrunken und traurig warst."
Das war das erste Mal, dass sie darüber so nachdachte. „Findest du?", fragte sie nachdenklich.
Remus sah sie verständnislos an. „Ja", gab er ernst zurück. „Sowas macht man nicht."
Darjana zuckte nachdenklich mit den Schultern. „Carrow meinte mal, dass es schade ist, dass ich nicht immer betrunken bin, weil mich das leichter zu haben macht. Oh, und sein Kumpel wollte damals auch was von mir und meinte, warum ich mit der halben Schule schlafe, aber nicht mit ihm, damit ich mich schlecht fühle. Ich könnte mich ja einfach hinlegen und müsste nichts machen, es geht ja nicht um mich." Sie malte Anführungszeichen in die Luft.
Angewidert verzog Remus das Gesicht. „Wofür hat der Kerl ne Hand?", fragte er und brachte Darjana damit leise zum Lachen. Ihre Augen funkelten amüsiert, als sie Remus ansah. Er schaffte es immer wieder, sie zu überraschen.
„Vor allem stimmt es nicht mal, es waren nur vier von dieser Schule und das ist bestimmt nicht die Hälfte", murmelte sie, bevor sie einen Blick auf ihn warf und sich korrigierte, als er ihr einfiel. „Fünf."
„Aber selbst wenn gibt ihm das ja kein Recht, sowas zu sagen", erwiderte Remus.
Darjana seufzte schwermütig. „Manchmal fange ich dann an, mich zu fragen, ob sie nicht recht haben und es an mir liegt, auch wenn ich genau weiß, dass es nicht stimmt", gab sie zu.
„Es liegt nicht an dir", sagte Remus bestimmt. „Die Sache ist doch einfach: Wenn dir nicht danach ist, sag es einfach und dann ist es so."
Darjana sah ihn an. „Nein, wirklich, es ist toll, dass du das respektierst."
„Lob mich nicht dafür", antwortete Remus. „Ich will kein Kompliment für etwas, das normal sein sollte." Schweigend betrachtete sie ihn und lächelte sanft. „Komm, lass uns reingehen."
Darjanas Mundwinkel hoben sich und sie nickte sanft, bevor sie ihm folgte. Eine Weile schwiegen sie und sie überlegte, was sie ihn fragen könnte... denn eigentlich gab es im Moment nur eine Sache, die sie in Erfahrung bringen wollte. „Hast du Zara eigentlich gefragt?", brachte sie es über sich, sie endlich zu stellen, als sie die Eingangshalle betraten.
„Oh", erwiderte Remus ein wenig verlegen. „Also eigentlich... Sie hat heute Morgen mich gefragt. Damit hätt ich nicht gerade gerechnet."
Auch Darjana versetzte diese Information einen seltsamen Stich. Wenn sie ihn fragte, mochte sie ihn bestimmt... Es war schwer, ihr so etwas zu verübeln. Bevor sie etwas antworten konnte, waren die beiden schon in Richtung Bibliothek unterwegs, zumindest wenn Darjanas Vermutung richtig war. „Wohin gehen wir?", fragte sie, was ihr Merlin sei Dank eine Antwort ersparte.
„Lass dich überraschen", gab er mit einem Grinsen zurück. In der Bibliothek angekommen lief Remus recht zielstrebig geradeaus, bis er in einen Gang einbog und bei dem Karmin in der Ecke stehenblieb. Verwirrt zog Darjana die Augenbauen zusammen. „Glacius!", sagte Remus plötzlich und richtete seinen Zauberstab auf die Feuerstelle. Skeptisch beobachtete Darjana, wie der Kältezauber wirkte und die Flammen zum Stillstand gebracht wurden. „Hereinspaziert."
Mit gerunzelter Stirn sah sie ihm hinterher, als er gebückt durch den Kamin lief und über die blau-vereisten Flammen stieg. Dann folgte sie ihm und machte große Augen, als sie den kleinen rechteckigen Raum hinter der Feuerstelle sah, den man von außen so gar nicht erwartet hätte. Ein dunkelgrüner Teppich mit goldenen Verzierungen säumte den Boden, in der Ecke links war ein kleiner Ohrensessel und ein Tisch mit einem Teegedeck platziert. An der langen grünlichen Wand gegenüber, die im Gegensatz des restlichen Raumes nicht mit Holz vertäfelt war, standen eine Kiste und ein weiterer Tisch, der mit Büchern übersät war. Rechts stand ein weiterer Sessel neben einer alten Harfe, die Darjana daran erinnerte, dass ihre Mutter auch einmal Harfe gespielt hatte, zumindest gab es ein Bild davon. Überall hingen vereinzelte Porträts oder Poster von Quidditch-Stars.
