Kapitel 1
Samstag | 19.02. | 23:01 Uhr
»Manchmal kommt es vor, dass das, was dich am glücklichsten macht, auch gleichzeitig das ist...«
»Was dich am meisten zerstört«, beendete er meinen Satz.
Ich hatte so lange darauf gewartet, dass eine Person kam, die mir das Gefühl vermitteln konnte, verstanden zu werden, und jetzt, wo ich diese kennenlernte, merkte ich, dass ich nicht allein mit meinen Problemen war, denn er schien ähnliches durchgemacht zu haben.
»Wieso genau ich?«, fragte ich ihn. Ich hätte niemals gedacht, dass ich eine solch klischeehafte Frage stellen würde.
Dieser Junge wirkte wie ein Idiot. Vielleicht bildete ich mir es zu Beginn auch nur ein, weil ich ihn beneidete, um seine Beliebtheit. Er war der Neue und wurde mehr in unserer Klasse integriert als ich, und auch wenn ich ihn deshalb nicht leiden konnte, musste ich zugeben, dass ich ihn immer mehr in mein Herz schloss, seitdem ich seine persönlichere Seite zu Gesicht bekam.
»Vielleicht wirkt es so, als würde ich immer offen für alles und jeden sein, aber eigentlich gehöre ich nicht zu diesen Personen, die gerne enge Bindungen aufbauen«, war seine Antwort.
»Aber mit mir willst du dich direkt anfreunden?«
»Madison, ich mag dich«, erwiderte er. »Du bist anders.«
Ich lachte, weil ich zuerst dachte, er meinte es nur als Witz, aber als er mir mehrmals erklärte, es sei ernstgemeint, brachte er mich schließlich zum Schweigen.
»Ich kann dir nicht erklären, was es ist, aber ich habe das Gefühl, dass wir ähnliches durchmachen müssen. Mag sein, dass du dein Unglücklichsein versuchst zu verstecken, aber ich kann sehen, dass du nicht glücklich bist. Du bist das Mädchen, dass immer nebenbeistehen muss. Jedem hilft, versucht zu lächeln, obwohl es innerlich am liebsten weinen möchte. Du verstellst dich, weil du Angst davor hast, stark verletzt zu werden, und manchmal ist das in Ordnung, aber es wird dich auf Dauer nicht glücklich machen. Ich weiß nicht, was in deinem Leben passiert ist, aber ich möchte, dir dabei helfen, es besser zu verarbeiten.«
»Das hört sich beinahe so an, als würdest du das perfekte Leben ohne Probleme führen und hättest nichts Besseres zu tun, als einem verzweifelten Mädchen zu helfen«, erwiderte ich.
Die gesamte Situation war surreal. Ich kannte diesen Jungen nicht und führte trotzdem dieses Gespräch mit ihm.
»Bist du glücklich?«, fragte ich.
»Soll ich ehrlich sein? Nein. Nein, ich bin nicht glücklich.«
»Und trotzdem würdest du es niemals zu lassen, dass ich dir helfe?«
»Weil du selbst Probleme hast und sonst immer den Job übernehmen musst, andere zu unterstützen. Indem du dir helfen lässt von mir, kannst du mir einen großen Gefallen tun. Du musst dich mir gegenüber nicht öffnen. Ich möchte dir nur die Möglichkeit dazu geben. Vielleicht kannst du deine Ängste überwinden. Vielleicht auch nicht. Aber wenn wir es versuchen wollen, musst du mir vertrauen. Du musst mit jemand anderes über deine Gefühle sprechen. Es wird dir nicht besser gehen, wenn wir uns ausschließlich mit bedingungslosen Sachen beschäftigen, deswegen musst du mir vertrauen. Das ist schwer. Mir fällt es auch schwer, und das ist in Ordnung. Ängste sind in Ordnung.«
Es gab selten Worte, die mich so sehr berührten wie seine, aber ich wollte ihm das nicht zeigen. Ich kannte ihn kaum, also benahm ich mich so wie immer. Ich war die normale Madison, die niemandem ihre Gefühle zeigte, gleichgültig welche es waren und trotzdem sehnte ich mich danach mit jemanden darüber zu sprechen – auch wenn er es sein würde.
»Die Situation ist eigenartig, oder?«, murmelte er vor sich hin.
