Kapitel 28
Samstag | 30.04. | 07:49
Zwischen Scarlett und mir ist einmal mehr gelaufen.
»Das ist ein schlechter Witz, oder?«
Er schaute bedrückt auf den Boden und erwiderte: »Nein.«
Ich zögerte keine Sekunde und drehte mich um. Auch wenn ich hören konnte, wie James noch etwas sagte, wurden meine Schritte nicht langsamer. Ich blendete seine Worte aus und wollte einfach nur Abstand von ihm. Das meint er doch nicht wirklich ernst, oder?
Es fühlte sich so an, als würde ich innerlich zu brennen beginnen und ich in Flammen aufgehen. Ich spürte das Stechen meines Herzens und es dauerte nicht lange, bis die ersten Tränen flossen.
Mir war bewusst, dass wir keine Beziehung führten – daran war sogar ich schuld, denn ich war diejenige, die keine Beziehung wollte. Doch das änderte leider nichts daran, dass mich die Erkenntnis, dass James etwas mit Scarlett am Laufen gehabt hatte, oder noch am Laufen hatte, verletzte.
Ich dachte, da wäre eine Bindung zwischen uns. Ich dachte, James würde mich lieben.
Wir waren nicht weitgegangen, weshalb es nicht lange dauerte, bis ich bei der Wohnungstür ankam und in die Wohnung stürmte. Bis ich spürte, dass mich jemand festhielt. Ich drehte mich um, sah das James derjenige war und ließ vor Schock den Schlüssel fallen, da sein Griff zu schmerzen begann.
Plötzlich überrannte mich Panik. Vor meinen Augen stand Viktor, der mich nicht losließ und mich gerade schlagen wollte.
Mein Brustkorb hob und senkte sich schnell, mein Puls raste und die Tränen flossen schneller. Auch wenn ich wusste, dass mich James festhielt, hatte ich das Gefühl, jeden Moment gewalttätig missbraucht zu werden.
Der Braunhaarige begriff schnell, was der Grund dafür war, dass ich mich in einer Schockstarre befand, ließ mich auf der Stelle los und ging einen Schritt zurück.
»Es tut mir leid, Madison.«
»Schön, dass es dir leidtut«, gab ich zurück.
Ich wollte mich erneut umdrehen, doch James hielt mich am Oberarm fest – diesmal sanfter.
»Ich weiß, ich habe dir gesagt, dass, wenn du einen Moment für dich brauchst, du diesen bekommst, und den werde ich dir auch gleich geben, ich möchte nur, dass du dir einer Sache bewusst bist«, entgegnete er. »Scarlett und ich haben kein einziges Mal miteinander geschlafen und das wird auch nie passieren. Es war eine einmalige Sache, etwas rein körperliches und hat nichts mit echten Gefühlen zu tun.«
Mit diesen Worten ließ er mich los und marschierte dann aus der Wohnung. Ich blieb weiterhin schockiert stehen, merkte aber schnell, dass die erste starke Panikattacke anrollte und machte das, was ich fürs Beste hielt, auch wenn es mir bescheuert vorkam.
Ich schrieb meine Gedanken und Gefühle auf.
Ohne zu zögern, stand ich auf und ging ins Schlafzimmer, um einen Kugelschreiber und einen Collageblock zu holen und setzte mich damit an den Esstisch im Wohnzimmer, an welchem ich mit dem Schreiben begann.
Wo soll ich nur anfangen, James?
Um ehrlich zu sein, könnte ich dir, das glaube ich zumindest, nicht wirklich sagen, wieso ich diesen Brief schreibe. Ich habe es nie erwähnt, aber seitdem das mit Viktor passiert ist, kommt es öfters vor, dass es mir extrem schlecht geht. Was mir immer geholfen hat, meine Gefühle unter Kontrolle zu behalten, war, und ist es hoffentlich immer noch, sie aufzuschreiben.
Aber vielleicht schreibe ich das hier nur, weil mein Unterbewusstsein hofft, dass du es liest, obwohl mein Gehirn der Meinung ist, dass das das Schlimmste wäre, dass passieren könnte.
Es kommt nicht häufig vor, dass ich solche Briefe schreibe. Ich schreibe sie nur dann, wenn ich das Gefühle habe, jeden Moment mich vor die Gleise zu legen.
