55. | Was ich dir nie erzählt habe (1/2)
Hermines POV
Ich wusste nicht, wie lange ich einfach nur dasaß und versuchte, das, was gerade passiert war, zu verarbeiten, denn ich hatte absolut kein Zeitgefühl mehr und wusste auch überhaupt nicht, was ich dazu noch sagen sollte.
In meinem Hals hatte sich ein Kloß gebildet, der gefühlt die Größe eines Kürbisses hatte und mir schmerzhaft die Luft abschnürte. Ich war vollkommen sprachlos, geschockt, fassungslos, erschüttert. Erst der kleine Streit mit Draco und nun auch noch diese hitzige Diskussion und Auseinandersetzung zwischen Ginny und Zabini. Letzterer saß mir noch immer gegenüber und fasste sich schmerzerfüllt an die Wange, die vor wenigen Augenblicken Bekanntschaft mit Ginnys Handfläche gemacht hatte.
Ich war total überfordert mit der Situation und hatte keine Ahnung, was ich jetzt tun geschweige denn denken sollte, doch nach kurzem Überlegen entschied ich mich letztlich dafür, meiner besten Freundin hinterherzulaufen, um mit ihr zu reden. Danach würde ich das gleiche mit Draco tun.
„Ich rede mit ihr, okay?", wandte ich mich an Zabini, der nach wie vor sichtlich mitgenommen war, auf meine Worte hin jedoch langsam nickte. Ich stand auf, ließ alles stehen und liegen und verließ ebenfalls die große Halle, in der nach wie vor nichts als mein tobendes Herz zu hören war.
Im Korridor angekommen, atmete ich erst einmal tief durch und versuchte, meinen viel zu hohen Puls mittels tiefer Atemzüge zu beruhigen, ehe ich mich - ohne zu wissen, wo ich mit dem Suchen überhaupt anfangen sollte - auf den Weg machte. Ich vermutete, dass sie sich in unser Zimmer zurückgezogen hatte, da sie dort ungestört und alleine sein konnte, weshalb ich mich direkt und schnellen Schrittes dorthin begab, doch zu meinem Entsetzen und meiner Verwunderung war sie nicht dort.
Generell fehlte von ihr jede Spur, was mir große Sorgen bereitete, denn sie war nicht bekannt dafür, vor Problemen wegzulaufen oder sich zu verkriechen. Im Gegenteil, sie ließ sich eigentlich nie kleinkriegen und wollte immer, dass jedes noch so kleine Problem geklärt und aus der Welt geschafft wurde. Irgendetwas musste also vorgefallen sein und Zabinis Worten wegen - die wohl mehr als deutlich waren - malte ich mir bereits die unterschiedlichsten und vor allem verstörendsten Szenarien aus.
Ich fragte mich, was es damit auf sich hatte und was dahintersteckte, war gleichzeitig jedoch unfassbar wütend, weil es mal wieder die ganze Schule mitbekommen hatte und in den nächsten Tagen vermutlich Thema Nummer eins sein würde. Spekulationen darüber, was passiert war, warum Draco und ich uns gezofft hatten, warum Ginny und Zabini sich gestritten hatten, ob zwischen den beiden etwas lief - was Zabinis Worte jedoch bereits beantwortet hatten - und vor allem würden solche dummen Sätze fallen wie 'Ich hab doch gleich gesagt, dass das auf Dauer nicht gutgehen wird'.
Allen voran Harry würde uns derartige Worte mit großer Wahrscheinlichkeit anhand seiner herabschauenden Blicke übermitteln wollen, worauf ich getrost verzichten konnte.
Inzwischen hatte ich die halbe Schule nach ihr abgesucht und jeden möglichen Rückzugsort abgeklappert, doch sie war nirgends aufzufinden und wie vom Erdboden verschluckt. Die Einzigen, denen ich begegnete und über den Weg lief, waren unsere Mitschüler, die nach und nach vom Mittagessen zurückkamen und sich in die Gemeinschaftsräume zurückzogen. Darunter auch Zabini, der abseits von allen anderen ging und mit gesenktem Kopf durch den Gang schlenderte, allem Anschein nach in Gedanken versunken.
