72. | Lass mich dein Zuhause sein (3/3)
Hermines POV
„Hast du wenigstens versucht es ihnen zu erklären? Oder sie mal besucht, um sie über alles aufzuklären?", wollte er wissen und verhinderte somit, dass ich ein weiteres Mal in dieses tiefe, schwarze Loch der Verzweiflung gezogen wurde, wozu ehrlich gesagt nicht mehr viel gefehlt hätte.
Nun war ich diejenige, die den Kopf schüttelte und seinem intensiven Blick so gut wie nur möglich auswich, aber dennoch ließ mich seine Frage stutzen. Daran hatte ich bislang nämlich noch gar nicht gedacht.
Was, wenn ich meine Eltern nach dem Krieg einfach aufgesucht und über alles aufgeklärt hätte? Wenn ich ihnen erzählt hätte, was passiert war? So, wie Draco es bei mir getan hatte. Ob sie mir auch nur ein Wort geglaubt hätten, war natürlich die andere Frage, doch ein Versuch wäre es doch wert gewesen, oder nicht?
„Nein, ich... also... ich hätte es vielleicht versucht, aber... ein paar Wochen nachdem ich ihre Erinnerungen gelöscht hab, sind sie nach Australien ausgewandert."
„Nach Australien?!", warf Draco geschockt dazwischen.
„Ja, sie... es war schon immer ihr größter Wunsch dort zu wohnen und... als ich sie damals obliviiert habe, wusste ich, dass sie sich diesen Traum endlich erfüllen werden. Sie haben dort ihre eigene Praxis eröffnet und... führen jetzt das Leben, das sie sich immer gewünscht haben, bevor ich..."
„Bevor du was?", hakte er nach, als ich nicht weitersprach. Ich seufzte.
„Bevor ich erfahren hab, dass ich eine Hexe bin und nach Hogwarts gehen darf. Geplant war nämlich, dass ich... dass wir nach Australien auswandern und ich dort zur Schule gehe, aber... an meinem 11. Geburtstag kam dann der Brief und... sie sind nur meinetwegen in England geblieben. Ich hab sie quasi davon abgehalten ihren Traum zu leben."
„Sag sowas doch nicht. Sie wollten eben das Beste für ihre Tochter. Das heißt aber nicht, dass du ihre Träume zerstört hast oder ihnen im Weg gestanden bist. Gib nicht dir die Schuld."
„Es ist aber meine Schuld! Sie haben es gehasst hier zu leben und das wusste ich. Warum denkst du, warum sie nur wenige Wochen nachdem sie obliviiert wurden, nach Australien ausgewandert sind? Weil das, was sie all die Jahre hier gehalten hat, endlich weg war. Weil ich... weil ich endlich aus ihrem Leben verschwunden bin, weil sie mich und meine besserwisserische Art nicht mehr ertragen mussten, weil-"
„Hör auf.", fiel er mir ins Wort, wobei ein fast schon mahnender Unterton in seiner Stimme lag, der mich tatsächlich zum Schweigen brachte.
Ich traute mich kaum ihn anzusehen, denn ich konnte mir vorstellen, welcher Ausdruck gerade sein Gesicht zierte und war mir ziemlich sicher, dass dieser mich einschüchtern und vermutlich sogar zur Vernunft bringen würde. Dass er recht hatte, wusste ich nämlich. Zumindest unterbewusst.
Und trotzdem zerfraß mich die Tatsache, dass ich sie für immer verloren hatte, nur, weil ich ihre Erinnerungen an mich gelöscht hatte. Denn das war ganz allein meine Schuld. Ich hatte ihnen keine Wahl gelassen, sondern ihnen diese Entscheidung einfach abgenommen. Ohne zu fragen und ohne ihnen zu erklären, was überhaupt Sache war. Ich war der Meinung gewesen, dass es das Beste für sie wäre. Dass es das Beste für uns wäre.
„Ich wollte sie bloß beschützen und... i-ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen um mich machen müssen oder in diese ganze Scheiße mit reingezogen werden oder getötet werden, ich... ich wollte einfach nur, dass sie glücklich sind. Jetzt sind sie es... ohne mich. Und d-das ist... das zerstört mich." Meinen Worten folgte ein erstickter Laut, ausgelöst von den unzähligen Tränen, die sich erneut in meinem Inneren anstauten und über meine Augen einen Weg nach draußen suchten.
Es schnürte mir schmerzhaft die Kehle zu, als würde mich jemand mit beiden Händen am Hals packen und diesen so fest wie nur möglich zusammendrücken, und für einen kurzen Moment blieb mir sogar die Luft weg. Keine Sekunde später spürte ich auch schon, wie Draco vorsichtig mein Gesicht umfasste und über meine erhitzten, allerdings kalkweißen Wangen streichelte, die gerade der Talstufe eines Wasserfalls glichen.
