Kapitel 5
Sonntag | 20.02. | 01:10 Uhr
Ich war auf dem Weg nachhause, denn nachdem James die Party verlassen hatte, beschloss auch ich, mich von dort zu verabschieden. Mein Heimweg würde sicherlich eine halbe Stunde in Beschlag nehmen und ich hatte sowieso keinen Grund, länger auf der Feier zu bleiben.
Während ich Musik hörte, schweiften meine Gedanken zu James.
Ich dachte über das Angebot nach, mit ihm über meine Sorgen zu sprechen.
Selbstverständlich, es wäre großartig, mit jemanden über meine Probleme zu sprechen, doch einerseits wollte ich nicht verletzt werden und andererseits kannte ich ihn nicht wirklich. Abgesehen davon sprach noch einiges dagegen. Vielleicht verarschte er mich nicht. Vielleicht würden ihn meine Probleme belasten. Das, was mir sein Freund, Viktor, antat, würde er mir vielleicht nicht einmal abkaufen und wenn schon, dann würde ich eine Freundschaft zerstören. Und all das änderte auch nichts daran, dass ich weiterhin ein Opfer der Einsamkeit war, dass ungerne Zeit mit Menschen verbrachte und mit James nicht sonderlich viel unternehmen konnte, weil ich immer lernen musste, was ihn mit der Zeit langweilen würde.
Egal wie ich es drehte und wendete, schlussendlich war es immer besser, wenn ich es erst gar nicht versuchte, da es ein schlechtes Ende nehmen würde.
Als plötzlich mein Handy klingelte, drückte ich auf den Knopf bei den Kopfhörerkabel und hob ab, ohne mich davor auf dem Bildschirm darüber schlau gemacht zu haben, wer mich denn anrief.
»Prinzessin?«
»James?«
»Bist du noch auf der Party?«
»Nein«, erwiderte ich. »Wieso hast du mich angerufen?«
»Ich habe mir Sorgen gemacht. Du hast vorhin viel geweint und schienst nicht im besten Zustand zu sein«, meinte er. »Ich habe es auch vermisst, deine Stimme wieder zu hören.«
Sogar durchs Telefon konnte ich hören, dass dieser Junge eindeutig grinste, da ihm völlig bewusst war, dass er mich mit solchen Kommentaren durcheinanderbrachte. Wenigstens konnte er nicht sehen, dass ich rot anlief.
»Wie geht es dir, Madison?«
Kann der Typ nicht aufhören, meinen Namen zu sagen, der viel zu süß klingt, wenn er ihn ausspricht?
»Ich habe nur etwas Kopfschmerzen.«
»Wie viel hast du getrunken?«, fragte er mich.
»Zwei Bier.«
»Jetzt die Wahrheit.«
Ich runzelte die Stirn. Was willst du von mir, James? Ich versteh dich echt nicht.
»Zwei Bier.«
»Dein Ernst?«, fragte er lachend.
»Es war sogar das erste Mal, dass ich Alkohol getrunken habe«, erwiderte ich daraufhin.
»Tut mir einen Gefallen. Schreib mir, sobald du wach wirst morgen – oder besser gesagt heute. Ich will wissen, wie es dir geht«, meinte James.
»Gibt es-«, begann ich zu sprechen, wurde jedoch unterbrochen.
»Warte einen Moment, ich muss mit meinem Bruder sprechen.«
»Ja, alles gut [...] Ich wollte dich nur kurz besuchen. [...] Ja, ich telefoniere mit der Prinzessin. [...] Ich komm dann morgen. Tschüss.« Das war das letzte, was er sagte, woraufhin ich hörte, wie eine Tür ins Schloss fiel. »Entschuldigung, wo waren wir stehen geblieben?«
»Äh...Ich wollte wissen, wieso ich dir schreiben sollte, wenn ich wach werde. Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen.«
»Das weiß ich auch, aber ich mache mir trotzdem Sorgen, vor allem, weil du das erste Mal getrunken hast und du ziemlich am Ende deiner Nerven warst. Ich meine es nicht böse.«
Ich ging nicht auf das ein, was er gesagt hatte, ehrlich gesagt, wusste ich nicht wirklich, was ich dazu hätte sagen sollen, weshalb ich das Thema wechselte und fragte: »Wo gehst du eigentlich hin?«
»Nachhause.«
»Warst du nicht gerade zuhause?«
»Ich war dort, wo wir uns getroffen haben. Mein Bruder wohnt dort, aber ich nicht. Ich habe meine eigene Wohnung, könnte man sagen und dort gehe ich jetzt hin.«
»Ich wohne auch allein«, erwiderte ich.