»Was ist denn so eigenartig? Dass wir gemeinsam in einem Badezimmer eingesperrt sind und in einer Badewanne liegen oder dass ich gerade halbbetrunken darüber nachdenke, dir mein größtes Geheimnis zu gestehen?«, fragte ich.
Er lächelte.
Sein gesamtes Gesicht strahlte Ehrlichkeit aus. Es war eines dieser Lächeln, die er normalerweise niemandem schenkte. Er war anders und das verwirrte mich. Er hörte mir zu, versuchte mir zu helfen und allein das ließ alle Alarmglocken in meinem Kopf zu läuten beginnen.
»Beides. Du kannst über mein Angebot nachdenken. So etwas zu entscheiden, braucht Zeit und einen klaren Kopf – und du solltest nüchtern sein. Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich für dich da bin. Egal was passiert. Ich bin jederzeit da. Du kannst mit mir über deine Probleme sprechen, vielleicht auch nur darüberschreiben, wenn es dir schwerfällt auszusprechen. Vielleicht brauchst du manchmal auch nur eine Person, die dich einmal ganz fest im Arm hält und nichts sagt, dann ist das ebenso in Ordnung. Ich bin auf deiner Seite, Prinzessin.«
»Danke.«
Ich konnte nicht mehr als Danke sagen, aber ihn schien das nicht zu stören. Es war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, dass mir jemand wirklich helfen wollte, und das machte mir unbeschreibliche Angst.
»Ich mag dich, Prinzessin.«
»Du kennst mich gar nicht«, erwiderte ich.
»Das würde ich aber gerne.«
Jahrelang hatte ich bei mir die Fehler gesucht, um zu begründen, wieso mich jeder hasste, fand aber nie welche. Es wollte sich nie jemand mit mir anfreunden. Keiner sprach mit mir, geschweige denn half mir mit meinen Problemen.
Aber er war anders.
Als mir bewusstwurde, wie gebrochen ich war und wie stark sich alles änderte, seitdem er da war, denn er schenkte mir das Gefühl von Sicherheit, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er zeigte mir, wie es sich anfühlte, nicht allein zu sein und das war einerseits etwas unglaublich Wertvolles.
Andererseits machte es mir Angst.
Angst.
Etwas, das ich zu jedem Zeitpunkt fühlte und dies bei jeder Entscheidung, die ich traf. Ich wollte keine engeren Bindungen in meinem Leben aufbauen, weshalb ich meine damaligen Freunde von mir stieß bis ich keine mehr hatte – aus Angst. Weil ich Angst davor hatte, verlassen zu werden. Vergessen zu werden. Verletzt zu werden.
Von einer Sekunde zur anderen kam es mir wieder so vor, als würde ich keine Luft bekommen. Ich wollte schreien vor Schmerz und bekam kein Wort aus meinem Mund. Mein gesamter Körper begann zu zittern, während auch die Tränen weiterflossen. Ich versuchte dieses Gefühlschaos zu unterdrücken, zumindest so stark zu unterdrücken, um es vor ihm geheim zu halten, schaffte es aber nicht.
Ich bin Madison. Niemand darf mitbekommen, dass ich schwach bin. Dass ich nicht perfekt bin. Keiner sollte je mitbekommen, wie zerbrechlich ich bin.
Reiß dich doch endlich zusammen und hör endlich auf zu zittern, du Idiot! Du wertloses Stück Scheiße!
Es waren diese Stimmen, die es immer so schwer machten.
Die Erinnerungen an die Sätze, die Leute mir immer und immer wieder sagten. Die mich immer unter Druck setzen. Die mich beleidigten.
Hast du gehört, wie sie sich bedankt hat? Hat sie gedacht, dass das Kompliment ernst gemeint war?
In gewisser Weise habe ich Mitleid mit ihr.
Sie hat es verdient verarscht zu werden. Immer muss sie alles perfekt machen. Wahrscheinlich denkt sie, sie wäre etwas Besseres.
Worte konnten weh tun. Besonders dann, wenn sie von Leuten stammen, die einem wichtig waren.