Zwar hatte ich mir fest vorgenommen, ihn nicht auf all das anzusprechen, sondern mit Ginny darüber zu reden, doch ich hatte keine andere Wahl und steuerte daher direkt auf den Dunkelhäutigen zu, der mich erst dann entdeckte, als ich neben ihm auftauchte und ihm leicht gegen den Oberarm stieß.
„Hast du kurz Zeit?", begann ich vorsichtig und bemühte mich um einen freundlichen Gesichtsausdruck, sowie ein sanftes Lächeln, das er sichtlich verlegen erwiderte.
„Klar, was gibt's?" „Es geht um Ginny."
Ich konnte nicht sagen, was es war, doch irgendetwas veränderte sich an seiner Miene, als ich diese Worte aussprach. Er wirkte emotionslos und desinteressiert, doch ein Blick in seine Augen verriet mir, dass das genaue Gegenteil der Fall war. Diese strahlten nämlich so etwas wie Besorgnis und Mitgefühl aus und ich wusste absolut nicht, was ich damit anfangen oder davon halten sollte, weshalb ich versuchte, mir meine Verwirrung nicht anmerken zu lassen.
„Was ist mit ihr?", hakte er nach, bemüht darum, möglichst gleichgültig zu wirken, doch das leichte Zittern in seiner Stimme verriet ihn.
„Ich kann sie nicht finden. Ich hab schon alles abgesucht, aber... sie ist nirgends." „Und jetzt?" „Ich dachte, dass du vielleicht eine Idee hast, wo sie sein könnte." „Warum sollte ich das?"
In der Tat eine gute Frage.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Na ja, ich... dachte, dass ihr-" „Dass wir was, hm?! Du hast keine Ahnung, Granger! Okay?! Nicht die geringste!"
Na toll, haben sich heute alle gegen mich verschworen, oder was?!
Er beschleunigte seine Schritte und wollte offenbar an mir vorbeirauschen, doch es gelang mir gerade noch, ihn an seinem Ärmel zu packen und ihn zurückzuhalten.
„Dann erklär's mir! Vielleicht versteh ich es ja dann."
Schnaubend wandte er sich um und blickte mir in die Augen. Seinem Ausdruck nach zu urteilen suchte er nach den passenden Worten und sortierte seine Gedanken, doch wir standen uns eine ganze Weile einfach nur gegenüber, schweigend und ohne den Blickkontakt zum jeweils anderen zu unterbrechen.
Irgendwann wurde ich so ungeduldig und hibbelig, dass ich meine Hände immer wieder zu Fäusten ballte und diese nervös knetete, doch der Dunkelhäutige hatte kein Erbarmen mit mir und schüttelte irgendwann nur noch den Kopf.
„Lass es dir lieber von Ginny erzählen. Ich will nicht schon wieder der Sündenbock sein, der alles ausplappert." Ich wusste nicht, was mich mehr aus dem Konzept brachte. Die Tatsache, dass er sie urplötzlich beim Vornamen nannte, oder dass er unglaublich verletzt und verzweifelt wirkte.
Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, da hatte er sich auch schon ein ganzes Stück von mir distanziert, doch nach ein paar Metern hielt er noch einmal inne, blieb stehen und drehte sich zu mir um. Er nahm einen tiefen Atemzug und fuhr sich verlegen dreinschauend durch die Haare, den Blick unentwegt auf mich gerichtet.
„Warst du schon auf dem Astronomieturm?"
Ich verzog fragend und verwirrt das Gesicht, da ich nicht damit gerechnet hatte, dass er noch einmal auf Ginnys Verschwinden eingehen würde, und verneinte letztlich, indem ich langsam den Kopf schüttelte.
„Die Etage unter der Aussichtsplattform. Der perfekte Ort um ungestört zu sein." „Und du denkst, dass sie da ist?"
Ohne ein weiteres Wort zu sagen oder auf meine Frage zu antworten, sondern nur mit einem wehmütigen Lächeln auf den Lippen, machte er erneut kehrt und verließ den Korridor in Richtung Treppenhaus. Ich sah ihm noch hinterher, war im ersten Moment etwas überrumpelt und wie gelähmt, doch seine Vermutung war meine letzte Hoffnung, Ginny zu finden und mit ihr reden zu können. Wobei es eher so geklungen hatte, als wüsste er ganz genau, wo sie war, doch ich machte mir nicht allzu viele Gedanken darüber und begab mich - nachdem meine Beine ihre Gehfähigkeit zurückerlangt hatten - auf direktem Weg zum Astronomieturm.
