Kapitel 3
Dienstag | 15.02. | 15:00 Uhr
»Wäre es nicht besser gewesen, wenn wir uns vor der Schule getroffen hätten?«, fragte ich.
»Ich dachte, man darf nicht auf dem Schulgelände sein, wenn kein Unterricht stattfindet«, erwiderte James.
»Wir reden immer aneinander vorbei«, meinte ich genervt. »Ich meinte eigentlich, dass es doch praktischer gewesen wäre, wenn wir uns vor den Unterrichtsstunden getroffen hätten. Um sechs Uhr in der Früh.«
»Um wie viel Uhr stehst du auf?«
»Kommt darauf an, welcher Tag es ist. Meistens um vier Uhr, aber hin und wieder auch erst eine Stunde später.«
Ich war gerade bei der Adresse angekommen, die James mir gegeben hatte fürs Treffen. Es war nicht meine Idee gewesen, dieses wirklich stattfinden zu lassen, doch Amandas Enthusiasmus war zu stark gewesen, weshalb ich mir das Lernen mit James antat, auch wenn ich selbst Besseres zu tun gehabt hätte.
Meine Begeisterung fürs Treffen war nicht vorhanden, trotzdem musste ich zugeben, dass James in einem außerordentlich schönem Haus wohnte. Es war modern und aufgeräumt, hatte einen Garten mit einem Schwimmbecken, einem bezaubernden Springbrunnen und einem durchaus schönen Beet.
Die ersten 20 Minuten waren vergangen, und in denen war nicht viel passiert, was mir jedoch bereits auffiel, war, dass James nicht mehr kalt oder desinteressiert wirke, sondern sogar ein wenig offen, was mich verwirrte, da ich nicht erwartete, dass er auch eine etwas weichere Seite besaß.
»Du stehst zu Zeiten auf, bei denen ich schlafen gehe.«
Ich wusste, dass er es nicht böse meinte, aber es kam mir trotzdem so vor, als wäre es etwas komplett Abnormales. Vielleicht war es das auch.
Ich war das sensible Mädchen, dass es schon traurig machte, wenn jemand sie für anders hielt, weil sie einfach nur dazu gehören und nicht anders sein wollte. Keiner war so eigenartig wie ich. Niemand in meinem Alter würde sich diese Routinen angewöhnen. Niemand würde über einen nicht bösgemeinten Kommentar tagelang nachdenken. Niemand machte sich solch einen Druck, wie ich ihn mir machte.
Und niemand hasste mich so sehr, wie ich mich selbst hasste.
»Was machst du um diese Uhrzeit?«
»Das kommt auf meine Laune an. Manchmal ein wenig Krafttraining, andere Male gehe ich Laufen, hin und wieder lerne ich oder lese ein Buch.«
»Du bist verrückt«, meinte er lachend.
Wieder ein Stich ins Herz wegen eines harmlosen Satzes, weil ich das Gefühl hatte, dass verrückt sein, augenblicklich schlecht war.
Mittlerweile akzeptierte ich es sogar, dass ich eine schwache Person war, weil mich die einfachsten Worte bereits verletzten.
Es war nervig, dass ich auf jedes kleinste Detail achtete.
Wenn eine Person mich nur kurz anschaute, dachte ich darüber nach, ob irgendetwas falsch war. Wenn jemand mit mir sprach, dann analysierte ich im Nachhinein, ob irgendetwas Negativ gemeint war. Bei jeder sozialen Interaktion hatte ich das Gefühl, dass sie schlussendlich schiefgehen würde.
Was ist falsch mit dir? Wieso bin ich so?
Niemand aus meiner Klasse meinte es böse und trotzdem interpretierte ich vieles ins Negative.Es kam mir so vor, als würde mich jeder hassen, für die Person, die ich war.
Das Gefühl gehasst zu werden, war für mich eines der schlimmsten, auch wenn ich die Person, die mich nicht mochte, nicht leiden konnte. Ich versuchte, immer alles perfekt zu machen. Ich versuchte, jedem zu helfen. Ich versuchte, den perfekten Körper zu haben. Die perfekte Schülerin zu sein. Die perfekte Tochter.
Ich versuchte, der perfekte Mensch zu sein.
Und genau deshalb schmerzte es so sehr, wenn mich jemand nicht akzeptierte, auch wenn ich mein Bestes gab.
Bevor ich weiter nachdenken konnte, spürte ich plötzlich, wie eine Hand meine Wange berührte, woraufhin ich leicht zusammenzuckte.