Fühlt er sich auch manchmal einsam? Ich hatte Angst davor, ihn zu fragen, weil es war ein Thema, das ich noch nie angesprochen hatte und ich wollte eigentlich auch nicht, dass die Stimmung wieder kippte wie vorhin, aber es interessierte mich zutiefst. Er kannte doch mit Sicherheit das Gefühl, niemanden mehr zu haben, oder?
»James?«
»Ja.«
»Fühlst du dich nicht ab und zu einsam?«
Ich merkte, wie es plötzlich stiller wurde und er nichts erwiderte, als hätte ich etwas Falsches gefragt, weshalb ich direkt meinte: »Entschuldigung, es geht mich nichts an. Es war eine dumme Frage, ignorier sie einfach.«
»Nein, alles gut, ich habe nur kurz nachgedacht, und, um ehrlich zu sein, bin ich auch gerade dabei meinen Autoschlüssel zu suchen, was echt unhöflich ist, weil du anscheinend mit mir über etwas Ernsteres sprechen möchtest. Ich sollte mich entschuldigen, nicht du.«
Ich bekam direkt ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn eigentlich nicht stören wollte, und ebenso wenig, dass er sich um mich Gedanken machte, denn das Letzte, was ich brauchte, war, dass sich jemand anderer um mich sorgte.
»Entschuldige dich doch nicht, alles gut. Such deine Schlüssel, bitte. Ich will dich nicht stören.«
»Das ist sehr lieb von dir.«
Ich hörte, wie seine Schlüssel klimperten, er die Autotür öffnete und den Motor startete.
»Ich wäre jetzt dazu bereit darüber zu sprechen. Wegen der Einsamkeit und so«, meinte James.
»Jetzt schon? Heute?«
James lachte auf.
»Kann es sein, dass du darüber nie sprichst? Du solltest dich dafür nicht schämen. Überfordert es dich zu sehr, wenn wir heute schon darüber sprechen?«
»Ein wenig schon...denke ich mir halt.«
Du bist zu betrunken, Madison, komm erst gar nicht auf die Idee, jetzt so ein heikles Thema anzuschneiden.
»Wohnst du weit weg?«
Noch auffälliger kannst du James wohl nicht klarmachen, dass du keinen Bock hast über Einsamkeit zu sprechen, Madison. Der Idiot kennt dich bald schon besser als du dich selbst.
»Nicht so weit. Von meinem Vater nachhause müsste ich vier Kilometer gehen und da es ziemlich spät ist, fährt der Bus nicht mehr. Mein Schulweg ist glücklicherweise kürzer, den gehe ich meistens zu Fuß.«
»Auf welcher Schule warst du früher?«
»Auf dem Internat in der Nähe.«
James war im zweiten Semester in meine Klasse gekommen und wurde bereits nach einer Woche, zu einer Party eingeladen, weil ihn irgendwie alle mochten, doch mittlerweile wuchs er mir ebenso ans Herz, auch wenn ich das nur ungern zugab.
»Stresst dich die Schule eigentlich?«, fragte ich.
Erneut ein Thema, das ich normalerweise nicht ansprach und es jetzt doch tat.
»Ich mache mir nicht so viel Druck, was das angeht. Ich würde sagen, dass ich circa so stark gestresst bin, wie man es halt ist, wenn man sich im 11. Schuljahr befindet.«
»Hört sich schön an.«
»Und was ist mir dir?«
»Eigentlich kann ich mich nicht wirklich beschweren, aber irgendwie ist es halt trotzdem ein heikles Thema.«
»Ich bin stolz auf dich«, meinte James plötzlich. »Einen 1,0 Durchschnitt zu bekommen ist wirklich schwierig.«
»Woher weißt-«
»In unserer Klasse wird viel getratscht«, erwiderte er nur.
Eine Weile lang blieb es einfach ruhig, bis James diese Stille unterbrach und fragte: »Was machst du in deiner Freizeit?«
»Nicht so viel. Ich gehe gerne spazieren, lerne hin und wieder, lese gerne Bücher.«
»Was ist mit Sportarten? Oder ist das nicht so deins?«
»Das Eiskunstlaufen liegt mir tatsächlich ein wenig, aber ich hatte nie einen Kurs und habe mir das meiste selbstbeigebracht. Es ist nichts Besonderes.«
»Ist doch voll cool«, meinte James überrascht.