Und an diesem Punkt befinde ich mich gerade wieder.
Dass du etwas mit Scarlett am Laufen hattest, stört mich prinzipiell nicht. Das will ich gar nicht wahrhaben, wirklich, aber es ist einfach so. Es geht mich ja nichts an, was du in deiner Vergangenheit getrieben hast. Was mich wirklich verletzt, ist der Fakt, dass ich weiß, dass, wenn ich gehe, du jemand anderes finden würdest.
In letzter Zeit habe ich oft darüber nachgedacht, wie ich dir eine bestimmte Sache beichten soll, die alles zwischen uns ändern wird – und bis jetzt habe ich keinen Weg gefunden.
Du wirst mich hassen, weil ich dir es nicht gesagt habe, James, aber ich kann dir einfach nicht das Herz brechen.
Unsere Wege werden sich trennen.
Mir ist bewusst, dass du versuchen wirst eine Lösung zu finden, aber es gibt keine, James. Da ist einfach keine. Es steht bereits fest und es kann daran nichts geändert werden.
Das Ende dieses Schulprojekts ist das Ende unserer Bindung.
Als du gesagt hast, dass du etwas mit Scarlett hattest, hat es mich daran erinnert, dass es andere Menschen gibt, die du lieben wirst. Und das ist in Ordnung. Doch das ändert nichts daran, dass es mich verletzt. Ich weiß, dass ich, sobald ich weg sein werde, du irgendwann jemanden kennenlernen wirst, doch ich werde wahrscheinlich nie wieder eine enge Bindung aufbauen können.
Ich bin kaputt, James.
Ich kann mich kaum dir öffnen, wie soll ich mich, nachdem mich erneut jemand verlässt, auf jemand anderes einlassen? Du weißt, wie schwer es mir fällt, mit dir zu sprechen. Ich habe Angst davor, wieder allein zu sein. Wieder in Einsamkeit zu verfallen.
Du bist der Erste, dem ich so sehr vertraue.
Meine Mutter wollte immer eine engere Bindung zu mir aufbauen, aber dafür sehen wir einander zu selten und dafür ist meine Angst, etwas falsch zu machen und verstoßen zu werden, zu groß.
Und dieselbe Angst konnte ich bei dir schnell überwinden. Die Liebe ist eigenartig, das wissen wir alle. Es ist unglaublich, dass du es geschafft hast, dass ich mich Stück für Stück mehr öffne. Ich verstehe nicht, wie das möglich war.
Manchmal möchte ich einfach nur schreien vor Schmerzen und bekomme keinen Laut aus mir heraus. Ich zittere am gesamten Körper, schaffe es kaum zu atmen und spüre, dass mein Herz kurz vorm Versagen steht.
Du bist mir verdammt wichtig, James.
Und ich frage mich so oft, ob der Schmerz es wert ist. Ob ich mich dir gegenüber hätte noch mehr öffnen sollen. Ich zweifelte von Anfang an daran, dass Liebe funktioniert und wollte meine Gefühle ignorieren, doch ich konnte nicht.
Jetzt sitze ich hier, denke an jede Sekunde, die wir miteinander verbracht haben und frage mich, ob es sich gelohnt hat. Ob sich all diese schönen Momente gelohnt haben.
Kannst du dich an unser erstes Sehen erinnern?
Es war der 14.02. – Valentinstag.
Ich war genervt von jedem und allem, und um ehrlich zu sein, konnte ich dich anfangs absolut nicht leiden. Es kam mir klischeehaft vor, dass der neue, attraktive, reiche Junge mit mir reden wollte.
Amanda und ich haben dich durch die Schule geführt und du hast Scarlett kennengelernt, die dich auf die Party eingeladen hat, auf der wir uns das erste Mal ehrlich unterhielten. Wir saßen in dieser Badewanne und ich habe dir von meiner Störung erzählt. Manchmal kommt es vor, dass das, was dich am glücklichsten macht, auch gleichzeitig das ist, was dich am meisten zerstört. Als du vorhin gemeint hast, dass du dich noch daran erinnern kannst, hat mich das echt glücklich gemacht. Ich hasse Partys, aber diese kann ich nicht hassen, weil es das erste Mal war, dass ich über dieses Problem sprechen konnte und ich zum ersten Mal erleben durfte, wie es ist, seine Probleme mit anderen zu teilen. Und es hat sich verdammt gut angefühlt.