»Entschuldigung«, meinte James mit sanfter Stimme. »Ich dachte nicht, dass es dich verletzen würde, wenn ich lache. Es war nicht böse gemeint. Ich mag dich wirklich.«
Bei seinen Worten realisierte ich erst, dass ich weinte, weshalb ich mich etwas beschämt umdrehte, um ihm nicht mehr direkt ins Gesicht schauen zu müssen.
Wieso fällt es mir bei ihm so schwer, meine Gefühle zu unterdrücken?
Ich konnte nicht viel Zeit damit verschwenden nachzudenken, denn bevor meine Gedanken weiterschweiften, spürte ich, wie James mir von hinten immer näherkam und seine Hände sanft auf meinen Armen platzierte.
Jeder normale Mensch hätte es genossen, jemandem so nah zu sein, wenn er sonst nur wenig Kontakt zu anderen hatte, aber mir machte es wirklich zu schaffen, nicht auf der Stelle durchzudrehen. Ich war sämtliche Zärte und Zuneigung nicht gewohnt, was dazu führte, dass sich direkt mein gesamter Körper verkrampfte.
»Darf ich dich umarmen?«, fragte er.
»Ja«, erwiderte ich zögernd.
Mit dieser Antwort fand er die Bestätigung, die er suchte, und schlang seine Arme komplett um meinen Körper. Für die ersten Sekunden waren die Berührungen unangenehm und führten dazu, dass ich mich noch mehr verkrampfte, aber nach einer Weile ließ die Angst nach, weshalb ich die Intimität ein wenig auskosten konnte.
Es gab noch nie jemanden, der nach Nähe in irgendeiner Form suchte. Weder meine Eltern noch meine nie vorhandenen Freunde. Und das machte mich in gewisser Weise auch traurig. Andere in meinem Alter hatten richtigen Sex und ich wurde das erste Mal von jemandem in den Armen gehalten.
»Eigenartig, dass ich noch nie umarmt wurde.«
»Es ist eher traurig als eigenartig«, erwiderte James.
Es überraschte mich, dass er verwirrt, und nicht angeekelt, wirkte, denn eigentlich hatte ich ihn für eine Person gehalten, die es solche Kenntnisse abartig fand, doch das war nicht der Fall.
»Hattest du schon deinen ersten Kuss, James?«
»Ja.«
»Und dein erstes Mal wahrscheinlich auch.«
Er zögerte kurz. »Ja.«
Für einen Moment sagte keiner von uns etwas, wodurch es unangenehmer wurde.
Die Stille machte es leichter, zu viel nachzudenken.
Ich dachte darüber nach, was wohl in James' Gedanken los war und ob er über mich grübelte. Nach diesen Fragen musste ihm bewusst sein, dass ich noch ein Unschuldslamm war, und das würde er mit Sicherheit eigenartig finden. Wer war mit 16 noch ungeküsst? Noch Jungfrau?
Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht zu meinen Mitschülern:innen passte aufgrund solcher Tatsachen. Es kam mir so vor, als wäre ich die Einzige, die so etwas betrifft. Als wäre ich allein damit. Vor allem kam es mir so vor, als wäre es schlimm, dass ich anders war in so vielen Bereichen. Ich passte nicht in diese Norm, die jeder mochte, denn ich war einfach anders. Und das hasste ich an mir.
»Was ist mit dir, Prinzessin?«, fragte James. »Hatte schon jemand die Ehre, dich zu küssen oder ähnliches?«
Ich seufzte leise. Wieso bin ich so?
»Nein«, antwortete ich flüsternd.
»Du sagst das so, als wäre es das abartigste der Welt.«
»Ist es das nicht?«, fragte ich. »Bin ich nicht abartig?«
Nachdem ich das äußerte, ließ mich James los, woraufhin ich mich etwas verwirrt zu ihm dreht.
»Nein, du bist nicht abartig, Madison«, meinte James. »Mag sein, dass es andere gibt in unserem Alter, die mehr Erfahrungen auf diesem Gebiet haben, aber das heißt noch lange nicht, dass es abartig ist, nichts damit zu tun gehabt zu haben. Es spielt keine Rolle, in welchem Alter es passiert, das einzig Wichtige ist, dass du dich dazu bereit fühlst und es auch wirklich möchtest. Ich wette, die meisten in unserem Alter hatten es noch nicht und sind sowas von unschuldig. Ich meine es ernst. Die labern alle nur.«
Ich schaute lächelnd zu Boden. Er war wirklich gut darin, ernste Themen mit Humor zu erklären.