Der kühle Wind, der schon seit ein paar Tagen über die Ländereien zog und zusammen mit leichtem Nieselregen ein tristes, herbstliches Ambiente um und in Hogwarts schuf, wehte durch meine lockigen Haare, als ich die Wendeltreppe des Astronomieturms erklomm. Mein Körper war schon beim betreten des Turmes von einer Gänsehaut übersät worden und ich bereute es, mich nicht wärmer angezogen zu haben, denn es war fürchterlich kalt und nass.
Ich war schon seit einer Ewigkeit nicht mehr hier gewesen. Das letzte Mal am Ende des sechsten Schuljahres, kurz nach Dumbledores Tod, als Harry uns mitgeteilt hatte, dass er sich auf die Suche nach den Horkruxen machen würde.
Wie Zabini mir geraten hatte, stieg ich bis zur vorletzten Etage hinauf, welche direkt unter der Aussichtsplattform lag und Harry damals als Versteck gedient hatte, als Draco die Todesser in die Schule geschleust und Snape Dumbledore getötet hatte.
Ich bemühte mich darum, möglichst leise zu sein und schlich regelrecht die vielen Stufen hinauf, da ich um jeden Preis verhindern wollte, dass sie - für den Fall, dass sie wirklich dort oben war - verschwinden würde, wenn sie Schritte hörte.
Nicht verhindern konnte ich allerdings dieses ohrenbetäubende Geräusch, das ertönte, als mir ein tonnenschwerer Stein vom Herzen fiel, der auf den Boden krachte, zerschellte und vermutlich die ganze Welt aufweckte. Und zwar in dem Moment, in dem ich sie tatsächlich und nur ein paar Meter von der Treppe entfernt erblickte.
Sie saß zusammengekauert auf dem Boden, hatte sich mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt und die Arme um ihre Beine geschlungen, die sie angewinkelt hatte, um ihren Kopf darauf abzulegen. Ihr leises Schluchzen war neben meinem tobenden Herz und dem pfeifenden Wind das einzige, das zu hören war, und sorgte dafür, dass sich ihre Schultern, die von ihren langen, roten Haaren bedeckt waren, unregelmäßig und hektisch hoben und senkten.
Ich näherte mich ihr langsamen Schrittes und ließ sie dabei keine Sekunde aus den Augen, übersah dabei jedoch ein kleines Steinchen, das daraufhin über den Fußboden schlitterte und Ginny erschrocken hochschrecken ließ. Ihr leichenblasses Gesicht schnellte wie vom Blitz getroffen in meine Richtung, während sie keuchend nach Luft japste und ihrer Kehle ein erstickter Laut entwich, weshalb ich reflexartig und abwehrend die Hände nach oben hielt, um ihr zu zeigen, dass ich ihr nichts tun wollte.
Unsere Blicke verhakten sich für ein paar Sekunden ineinander, bis sie offenbar erst registrierte, wer zu ihr gekommen war, und diese Erkenntnis ließ sie sichtlich erleichtert durchatmen. Ein Hauch von Wehmut blieb ihrem Gesichtsausdruck jedoch erhalten.
„Scheiße, was... was tust du denn hier?", wollte sie wissen und wischte sich mit ihrem Handrücken die letzten Tränen von den Wangen. Ich schloss zu ihr auf und blieb dicht vor ihr stehen, ehe ich mich vor sie hinkniete und meine rechte Hand auf ihr angewinkeltes Knie legte.
„Ich hab dich überall gesucht. Ich bin dir nachgelaufen und wollte mit dir reden, aber... du warst wie vom Erdboden verschluckt.", antwortete ich wahrheitsgemäß und schenkte ihr ein sanftes Lächeln, welches jedoch kaum Wirkung zeigte, denn sie senkte beschämt das Haupt und schielte zu Boden.
„Ich wollte etwas alleine sein. Nachdenken und so."
Hallo Schuldgefühle.