„Ich weiß, Süße.", kämpfte er flüsternd gegen mein leises Schluchzen an und zog mich ganz vorsichtig zu sich, um mir einen zärtlichen, federleichten Kuss auf die Stirn zu hauchen.
Das Gefühl seiner weichen Lippen auf meiner Haut sorgte dafür, dass sich meine Nackenhaare aufstellten und mir ein angenehm kalter Schauer über den Rücken lief, der mich kaum merklich erschaudern ließ. Wie ein sanfter Windhauch, der meinen Körper umhüllte.
„Ich kann verstehen, dass du das getan hast. Vermutlich besser als jeder andere. Ich meine... deine Gründe waren genau die gleichen wie meine damals. Wir wollten die Menschen, die wir lieben, beschützen. Wir wollten verhindern, dass ihnen etwas passiert und haben dafür sogar in Kauf genommen, dass sie uns vergessen. Aber das ist nichts, wofür du dich schämen oder selbst verachten solltest.", meinte er mitfühlend und platzierte einen weiteren Kuss auf meiner Stirn, bevor er sich wieder zurückzog und mir direkt in die Augen sah.
Sein Eisgrau traf auf mein Rehbraun und wurde wärmer, weicher, schien dahinzuschmelzen wie kalter Schnee in der Frühlingssonne. Was mich ungemein faszinierte. Selbst wenn ich es gewollt oder versucht hätte, ich konnte meinen Blick nicht von ihm abwenden. Wie gebannt starrte ich ihn an, seine Worte hallten in meinen Ohren nach und die Gänsehaut, die den Großteil meines Körper bedeckte, wurde noch stärker. Der Tatsache geschuldet, dass er immer wusste, was er sagen oder tun musste, um mich aufzuheitern.
Diese kleinen Gesten, seine Nähe und seine beruhigenden Worte sorgten jedes Mal dafür, dass es mir besser ging oder ich mich zumindest besser fühlte. Und obwohl es mir gerade schwerer fiel als jemals zuvor, schaffte er es.
Das Loch in meinem Herzen heilte ein kleines Stück. Ein klitzekleines Stück, aber es heilte. Denn er hatte recht. Ich hatte meine Eltern einfach nur beschützen wollen. Um jeden Preis.
Doch könnte ich die Zeit zurückdrehen, an den Tag, an dem ich sie obliviiert hatte, würde ich absolut nichts ändern. Ich würde es wieder tun. Ich würde wieder ihre Erinnerungen an mich löschen und würde sie auch nicht davon abhalten nach Australien zu ziehen.
Sie waren glücklich, sie waren in Sicherheit, sie konnten unbeschwert leben. Das war mein einziger Trost. Neben Draco natürlich. Der jetzt offenbar verstand, warum ich ihm nicht schon früher davon erzählt hatte. Weil es mir einfach verdammt schwerfiel darüber zu sprechen.
Oder warum ich mich so stark an Harry und Ron geklammert hatte, ganz besonders während der letzten zwei Jahre. Nach allem, was passiert war und was wir zusammen durchgestanden hatten, waren die beiden nämlich das, was einer Familie am nächsten kam. Und auch, wenn wir uns zerstritten hatten und derzeit kein Wort miteinander wechselten, war ich den beiden unendlich dankbar für alles.
Vielleicht würden sie ja doch noch zur Vernunft kommen und Draco eine Chance geben. Jetzt, da sie vielleicht gemerkt hatten, dass sowohl er als auch ich es ernst meinten. Und vielleicht - wobei ich zugeben musste, dass es fast schon unvorstellbar war - konnten wir irgendwann alle beisammensein, ohne, dass der eine dem anderen am liebsten den Kopf abreißen würde.
Mit diesen Gedanken konzentrierte ich mich wieder verstärkt auf Draco, der mich nach wie vor mit seinen Eisaugen musterte und mein Gesicht in seinen Händen hielt, als würde er einen teuren, wertvollen Schatz behüten.
„Tut mir leid, dass ich dich nicht schon früher ins Vertrauen gezogen hab. Es ist nur... es fällt mir unheimlich schwer darüber zu reden, weil... ich will es einfach nicht wahrhaben, dass ich... dass ich sie für immer verloren hab.", murmelte ich schuldbewusst, aber bedeutend leichter ums Herz, denn es war in der Tat eine ziemliche Erleichterung endlich mal ausgiebig mit jemandem darüber gesprochen zu haben. Mit einem, der mich und mein Handeln verstehen konnte. Und von dem ich wusste, dass er mir auch zuhörte und mich unterstützte.