Bevor er weitersprach, hob er mit seiner Hand mein Kinn an.
Es war das erste Mal, dass ich ihm in seine Augen schaute.
In diese braunen, nahezu schwarzen Augen, die mich an den dunklen, tiefen Ozean erinnerten. Es war das erste Mal, dass ich mich in ihnen wiederfand. Ich konnte erkennen, dass es ihm schwerfiel, mit dem umzugehen, was er durchmachen musste, auch wenn ich nicht einmal wusste, was in seinem Leben geschehen war. Aber ich hatte schon immer ein Gefühl dafür.
»Du bist perfekt, wie du bist, Madison. Es ist egal, ob dich unsere Mitmenschen aus unserer Klasse mögen oder nicht mögen. Das spielt keine Rolle. Wenn sie deine Art nicht leiden können, dann ist das so. Wenn es jemand komisch findet, dass du noch keine sexuellen Erfahrungen gemacht hast, dann ist es ebenso einfach so. Nur weil andere dich für etwas verurteilen, heißt es noch lange nicht, dass es wirklich etwas Schlechtes ist. Ich finde es großartig, dass du dir Zeit lässt. Das ist völlig normal und auch gut so. Lass dir von niemandem einreden, dass du es nicht wert bist, denn du bist es, Madison.«
»Danke.«
Mehr erwiderte ich nicht.
Mehr schaffte ich nicht zu erwidern.
Bevor mein Gegenüber etwas sagen konnte, hörte ich eine fremde Stimme, die Jamie schrie, woraufhin der Angesprochen rief: »Hör auf mich Jamie zu nennen!«
Nach diesen Worten nahm mein Schulkollege mich an der Hand und führte mich zum Eingang, bei dem ich einen Mann entdeckte. Der Fremde war so groß wie James, hatte ebenso braune Haare, dieselben Augen wie er, und trug einen Anzug.
»Ich konnte heute früher Schluss machen«, erklärte der Unbekannte. »Ich wusste gar nicht, dass du Besuch hast – noch dazu so hübschen.«
James schien genervt zu sein und meinte nur: »Mir war nicht bewusst, dass du kommen würdest, sonst hätte ich sie nicht eingeladen.«
»Komm schon, versuch wenigstens freundlich zu sein, James.«
Die Stimmung war gewaltig gekippt, denn die Zwei schienen sich nicht wirklich gut zu vertragen.
»Madison, das ist mein Erzeuger-«
»Du könntest mich Vater nennen, wenn andere-«
»Wenn es unbedingt sein muss«, meinte James. »Ich habe echt keinen Bock mehr auf die ganze Scheiße.«
Die Situation wurde immer unangenehmer. Ich spielte nervös mit den Fingern, während mein Puls stieg und meine Atmung unruhiger wurde.
»Soll ich gehen, James?«, fragte ich schüchtern.
Doch bevor der Angesprochene mir antworten konnte, sprach sein Vater: »Nein, du kannst gerne noch bleiben. Ich wollte sowieso noch etwas machen und zwischen mir und meinem Sohn ist es derzeit schwierig.«
Ich warf einen kurzen Blick zu James, welcher nur genervt von dem gesamten Gespräch wirkte und nichts sagte, was mich noch weniger wissen ließ, was ich erwidern sollte.
»Ich heiße Henry«, unterbrach der Mann die Stille. »Kennen wir uns?«
»Wahrscheinlich kennen Sie meine Eltern. Brianna und Matthias Baker.«
»Daher kenne ich dich«, erwiderte Henry. »Großartig, dass ihr beiden euch kennengelernt habt.«
Und schon wieder entstand diese Stille.
»Kommt deine Mutter auch noch?«, wendete ich mich nun an James.
»Nein«, erwiderte er.
»Dazu seid ihr also noch nicht gekommen. Du solltest-«
»Lass es sein.«
Diesmal schien Henry seine Worte ernst zu nehmen, denn er ließ das Thema fallen und meinte: »Ich würde mich jetzt noch mit etwas beschäftigen. Schön, dass wir aufeinandergetroffen sind.«
Mit diesen Worten ging Henry die Treppen hoch.
»Wollen wir beginnen zu lernen?«, fragte James, als der eben angekommene Mann außer Sicht- und Hörweite war.
»Gerne.«
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»Ich sollte nachhause gehen«, meinte ich, als wir mit dem Lernen fertig waren.