„Das versteh ich natürlich. Ich kann auch wieder gehen, wenn du willst, aber... ich hab mir einfach nur Sorgen gemacht, weil... na ja... die Auseinandersetzung mit Zabini war ja-"
„Wie hast du mich gefunden?", fiel sie mir ins Wort und umging somit geschickt jenes Thema, doch ich musste sie wohl oder übel enttäuschen.
„Zabini. Er hat mir den Tipp gegeben."
Sichtlich verwundert über meine Antwort, hob sie ihren Kopf und sah mir wieder direkt in die Augen, dieses Mal hatten ihre Wangen jedoch einen leichten Rotton angenommen. Ich musste mir ein Schmunzeln unterdrücken und bildete mir ein, ihren Herzschlag hören zu können, denn die Nervosität war ihr förmlich ins Gesicht geschrieben.
„Was hat er dir denn sonst noch erzählt?"
„Nichts. Er meinte, dass ich es mir lieber von Ginny erzählen lassen sollte." Ich betonte bewusst ihren Vornamen und ließ es mir nicht nehmen, ein breites Grinsen aufzusetzen, mit dem ich sie abwartend musterte und beobachtete, wie sich nun auch der Rest ihres Gesichts rot färbte. Dieses bedeckte sie jedoch nur wenig später mit ihren Händen, in die sie frustriert und merklich bedrückt seufzte.
Natürlich wollte ich sie keineswegs überrumpeln oder sie zum Reden zwingen, doch sie tat das, was sie seit Neuestem super gut konnte. Schweigen. Und zwar nicht nur ein paar Sekunden, oh nein, sondern mehrere Minuten, die sich wie etliche Stunden anfühlten und mich immer ungeduldiger werden ließen.
„Du wirst mich hassen.", kam es ihr eine ganze Weile später dann doch irgendwann über die Lippen, doch dieser Satz war dermaßen dämlich, dass mir der Geduldsfaden endgültig riss und ich mich nicht mehr länger zurückhalten konnte.
„Was redest du denn da? Ich könnte dich niemals hassen, Ginny. Und du weißt hoffentlich, dass du mir alles erzählen kannst. Egal, wie schlimm es ist."
„Ich kann nicht." „Warum denn nicht? Was kann denn so schlimm sein, dass du es deiner besten Freundin nicht erzählen kannst? Ich meine... Zabini hat mit seiner Aussage ja sowieso schon den Großteil verraten und... na ja... schlimmer kann es doch schon gar nicht mehr werden."
Wow, toll gemacht, Hermine! Du bist ja wirklich eine riesengroße Hilfe.
„Also nein, das... verdammt, so... war das nicht gemeint, ich... es ist nur...", versuchte ich, mich herauszureden und die richtigen Worte zu finden, doch als ich merkte, dass mir das partout nicht gelingen wollte, atmete ich ein letztes Mal tief durch, ehe ich ihr - natürlich nur metaphorisch gesehen - das Messer an die Kehle setzte.
„Stimmt das denn? Dass du... mit ihm geschlafen hast?"
Merlin, seit wann bin ich eigentlich so unsensibel?!
Sie gab keinen Mucks von sich, bewegte sich keinen Millimeter und machte generell nicht den Anschein, sich in naher Zukunft zu Wort zu melden oder auf meine Frage einzugehen, weshalb ich nach ihren Händen griff, um diese von ihrem Gesicht zu lösen. Vorsichtig, so, als könnte sie unter meiner Berührung zerbrechen, strich ich über ihre Wangen, auf denen sich ein leichter Film aus Tränen gebildet hatte.
Ich sah ihr eindringlich in die Augen, bemühte mich um einen liebevollen Ausdruck und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, um ihr zu zeigen, dass sie mir vertrauen und alles erzählen konnte.
Was ihr mit der Zeit offenbar auch bewusst wurde, denn nachdem wir uns eine ganze Weile einfach nur in die Augen geschaut hatten, sprang sie letzten Endes doch über ihren Schatten und bejahte meine zuvor gestellte Frage, indem sie ganz langsam und in Zeitlupentempo mit dem Kopf nickte.
Diese Geste ließ mich - wie schon in der großen Halle - vom Glauben abfallen, denn mein bisheriges Weltbild wurde mal wieder komplett auf den Kopf gestellt.
Ginny und Zabini ?!
>>>
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro