Lonesome Town
'There's a place where lovers go, to cry their troubles away...'
"Mach das Lied aus, das macht mich immer so depri!", rief ich Frisbee lachend zu. Sie warf einen Blick hinter sich, wodurch ihre dünnen Haare aufgeschüttelt wurden. Dann drehte sie die Lautstärke hoch. Absichtlich natürlich. Sowie es beste Freundinnen eben machen. "Mich aber nicht! Mich erinnert es daran, wie glücklich ich sein kann, nicht so ein Lied schreiben zu müssen!", schrie sie jetzt über die ohrenbetäubenden Schallwellen hinweg. "Ahja.", ich beugte mich über sie zu der Musikbox, die ich ihr zum Geburtstag letztes Jahr geschenkt hatte, und drückte den Off-Button, wodurch die Musik augenblicklich verstummte. Frisbee begann lauthals zu lachen. Sie fand es sehr lustig, wie empfindlich ich bei "falscher" Musik sein konnte. "Was? Ich habe eben Synästhesie!", erwiderte ich gespielt sauer auf ihr amüsiertes Gesicht. "Ist schon klar.", sie wurde ruhig. Wir sahen uns in die Augen. Das taten wir oft, einfach so. Uns war nicht klar, dass es das letzte Mal sein würde. Manchmal reißt das Leben uns einfach so auf eine andere Schiene. So wie ein Zug im Sturm von den Gleisen kommt. Es war ein Freitag nach der Schule, als ich Frisbee das letzte Mal sah. Wir gingen zu ihr nach Hause, hörten Musik und als meine Mutter mich zum Abendessen zitierte, fuhr ich mit dem Rad wieder zu mir. So wie beinahe jeden Tag. Wir hatten das Glück so nah beieinander zu wohnen. Aber was bringt dieselbe Straße einem, wenn man auf verschiedenen Gleisen fährt? Ich irgendwo ins nirgendwo und sie, sie nach Lonesome Town. Das wusste ich einfach. Es war ihre Vorstellung vom Tod.
Frisbee hatte den Namen deshalb bekommen, weil ihre Mutter während ihrer Schwangerschaft fast von einem Frisbee am Bauch getroffen wurde. Diese Geschichte erzählte sie jedem, egal ob diese Person gefragt hatte oder nicht. Frisbee war der passendste Name für sie. Sie war genauso planlos wie ein Frisbee, wenn er durch die Luft geworfen wird, trotzdem zauberte sie so ziemlich allen fast immer ein Lächeln auf das Gesicht. Manchmal wird aber auch ein Frisbee kaputt gefahren, wenn er von einem auf die Straße geworfen wird. Dann kann man ihn nicht mehr werfen. Dann ist er einfach nutzlos.
Auf ihrer Beerdigung sagte ich genau das. Die Zeitung unseres kleinen Ortes war sogar erschienen. Der Tod einer 15-jährigen schien wohl doch ziemlich viele zu interessieren. Logischerweise fanden so ziemlich alle geladenen Menschen diesen Vergleich sehr geschmacklos. Aber ich fand ihn perfekt. Es war eben die Wahrheit. Ich wollte nichts beschönigen. Frisbee hätte es genauso gesagt. Nach diesem Tag hatten mich viele gefragt, wie es mir geht. Ich sagte immer dasselbe mit einem müden Lächeln. "Es geht schon, ist ok", aber eigentlich war das nicht so. Es war nichts ok und es ging auch nichts mehr. Gar nichts mehr. Manchmal gab ich sogar vor so vielen vor, alles wäre ok, dass ich es selbst begann zu glauben. Aber dann saß ich wieder da und im Radio wurde "Lonesome Town" gespielt und alle Bilder waren auf einmal wieder zurück. Von diesem einen Tag. "Sie ist Dir hinterhergerannt, um Dein vergessenes Ladekabel zu bringen. Und dann kam dieser Geisterfahrer. Sie konnte ihn nicht sehen", hatte mir meine Mutter mit von Tränen belegter Stimme versucht zu erklären, als sie die Nachricht erhielt. Wäre ich einfach früher gegangen, ohne Stress hätte ich es nicht vergessen. Ich war Schuld daran. Irgendwie. Auch wenn ich es nicht wissen konnte.
Machmal ist das alles ziemlich ungerecht. Manchmal denke ich, dass Frisbee das Lied "Lonesome Town" nicht mögen würde, hätte sie gewusst, wie schnell sie eine der Lovers sein würde. Vielleicht wäre es ja unser Lieblingssong geworden. Ein Song, der unsere Freundschaft festigen sollte. Unsere Blicke bändigen und unsere Hände vereinen. Aber es war der letzte Song, den ich mit ihr hörte. Irgendwie mochte ich ihn. Es war ein angenehmer Schmerz. Voll mit Trauer, aber auch mit Liebe und Hoffnung, Hoffnung, dass sie vielleicht irgendwann, irgendwie wieder nach Hause kommen würde.
Jetzt stehe ich hier. Vor ihrem Grab. Ich höre das Lied. Ich habe es lieben gelernt, auf irgendeine merkwürdige Weise. Ach, Ricky Nelson, wo ist denn nur 'Lonesome Town, where the broken hearts stay'?
Maybe down in Lonesome Town, I can learn to forget...
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