Sie drehte sich zum Eingang um, als das Feuer wieder zu knistern begann, und sah, dass auch von innen das Holz um den Karmin kunstvoll verziert war.
„Wie findet man sowas?", fragte sie Remus sprachlos, der sich grinsend auf einen Sessel fallenließ.
„Eine Kombi aus den richtigen Freunden und Zeit", antwortete er.
„Hm", gab sie zurück, als Remus seinen Zauberstab schwang und der Sessel auf der anderen Seite des Raumes zu dem Teetisch schwebte, an dem Remus Platz genommen hatte. Darjana folgte ihm amüsiert und ließ sich auf den gepolsterten Sessel fallen. Ihr Blick fiel auf das Schachspiel, das auf dem Tisch stand. „Spielst du Schach?"
„Klar", antwortete Remus. „Willst du eine Runde spielen?"
„Ne", sagte Darjana schlicht.
Remus betrachtete sie und lachte dann in sich hinein, was auch Darjana zum Grinsen brachte. „Willst du Schokolade?"
Darjana sah auf die Tafel verführerisch aussehender Schokolade, die er aus seiner Tasche holte und ihr hinhielt. „Hmm", entgegnete sie langsam, während sie schon ihre Hand ausstreckte und mit einem unschuldigen Blick ein Stück abbrach. Remus lächelte und lag sie auf den Tisch, während Darjana begann, an der Schokolade zu knabbern.
„Dachte ich mir", sagte er amüsiert, bevor er fragte: „Wie weit bist du eigentlich mit dem Buch?"
Darjana seufzte und holte es aus ihrer Tasche, während ihre Augen über den Titel Die Kameliendame glitten. Sie hielt es ihm hin. „Also, der Erzähler — wer auch immer er ist — hat jetzt das Buch mit den Randnotizen aus Marguerites Besitz ersteigert, das sie von Armand bekommen hat. Und Armand ist jetzt auch schon zu ihm gekommen, um das Buch wiederzuholen. Ich mache das übrigens auch manchmal — Sachen an den Rand schreiben, Dinge unterstreichen und so."
Remus sah sie einen Moment an, bevor er zu dem Buch in ihrer Hand blickte und es entgegennahm. Kurz blätterte er hindurch. „Warum hast du es hier nicht?", fragte er.
„Weil es dein Buch ist", sagte sie, als ob es offensichtlich wäre. „Und du machst es nicht."
„Ja, aber ich würde gerne lesen, was du denkst", meinte er und Darjana betrachtete ihn einen Augenblick, während er so wirkte, als sei nichts Besonderes an seinen Worten. Aber irgendwie... errötete Darjana fast. Wenn Remus mit ihr redete, klang es so, als hätte er Interesse an ihr, als Person, an der Art, wie dachte und die Welt sah, und warum sie sie so sah.
Remus runzelte die Stirn und schien verwirrt darüber nachzugrübeln, was in ihr vorging.
Sie spürte auf einmal ein seltsames Gefühl in ihrer Brust. Vielleicht hatte die Brustkrankheit von Marguerite sie auch ergriffen. „Ähm." Ihre Stimme klang belegt und sie räusperte sich hastig. „Auf jeden Fall hat er Armand jetzt schon besucht und Armand hat auch schon Marguerites Grab ausheben lassen — wobei ich nicht ganz verstehe, warum er so geschockt war, was hat er denn erwartet? Dass sie immer noch genauso aussieht wie vorher? Außerdem heult er die ganze Zeit so rum."
„Der Mann ist halt verliebt", erwiderte Remus. „Und hat gerade die Frau verloren, die er liebt."
„Ja, gut", sagte Darjana augenverdrehend.
„Außerdem hat er davor auch ziemliche Scheiße mit ihr abgezogen—"
„Argh, Spoiler", unterbrach sie ihn sofort energisch.
„Siehst du, es interessiert dich doch", stellte Remus triumphierend fest. Sie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Aber dann fängt Armand jetzt an, von sich und Marguerite zu erzählen."
„Kann sein", entgegnete sie.
Remus klappte das Buch an ihrem Lesezeichen auf. „Lass mich lesen."
Sie protestierte nicht und lehnte sich weiter in ihrem Sitz zurück, während sie ihn schweigend betrachtete. Es war das erste Mal, dass ihr auffiel, was für eine schöne Stimme er hatte. Einer, der man gut zuhören konnte. Irgendwie passte sie zu ihm, ruhig und gleichzeitig kräftig, nicht zu tief, aber klangvoll genug, um ihr ein Gänsehaut zu verpassen. Mit dem leichten walisischen Akzent, den er hatte, war sie geradezu niedlich.
Also hörte Darjana ihm aufmerksam zu, klaute immer wieder ein Stück Schokolade und ließ sich von ihm erzählen, wie Armand die schöne, stadtbekannte Marguerite auf der Straße sah und sich auf den ersten Blick Hals über Kopf in sie verliebte. („Das ist unrealistisch." „Und?") Sie hörte dabei zu, wie verlegen Armand war, als er ihr im Theater begegnete und sein Freund mit ihm zu ihrer Loge gehen wollte, um sie einander vorzustellen, Armand jedoch darauf bestand, zunächst Marguerites Erlaubnis zu erhalten, ihr vorgestellt zu werden. („Ein bisschen wie du." „Halt die Klappe.") Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, als Armand errötend auf sie reagierte, während Marguerite das sehr zu amüsieren schien und sie sich über ihn lustig machte. „Ich mag sie", verkündete Darjana, bevor Armand seinem Freund gestand, dass er sich in seinem Eindruck von ihr völlig getäuscht hatte. Sie hob die Augenbrauen, als Remus vorlas, was Armand wirklich dachte.
„Hat er gerade ‚Ich fasste den Entschluss, dieses Mädchen zu besitzen' gedacht?", fragte sie stirnrunzelnd.
„19. Jahrhundert", sagte Remus schlicht.
Darjana schnaubte.
„Ich hab dir gesagt, Armand kann fragwürdig sein."
„Ja, er ist ein bisschen schnulzig und besessen", stimmte Darjana zu. „Aber du bist auch ein bisschen schnulzig."
„Haha", sagte Remus und legte finster den Kopf schief.
Sie grinste ihn frech an. Dann erzählte Armand davon, dass er wunderliche Gedanken hatte und gerne jeden Mann, der Marguerite besuchte, erschießen wollte. „Ah ja", merkte sie an. „Besessen, sag ich ja."
Remus schmunzelte. „Fühlt sich nicht Eifersucht so an?", fragte er belustigt.
„Ich hatte noch keine Mordgedanken, was Zara angeht", rutschte es Darjana heraus. Remus hob den Kopf und sah sie seltsam an.
„Aber du bist ja auch nicht eifersüchtig auf Zara", meinte er langsam.
Darjana öffnete schnell den Mund. „Natürlich nicht, ich meinte ja nur..."
„Klar."
Wenn dann würde sie ihn gerne für dieses dumme kleine Grinsen erschießen.
Dann las Remus weiter vor: Wie Armand sie erst nach zwei Jahren sah, weil sie wegen ihrer Tuberkulose auf Kur gewesen war, und seine Gefühle wieder aufflammten. Marguerite hatte ihr „Geschäft" aufgegeben, weil sie nun Geld von einem Herzog bekam, der von ihr an seine lungenkranke Tochter erinnert wurde, unter der Bedingung, dass sie sich nicht mehr von Männern „verderben" ließ. Sie hörte nachdenklich dabei zu, wie Armand mit einigen anderen Leuten bei Marguerite zu Gast war und sie ins Bad flüchtete, weil sie Blut hustete. Niemand außer Armand folgte ihr und sie zeigte ihre Überraschung darüber, dass kein Mann ihr je solch eine Fürsorge gezeigt hatte.