„Dir muss überhaupt nichts leid tun. Okay? Ich kann verstehen, dass du nicht darüber reden wolltest. Es gibt Dinge, über die will, beziehungsweise kann man nicht sprechen. Trotzdem weißt du hoffentlich, dass du mir immer alles erzählen kannst."
Weil ich mich stark zusammenreißen musste, aufgrund seiner liebevollen Fürsorge nicht erneut in Tränen auszubrechen, nickte ich nur stumm, allerdings mit einem dankbaren Lächeln auf den Lippen, welches noch ein wenig breiter wurde, als er mir einen kleinen Kuss darauf hauchte.
„Hast du denn mal mit jemandem über deine Eltern gesprochen? Mit der Weaslette oder... mit Potter?", hakte er vorsichtig nach, den Blick unentwegt und intensiv auf mich gerichtet, worauf ich erneut - allerdings zögerlich und etwas unsicher - nickte.
„Mit Ginny und Harry eher weniger, aber... nach der Schlacht hab ich... mit Ron ab und zu darüber geredet." Ich versuchte es weitestgehend zu ignorieren, dass Draco aufgrund dieser Worte erbost mit den Zähnen knirschte, wusste allerdings, wie ich ihn wieder ein wenig besänftigen konnte.
„Er war aber kein guter Zuhörer und war generell alles andere als einfühlsam und fürsorglich, also... Außerdem hat er einen Bruder verloren und... da wollte ich ihn nicht noch zusätzlich belasten."
„Du hast also mal wieder zurückstecken müssen, obwohl du dir jahrelang den Arsch für ihn und Potter aufgerissen hast?!"
... oder auch nicht.
„Nein, so war das nicht.", winkte ich sofort ab. „Es ist nur... die Weasleys haben so viel für mich getan und... ich war selbst so erschüttert über Freds Tod, dass ich... irgendwie keine Zeit hatte an meine Eltern zu denken. Was absolut dämlich klingt, aber... ich hab es immer wieder verdrängt, weil... ich wollte vergessen und nach vorne blicken. Anfangs hat es auch geklappt, aber... dann hat Ron Schluss gemacht u-und..." Ich brach ab und beobachtete mit eher gemischten Gefühlen, wie Draco abermals mit den Zähnen knirschte.
Dass er darauf nicht allzu gut zu sprechen war, war mir durchaus bewusst, doch er hatte nach der Wahrheit verlangt, also sollte er diese auch bekommen. Immerhin war nicht alles an der Beziehung mit Ron schlecht gewesen und zugegebenermaßen hatte es mir damals auch schmerzlichst den Boden unter den Füßen weggerissen, als er diese beendet hatte.
„Es ist so, dass... also... das mit meinen Eltern ist auch der Grund, warum ich den kompletten Sommer bei den Weasleys verbracht hab. Auch nach der Trennung von Ron. Ich... ich war so enttäuscht von ihm und so verletzt, dass ich... ich wäre am liebsten abgehauen, aber... mir ist nichts anderes übrig geblieben als zu bleiben. Meine Eltern waren schon längst in Australien, hätten mich sowieso nicht wiedererkannt und ich konnte mir keine eigene Wohnung leisten, also... abgesehen von den Weasleys und Harry hatte ich niemanden mehr. I-Ich hab keine Eltern mehr, keine Familie, kein... kein Zuhause, ich-"
„Hey... das stimmt nicht.", unterbrach er ruhig und kopfschüttelnd meinen Redeschwall, als mir wiederholt die Worte im Hals steckenblieben und ich von einem leisen Schluchzen überrascht wurde, das mir kurzzeitig sogar die Luft abschnürte. Ich wollte gerade den Blick von ihm abwenden, den Kopf senken und meinen Tränen ein weiteres Mal freien Lauf lassen, doch er umspannte ganz sachte mein Kinn und drückte es leicht nach oben, um eben dies zu verhindern.
Eindringlich sah er mir in die Augen, als würde er versuchen meine Gedanken zu lesen oder mir etwas einzubläuen. Sein warmer Atem streifte dabei immer wieder meine Lippen, die sich gerade wie verrückt danach sehnten erneut mit seinen zu verschmelzen, damit er mich einfach so lange um den Verstand küsste, bis ich alles Schlechte auf dieser verdammten Welt vergessen würde. Stattdessen legte er seine Stirn ganz vorsichtig an meine und verstärkte den Druck seiner Hände, mit denen er inzwischen wieder mein Gesicht umfasste.
„Ich bin dein Zuhause.", flüsterte er, und das derartig überzeugend und entschlossen, dass ich ihm noch nicht einmal in Gedanken zu widersprechen wagte. Denn es waren diese wenigen, aber so unfassbar rührenden Worte, die mich sprachlos machten. Auf positive Weise.
„Ich weiß, dass ich deine Eltern niemals ersetzen könnte, was ich ja auch gar nicht will, aber... lass mich dein neues Zuhause sein. Dein Rückzugsort, dein Anker, dein... deine Familie. Was auch passiert, ich werde alles dafür tun, dass es dir gut geht und du dich wohlfühlst. Du bist nicht allein, merk dir das bitte. Das warst du nie und das bist du auch jetzt nicht. Okay? Und solange ich an deiner Seite bin, wirst du das auch in Zukunft nicht sein. Das verspreche ich dir."
Während er sprach, sprudelten die Tränen nur so aus mir heraus, wie eine Flasche Mineralwasser, die man erst kräftig schüttelte und dann sofort öffnete, allerdings wurde jede einzelne von ihm aufgefangen und weggewischt, sodass meine Wangen von den erneuten Wassermassen verschont blieben.
Halt suchend krallte ich mich in sein Shirt, so fest, dass sich meine Fingernägel in meine Handfläche bohrten und dort tiefe, halbkreisförmige Abdrücke hinterließen, bevor ich mich nicht mehr länger zurückhalten konnte, die letzte Distanz zwischen uns überbrückte und seinen Mund bestimmend mit meinem verschloss. Ich brauchte das jetzt.
Gierig und nicht allzu sanft bewegte ich meine fordernden Lippen gegen seine, was ihn anfangs ein wenig zu überrumpeln schien, doch dann ließ er sich darauf ein und kam mir seufzend, nicht weniger intensiv entgegen. Dieses einzigartige Gefühl seiner weichen Lippen in Kombination mit seinem Geschmack und seinem vertrauten, lieblichen Duft, machten mich wahnsinnig und sorgten nicht nur dafür, dass mir das Herz fast aus der Brust sprang, sondern auch, dass mein leerer Magen mehrere Saltos und Purzelbäume schlug.
Ich konnte gar nicht genug von ihm kriegen, wollte mich am liebsten nie wieder von ihm lösen, doch dieser liebevolle, leidenschaftliche Kuss war wortwörtlich atemberaubend, weshalb ich mich zu Beherrschung zwang. Draco hatte tagelang im Koma gelegen, da konnte und wollte ich ihn und seinen Körper nicht derartig überrumpeln und stressen, also zog ich mich ganz langsam, nur minimal zurück und löste mich vorsichtig aus dem Kuss.
Meine Augen ließ ich noch einen Moment geschlossen, um dieses Gefühlschaos und meine Atmung ein wenig unter Kontrolle zu bringen, die - genau wie Dracos - etwas hektisch und unregelmäßig war. Auch meine krampfhafte Umklammerung um sein T-Shirt lockerte ich ein wenig, da er mich festhielt, als würde sein Leben davon abhängen, und ich demnach nicht befürchten musste, den Halt oder den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er würde mich immer auffangen und mich niemals loslassen, das wusste ich.
„Ich liebe dich, mein kleiner Bücherwurm.", flüsterte er atemlos gegen meine halb geöffneten Lippen, auf die er mir einen weiteren, kleinen Kuss hauchte, bevor er seine Stirn wieder an meine legte. Meine Reaktion darauf war die Mischung aus einem Schmunzeln und einem ergriffenen Lächeln, mit dem ich nun doch langsam die Augen öffnete und tief in seine blickte.
„Ich liebe dich auch, Draco. Wie verrückt.", erwiderte ich, wobei mir die Worte mal wieder halb im Hals steckenblieben und nur äußerst heiser meinen Mund verließen, ihn aber sichtlich rührten. Das verrieten mir das Funkeln und der leichte Schimmer in diesem wunderschönen, fesselnden Eisgrau, das mich immer mehr in seinen Bann zog und die vielen, kleinen Schmetterlinge in meinem Bauch aufscheuchte. Aus meinen eigenen löste sich eine einzelne, kleine Träne, die meinen Augenwinkel verließ und hauchzart, kaum spürbar über meine Wange rollte, bis Draco sie mir sanft wegküsste.
Wie ein warmer, schützender Mantel legten sich seine Arme um meinen Körper und zogen mich in eine feste, tröstende Umarmung, die meine innere Anspannung und Unruhe derartig lockerte, dass endgültig alle Dämme brachen.
Vollkommen ausgelaugt und fertig mit den Nerven, ließ ich mich gegen ihn sinken, da ich diesem Druck und diesem Schmerz, der mich während der letzten Minuten verfolgt hatte, nicht mehr länger standhalten konnte und am Ende meiner Kräfte war.
Ich wollte nur noch mit meinem Draco kuscheln, seine Nähe genießen und dankbar sein für jede Sekunde, die ich mit ihm verbringen durfte.
Denn er hatte recht; er war von nun an meine Familie. Mein Zuhause.
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