»Wieso? Es ist doch erst 19 Uhr.«
»Ich...ähm-«
Auch wenn ich mittlerweile wusste, dass James mich für nichts verurteilte, fürchtete ich mich davor, ihm zu gestehen, dass ich normalerweise sehr früh schlafen ging. Ich würde eine Weile nachhause brauchen, meine Routine durchgehen, die sicherlich eine Stunde in Beschlag nahm, und dann um 20 Uhr schlafen gehen. Dadurch, dass ich jeden Tag so früh schlafen ging, wurde ich früh müde, weshalb ich gähnen musste, bevor ich antworten konnte.
»Bist du schon müde?«, fragte James lächelnd.
»Wäre das schlimm?«
Meine Sorgen waren völlig unnötig, denn sein Lächeln wurde nur noch größer, was wirklich niedlich war. Im Allgemeinen konnte man sagen, dass er sehr süß zu mir war, auch als wir gelernt hatten, obwohl er die meiste Zeit die Aufgaben nicht verstand.
»Du bist bezaubernd, Madison«, meinte James. »Ich fahr dich nachhause.«
»Das ist echt lieb von dir, aber du musst das wirklich nicht tun.«
»Ich mache es gerne.«
Ich versuchte es ihm nicht auszureden, ließ mich von ihm nachhause bringen und verabschiedete mich dann. Nachdem ich meine Schulmaterialien für den nächsten Tag vorbereitet, meine Wohnung etwas sortiert und ein Buch weitergelesen hatte, legte ich mich ins Bett und dachte ein wenig nach.
Mein gesamtes Leben lang konnte ich nicht vor anderen weinen, tat immer so, als wäre ich glücklich und lehnte jede Art von Zuneigung ab. Auch wenn jemand etwas Positives zu mir sagte, mir Zuspruch gab, schenkte ich diesen Worten keinen Glauben, aber bei James war es anders – und das nervte mich in gewisser Weise, weil es mir zu klischeehaft vorkam, doch änderte leider nichts daran. Bei ihm fiel es mir leichter mich zu öffnen, und das, obwohl ich ihn nicht einmal kannte. Es kam mir so vor, als könnte ich ihm vertrauen, weil er ähnliches durchlebte.
Ich hatte das Gefühl, dass er Erfahrungen gemacht hatte mit mehreren meiner Probleme und zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich mit jemanden sprechen, doch ein Problem gab es. Er stand einer Person nahe, die alles verkomplizierte.
Viktor hatte mein Leben zerstört.
Und das machte eine Freundschaft zu James unmöglich.
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»Wir müssen los«, rief meine Mutter.
Mittlerweile war es Freitag und ich musste zugeben, dass die Zeit schneller verging als ich dachte. Ausnahmsweise war meine Mutter, die von mir erfahren hatte, dass ich zu einer Party wollte, mich besuchen gekommen. Die meisten Jugendlichen in meinem Alter gingen gerne zu Partys, was deren Eltern mit Sicherheit nicht sonderlich unterstützten, doch meinen Vater interessierte es gar nicht und meine Mutter mochte es, wenn ich Zeit mit anderen verbrachte. Ich hatte die Eltern, die wahrscheinlich jeder gerne haben würde – nur ich nicht.
Was mir noch weniger gefiel, war, dass meine Mutter darauf beharrte, dass ich ein Kleid trug, weshalb wir auf den Weg zu ihrem Lieblingsdesigner waren. Ginge es nach mir, hätte ich einfach einen Hoodie und eine Jeans getragen, wenn eine Party überhaupt nötig war.
Zuhause betrachtete ich das Kleid, das wir ausgesucht hatten, da ich mir nicht sicher war, ob ich es wirklich tragen konnte. Klar, im Gegensatz zu den anderen Mädchen würde ich sicher harmlos aussehen, aber wohl fühlen tat ich mich in dem engen, schwarzen Kleid, auch wenn es lange Ärmel hatte und nicht einmal kurz war, ebenso nicht. Es war nicht einmal auffällig und trotzdem wollte ich es nicht tragen.
Das Letzte, das ich gebrauchen konnte, waren irgendwelche Leute, die mir erklären würden, dass ich mich nicht traute, etwas freizügigere Kleidung zu tragen.
Aber die Party würde ohnehin ein Desaster werden.
Wieso auch noch Sorgen machen um das Aussehen, wenn sowieso alles schiefgehen würden?
***LESEPROBE***
Verbesserungsvorschläge? Meinung?
Eure Larisa
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