Das folgende Liebesgeständnis von ihm kommentierte Darjana skeptisch. Er versicherte ihr, für immer bei ihr zu bleiben und für ihre Gesundheit Sorge zu tragen, doch Marguerite widersprach, da sie fand, dass das Leben mit einer kränklichen Frau wie ihr zu langweilig für ihn wäre und dass ihr hoher Lebensstandard ihn ruinieren würde — doch Armand blieb so beharrlich, dass Darjana die Augen verdrehte.
„Er hat einmal mit ihr gesprochen", sagte sie. „Aber natürlich, er liebt sie so wie kein Mann je zuvor."
„Ja, er ist eben ein bisschen dramatisch", gab Remus zu.
„Besessen trifft's eher", flötete Darjana leise. Er schnaubte amüsiert.
„Jane Austen würde dir mehr gefallen", sagte Remus. „Die schreibt aber auch greifbare Liebesgeschichten."
Darjana runzelte die Stirn. „Du liest Jane Austen?"
„Hallo, sie hat das Liebesroman-Genre geprägt, das ist wichtige Bildungslektüre." Er räusperte sich. „Es liegt natürlich nicht an Elizabeth Bennet."
„Na klar doch." Darjana grinste. „Die ist also dein Typ?"
„Sie ist intelligent, witzig, lebensfroh, hat ein gutes Herz — klar."
Sie nickte und betrachtete ihn mit einem sanften Lächeln. So jemanden verdiente er auch.
„Außerdem sagen James und Sirius immer, dass sie nicht verstehen, was Frauen wollen, und Maggie sagt ihnen immer wieder: Lest Jane Austen", fuhr er fort. „Also habe ich auf sie gehört und verstehe jetzt, was sie damit meint, dass Männer, die von Frauen geschrieben werden, eher Vorbilder für uns sein sollten, als irgendwelche Machos."
„Da hat sie recht", gab Darjana zu.
Remus konzentrierte sich wieder auf Die Kameliendame.
Marguerite gab nach, hatte aber ihre Forderungen: Sie wollte ihre Freiheit, sein Vertrauen ohne Rechenschaft geben zu müssen wegen ihrer Vergangenheit oder ihres Lebensstandards und — Darjanas Highlight — seine Unterwürfigkeit.
„Die Frau weiß, wie's läuft", schmunzelte sie scherzhaft. Dabei fand sie die ganzen Bedingungen ihrer „Beziehung" etwas seltsam. „Aber lieben tut sie ihn ja eigentlich nicht wirklich. Sie macht das jetzt, weil er Mitleid mit ihr hat und nett zu ihr ist."
„Ich sag ja, es ist keine perfekte Liebesgeschichte. Aber das ist auch glaube ich nicht der Punkt."
Doch dann sah Darjana zu ihm und fragte sich, ob es bei ihr nicht genauso war. Mochte sie Remus vielleicht auch nur, weil er nett zu ihr war? Weil er respektvoll war, ganz anders als die Männer, die sie sonst kennengelernt hatte?
Wenn sie darüber nachdachte, kannte sie ihn kaum, oder? Gedankenverloren sah sie auf ihre Uhr. „Wir müssen zu Geschichte", sagte sie und Remus nickte hastig.
„Stimmt, scheiße", erwiderte er und klappte das Buch schnell zu, bevor er es Darjana zurückgab. Während sie sich beide auf den Weg machten, dachte Darjana daran, dass sie ihm noch Stunden hätte zuhören können, auch wenn seine Stimme im Laufe der Seiten deutlich rauer geworden war.
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AM FREITAG WAR DARJANA DANN MIT DEM VORLESEN DRAN. Allerdings nicht auf die schöne Art und Weise.
Der Aufsatz in Verteidigung, den sie hatten schreiben sollen, war fällig, was hieß, dass Professor Attaway verlangte, dass jemand seinen Text vorlas. Natürlich meldete sich keiner freiwillig.
„Miss Rowe!", erwählte der Lehrer also sie zu der tollen Aufgabe, vor der ganzen Klasse ihre Hausaufgabe vorzulesen, weshalb sich alle sofort erwartungsvoll zu ihr umdrehten. Remus warf ihr einen abwartenden, gespannten Blick von der Seite zu, als sie ihr Pergament hervorholte und seufzend mit dem Vorlesen begann.