»Es ist gar nicht so schwer. Wie gesagt, viel kann ich nicht. Ein paar Pirouetten, leichte Sprünge, Zirkel, Mohawk...du weißt ohnehin nicht, was ich meine.«
»Ich habe tatsächlich keine Ahnung, wovon du sprichst, aber ich finde es trotzdem erstaunlich.«
»Und du, James?«
»Schwimmen liegt mir mehr als Eislaufen. Delfin, Schmetterling und...Du kennst dich da sowieso nicht aus, also brauche ich dir auch nicht so viele Fachbegriffe gegen den Kopf werfen.«
Ich musste etwas lachen, woraufhin James erwiderte: »Dein Lachen ist echt süß.«
»Kein Kommentar dazu«, traute ich mich sagen.
Der Alkohol ist an dieser Situation schuld. Ich sag's dir, Madison.
»Was liest du gerne?«, fragte James neugierig.
»Hauptsächlich Liebesgeschichten, aber hin und wieder auch Thriller.«
»Dann kennst du sicherlich Sebastian Fitzek?«
»Liest du?«, fragte ich überrascht.
»Wenn es sich anbietet.«
Ich hörte, wie der Motor ausgeschalten wurde. »Zuhause?«
»Ja, aber wir können weiterhin telefonieren«, meinte James: »Wie sehr ich es doch liebe, dass ich in der Garage besseren Empfang als Zuhause habe.«
Ich musste lachen. Typisch.
»Es gibt so vieles, das ich gerne über dich wissen würde«, meinte James.
»Stell die Fragen und wir schauen, ob ich sie dir beantworte.«
»Wie sieht es aus mit deinem Musikgeschmack?«
Er würde es bereuen, dass er mich das fragte, denn wenn es um Musik ging, entwickelte ich mich zu einem Kleinkind, das nicht aufhören konnte zu sprechen.
»Alles. Meistens Englisch.«
»Darunter kann ich mir sehr viel vorstellen, Prinzessin. Von wem hörst du am liebsten Musik?«
»Billie Eilish, glaube ich«, meinte ich. »Hin und wieder Shawn Mendes oder Eminem oder Bruno Mars oder Michael Jackson, der ist eigentlich voll sympathisch. Obwohl Adele ist auch-«
»Madison, ich hab's verstanden. Du hörst wortwörtlich alles.«
»Es kommt aber selten vor, dass ich Lieder höre, die nicht von Billie Eilish sind.«
»Ein kleines Billie Eilish Fangirl.«
»Ich bin gar nicht so klein! Ich bin sogar ganze 1,70.«
»Und ich bin sogar ganze 1,85. Versuch es erst gar nicht«, erwiderte James frech. »Du bleibst meine süße, kleine Prinzessin.«
»Mein Name ist immer noch Madison und diese Madison muss eigentlich auflegen, weil sie gerade zuhause angekommen ist.« Und das wirklich, denn ich stand vor meiner Wohnungstür und war gerade dabei, diese zu öffnen.
»Die süße, kleine Prinzessin muss jetzt wohl ins Bett gehen. Es ist doch schon Schlafenszeit.«
»Diese süße, kleine Prinzessin wird noch etwas lesen und sich dann überlegen, wann sie schlafen geht.«
»Was liest du gerade?«
»Ein Buch von Stephan King, jedoch nicht in Deutsch, da es in Englisch viel besser ist.«
»Dein Englisch scheint gut zu sein.«
»Was nicht verwunderlich ist, weil meine Mutter aus Los Angeles kommt und meine Eltern nur Englisch mit mir sprechen«, erweiterte ich seinen Satz.
»Das ist doch großartig«, meinte James. »Das ändert aber nichts daran, dass ich mir Sorgen mache und es mehr feiern würde, wenn du schlafen gehst.«
Genervt atmete ich aus, weil dieser Junge einfach unmöglich war, beschloss jedoch trotzdem – aber auch nur weil es ja schon spät war –, dass ich schlafen gehen würde.
»Zähne putzen nicht vergessen!«
»Ich bin keine fünf Jahre alt, James«, meinte ich.
Er erwiderte nichts mehr und ließ mich meine Abendroutine durchgehen. In gewisser Weise freute es mich, dass er nicht auflegte, nur damit er mit mir noch wenige Worte austauschen konnte, obwohl es bereits so spät war.
»Eigentlich wäre es eine gute Idee, wenn du noch einen Happen isst, weil den Alkohol ist dein Magen sicher nicht gewöhnt.«
»Erstens habe ich gerade meine Zähne geputzt und zweitens esse ich heute nichts mehr.«
»Was stand denn heute so auf deinem Speiseprogramm?«
Ich dachte nach. Eigentlich nichts. Und das war oft so. Ich mochte es nicht wirklich zu essen, denn eigentlich empfand ich Hunger als angenehm, wollte sowieso abnehmen, da ich mich fett fühlte und hatte auch keine Lust darauf, so spät in der Nacht noch etwas zuzubereiten.