»Madison«, hörte ich ihn sagen. »Hol ganz tief Luft.«
Er war die Person, die mich aus diesen Gedankengefängnis herausholte und mich zurück in die Realität brachte. Ich spürte, wie er einen Arm um meinen Körper schlang und mit der freien Hand meine streichelte. Auch wenn ich die Nähe anderer normalerweise hasste, gab sie mir bei ihm Halt und das Gefühl von Sicherheit. Sie schenkte mir das Gefühl, nachdem ich verzweifelt gesucht hatte.
Während ich mich bemühte, regelmäßig zu atmen, hielt er mich die gesamte Zeit fest, streichelte mit der einen Hand meine und strich mit der anderen meine Haare hinters Ohr.
»Du musst da nicht allein durch.«
Nach mehreren Atemzügen normalisierte sich mein Zustand. Es erstaunte mich, dass es möglich war, mich überhaupt in solch einem Tempo zu beruhigen. Ich war es gewohnt, stundenlang solche Attacken auszuhalten. Was mich sogar noch mehr erstaunte, war, dass er ruhig bleiben konnte. Auf mich machte er den Eindruck einer Person, die sofort in Panik verfiel und nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte.
»Willst du jetzt darüber reden?«, fragte er mich, nachdem ich mich etwas beruhigt hatte.
»Nein.«
Kurz und schmerzlos. Ich wollte nicht noch mehr versagen. Es reichte bereits aus, dass er diese zerbrechliche Seite von mir zu Gesicht bekam.
»Man sieht doch, wie stark du leidest.«
»Aber es gibt immer Menschen, die mehr leiden.«
Er schwieg, besser gesagt, wir beiden schwiegen. Ich wollte über meine Gefühle nicht reden, mit Sicherheit nicht jetzt. Er schien die Entscheidung, nicht darüber sprechen zu wollen, zu akzeptieren, auch wenn keiner von uns das aussprach, und irgendwie erleichterte mich das.
»Kann es sein, dass die tiefgründigsten Gespräche immer mitten in der Nacht mit Fremden entstehen?«, sprach ich meinen Gedanken aus.
»So fremd bin ich dir gar nicht.«
»Im Prinzip kenne ich dich aber nicht.«
»Mag sein, dass wir uns nicht so gut kennen, aber ich kann dir eines schon einmal sagen. Jede Sekunde, die ich mit dir verbringe, kann ich, ich selbst sein und ich glaube, dass allein das etwas unfassbar Wertvolles ist, und es würde mich noch mehr freuen, wenn du das ebenso schaffst. Wenn du es ebenso schaffst, du selbst zu sein. Du kennst meine echte Seite und das ist etwas, was nicht jeder in meinem Umfeld von sich behaupten kann.«
»Was ist mit Ficktor?«, fragte ich,
»Viktor? Sehr guter Witz.«
»Ich dachte, ihr seid Freunde.«
»Sind wir, aber nur weil ich mit ihm befreundet bin, heißt es nicht, dass ich offener werde.«
»Wieso zeigst du mir diese Seite?«, fragte ich und das wirklich aus reinem Interesse. Ich verstand ihn einfach nicht.
»Vielleicht sollten wir damit aufhören uns gegenseitig zu verhören. Schauen wir, dass wir aus diesem Badezimmer herauskommen.«
Nach diesen Worten stieg ich aus der Badewanne, damit auch er sie verlassen konnte und beschloss Amanda zu schreiben.
Öffnet ihr die Tür eigentlich noch?
Tut mir leid, wir haben euch vergessen
Großartig! Vergiss einfach deine Freundin. Wirklich, du wirst die beste Freundin des Jahres!
»Sie kommt gleich«, meinte ich zu ihm.
»Wollen wir Nummern austausch-«, wollte er mich gerade fragen, wurde jedoch von einer sich gerade öffnenden Tür unterbrochen.
»Tut mir leid«, meinte Amanda. »Viel Spaß auf der Party noch!«
»Gehen wir kurz hinaus?«, fragte er, womit ich sofort einverstanden war, da es drinnen laut und stickig war. »Wollen wir Nummern austauschen, denn ich müsste jetzt nachhause?«
»Gerne.«
Ich gab ihm mein Handy, auf welchem er seine Telefonnummer einspeicherte.
»Wir sehen uns dann. Tschüss, Prinzessin«, verabschiedete er sich von mir.
»Tschüss.«
Wie das wohl mit unsenden wird, James?
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