Als wäre das nicht genug, stellte Professor Attaway auch noch die Frage „Möchte jemand eine Rückmeldung geben?", sobald sie zu Ende gelesen hatte. Und natürlich meldete sich erneut niemand. „Mr Lupin vielleicht?"
Remus versuchte einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren, als Darjana ihre Augen auf ihn richtete und ihn erwartungsvoll betrachtete. „Also", begann er ein wenig verunsichert. Oh Merlin, hatte er überhaupt zugehört? Doch erleichtert stellte sie fest, dass er es hatte und sich nicht blamieren würde. „Ich fand das Fazit sehr interessant. Es ist ein etwas anderer Ansatz, es so zu betrachten, dass die gesamte Theorie, die du vorher ausgeführt hast, eigentlich im Echtfall kaum so umgesetzt wird, weil man hauptsächlich aus Instinkt und nicht aus dem Verstand handelt. Manchmal war die Struktur ein wenig verwirrend, da hat ein wenig der rote Faden gefehlt, und auch die Argumente für und gegen defensive Magie hätten ein wenig klarer formuliert sein können. Ein paar Sätze waren ein wenig verworren und verschachtelt—"
„Es war spät", unterbrach Darjana ihn.
Remus' Mundwinkel zuckten. „Ja", gab er belustigt zurück. „Aber ansonsten mochte ich deinen Schreibstil sehr und fand, dass du die einzelnen Zauber gut erklärt hast."
Darjana kam nicht umhin zu denken, dass Remus ein guter Lehrer wäre.
„Was würden Sie dem Aufsatz geben?", fragte Attaway, der begeistert von Remus' Kritik zu sein schien.
„Ähm", antwortete Remus und warf ihr einen unsicheren Blick zu, als wolle er nichts Falsches sagen. „Ein E vermutlich."
Der Lehrer nickte zustimmend und als er den Unterricht fortführte, sah Darjana zu ihm herüber. „Kein roter Faden also, ja, Professor?"
Remus lächelte leicht und kratzte sich am Hinterkopf. „Ich dachte, ich sollte ehrlich sein — war das okay so?", fragte er leise.
„Jaja, klar", antwortete sie amüsiert über das schlechte Gewissen in seiner Stimme.
Wieder dachte sie daran, was ihr am Montag in den Sinn gekommen war, als er ihr vorgelesen hatte, doch diesmal verstand sie, dass sie falschgelegen hatte. Ja, sie mochte ihn, weil er nett war, weil er sich respektvoll danach erkundigte, ob seine Worte in Ordnung gewesen waren, aber das war nicht alles, was sie an ihm schätzte.
Vielleicht waren ihre Zweifel nur eine Rechtfertigung gewesen, die sie nutzte, um ihre Zuneigung für ihn herunterzuspielen, die sie an diesem Punkt absolut nicht leugnen konnte. Es war nicht mehr, es durfte nicht mehr sein, denn das machte ihr Angst, aber dass sie nichts über ihn wusste, könnte nicht ferner von der Wahrheit sein.
Denn sie kannte ihn sehr wohl.
Sie wusste, dass er eher ruhig und zurückhaltend war, aber eine andere, selbstbewusste und sarkastische Ader in ihm steckte. Sie wusste, dass er gerne las, dass er seine Freunde über alles schätzte und sie ihm so wichtig waren, dass ihn ihre Reaktion auf Darjana beunruhigte. Sie wusste, dass er wert darauf legte, was andere Leute von ihm dachten, dass er viel überdachte und sich für seine Gesprächspartner interessierte, dass er die Beatles mochte und Romane aus verschiedenen Epochen bevorzugte, die die Gesellschaft widerspiegelten.
Dabei war das erste, was sie über ihn erfahren hatte, dass er ein Werwolf war, doch nun schien es wie das Unbedeutendste über ihn, das es in ihren Augen gab.
Es gab viel, was sie wusste, und doch gab es noch so viel mehr, das es in Erfahrung zu bringen gab, und dieses seltsame Gefühl in ihrer Brust, das sie auf einmal wieder empfand, sagte ihr, dass sie genau das auch unbedingt tun wollte.
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NOTE
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✨ein seltsames Gefühl in ihrer Brust✨
DAS IST LIEBE HALLO
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