»Madison?«
»Ja...«
»Was hast du gegessen?«
»Eine Suppe.« Lügen lag mir noch nie. »Gestern habe ich eine Suppe gegessen. Eigentlich vorgestern, denn es ist ja bereits Sonntag.«
»Ich weiß, was du meinst. Was hast du sonst zu dir genommen an dem Tag?«
Ich konnte hören, dass sich James bereits Sorgen machte.
Mein Essverhalten war in letzter Zeit etwas außer Kontrolle geraten, aber eigentlich war es noch erträglich. Gelegentlich zwang ich mich dazu zu essen, aber eigentlich auch nur, weil ich nicht wollte, dass meine Eltern mich enttäuscht anschauten, falls sie es herausfinden sollten.
»Ich habe die Suppe zu Mittag und zu Abend gegessen.«
»Was war mit gestern?«
»Ich habe nicht wirklich die Zeit dazu gefunden, etwas zu essen«, meinte ich zögernd.
Ich spürte, dass James nicht wusste, was er sagen sollte. Ich hatte keinen blassen Schimmer davon, wie er solche Informationen verarbeitete, aber es wirkte so, als würde er nachdenken, um die richtigen Worte zu finden.
»Madison, du isst zu wenig«, sagte er zögernd. »Hast du einen Therapeuten oder ähnliches?«
»Es ist nicht so schlimm.«
»Wie lange geht das schon?«
Seine Stimme klang immer besorgter, was mich unwohl fühlen ließ. Niemand sollte sich darum Sorgen machen müssen, erst gar nicht er. Nicht James. Er hatte sicherlich genügend Probleme.
»Nicht lange. Wirklich«, gab ich ehrlich zu. »Vielleicht ein paar Wochen.«
»Ich lade dich ein. Komm nächstes Wochenende zu mir und wir essen gemeinsam mit meinem Bruder und meinem Vater. Ich würde mich freuen, wenn du mit einem hübschen Kleid kommst, denn du wirst mich mit Anzug zu sehen bekommen.«
»Ich überlege es mir«
Der Idiot spinnt doch.
Aber eigentlich ist es doch süß.
»Isst du irgendwas nicht? Bist du auf etwas allergisch?«
Ich zögerte.
Ich zögerte, weil ich aufgrund schlechter Erfahrungen Angst davor hatte, ihm zu gestehen, dass ich mich vegetarisch ernährte. Noch nie in meinem Leben hatte ich damit gute Erfahrungen gesammelt, es zu sagen. Egal zu wem. Meine Eltern hielten es für Schwachsinn, meine Verwandten in Amerika waren der Meinung, dass es nur eine Phase sei und meine Klassenkameradinnen meinten, ich würde komplett durchdrehen. Ich traute mich mittlerweile nicht einmal mehr, jemanden zu sagen, dass ich kein Fleisch aß, aus Angst, abgewiesen zu werden.
»Madison?«
»Ich...äh-«
Hör auf dich so anzustellen. Er köpft dich nicht.
Er wird dich hassen, Madison.
Na und? Er sollte dir nicht einmal wichtig sein.
»Ich bin Vegetarierin.«
»Respekt, das ist wirklich cool. Ich hole dich nächste Woche Samstag um 17:30 ab und jetzt geh schlafen, Prinzessin und träum etwas Süßes.«
»Gute Nacht, James.«
»Gute Nacht«, sagte er und legte auf.
Ich musste lächeln, weshalb ich mich mit einem guten Gefühl ins Bett legte, in welchem ich erstaunlich schnell einschlief und sofort ins Land der Träume tauchte.
Ein Ort, den man genießen konnte, da er manchmal schön war, was bei mir bedauerlicherweise nicht der Fall war, denn ich litt stark unter meinen Albträumen.
Es gab einen Traum, den ich immer und immer wieder träumte. Mein Gehirn hatte kein Mitleid mit mir und wiederholte ihn fast jede Nacht. Der Traum, in dem ich wieder ungewollt angefasst wurde, so wie er es damals tat. In dem ich sexuell missbraucht wurde von der Person, die es auch in echt getan hatte.
Es war ein Traum, der mich nächtelang verfolgte und mir den Schlaf raubte.
Es war ein weiterer Grund, um mich selbst zu hassen.
***
Das war das fünfte Kapitel, in dem zum ersten Mal von ihren Essproblemen erzählt wird und man auch vom sexuellen Missbrauch erfährt. Langsam aber doch formt sich die Geschichte... Das Abendessen bei James wird mit Sicherheit auch eine spannende Angelegenheit...
Nächstes Kapitel kommt am Montag um ca. 20 Uhr.
Meinung? Feedback? Verbesserungsvorschläge?
Eure Larisa
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