Am folgenden Tag hast du mich angerufen und gefragt, wie es mir geht. Wahrscheinlich stahlst du mir bereits da mein Herz. Ich war hoffnungslos in dich verknallt, auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte und es versuchte zu leugnen.
Ich liebe deine Art. Dir fällt jede Kleinigkeit auf und du hast es geschafft, dass ich gegen meine schwachsinnigen Prinzipien verstoße, was mir echt gut tut. Ich wollte nie Gefühle entwickeln, aber die Art und Weise wie du dich um mich gekümmert hast, wie du dir Sorgen wegen den Narben auf meinem Arm oder meinem Essverhalten machtest, verkomplizierte die Situation.
Dieser eine Abend, an dem du mich um 2 Uhr nachts abgeholt hast, um mit mir Zeit zu verbringen, war der Beste, den ich je hatte. Du bist viel zu perfekt, um echt zu sein.
Als ich in der Schule in Ohnmacht gefallen bin und du auf mich aufgepasst hast, ist mir warm ums Herz geworden.
Vielleicht merkst du es gar nicht, aber in deiner Anwesenheit schaffe ich es kaum, meinen Blick von dir abzuwenden. Wenn du bei mir bist, beginnt mein Herz schneller zu schlagen, mein Bauch zu kribbeln, ich muss automatisch lächeln und kann dich nur mit verträumten Augen anschauen. Wieso habe ich das verdient?
Alles war perfekt.
Bis es den Bach hinunter ging.
Auch wenn wir unseren ersten Kuss auf der Party bei dir hatten, schien seitdem vieles komplizierter zu werden. Die Gespräche, die wir führten, waren viel zu ernst. Wir stritten oft, weinten beide zu viel und lachten kaum.
Und dann sind wir mit Viktor und Lukas schwimmen gegangen.
Du bist einfach gegangen, als ich dir erzählte, dass ich sexuell missbraucht wurde. Das gab mir den Rest.
Die kommenden Wochen habe ich viel nachgedacht. Meistens über Selbstmord.
Ich habe Gründe gesucht, die rechtfertigten, dass du mich ignoriertest, bis ich mir selbst die Schuld dafür gab. Ich wurde dieses Gefühl nicht los, dass es in Ordnung war, dass Viktor mich vergewaltigt hat – ich verdiene so etwas ja. Und als du gegangen bist, habe ich solchen Gedanken immer mehr Glauben geschenkt. Wenn ich es nicht verdient hätte, wieso sollte jemand so etwas tun?
Und dann erfuhr ich von Viktors Tod.
Die ersten Tage wusste ich nicht, was ich fühlen sollte. Einerseits war ich verletzt, andererseits machte es aber wenig Sinn, da ich ihn nie leiden konnte. Nachdem ich von Viktor Bescheid wusste, erklärten mir meine Eltern das, was unsere Zukunft binnen weniger Minuten zerstörte.
Sie zerstörten meine Traumwelt.
Ich war am Ende meiner Nerven, ging nachhause und sprach mit dem nicht existenten James. Doch leider fiel mir viel zu schnell auf, dass du gar nicht da warst, was mir erneut zu schaffen machte.
Noch am selben Tag bist du vorbeigekommen und hast mir erklärt, wieso zwischen uns wochenlang Funkstille war. Du hast mir vom Selbstmord deiner Mutter bis zur sexuellen Gewalt, die dein Vater angewendet hat, alles erzählt.
Der 19. 04 fühlte sich an wie ein Albtraum.
Zuerst Viktors Tod, dann meine Eltern und schlussendlich bist du mir auch zu viel geworden.
Ich möchte dir nichts vorwerfen, aber das ändert nichts daran, dass ich zu Tode überfordert war – auch wenn ich es mir nicht anmerken ließ, weil ich dich nicht mit mir hinunterziehen wollte. Weil ich wusste, dass du denken würdest, dass du schuld wärst an meinem psychischen Zustand, obwohl das nicht der Fall ist. Und weil ich dich liebe, James, und ich nur das Beste für dich will.
Ich will dir mit diesem Brief nicht zeigen, was alles schlecht ist. Ich will nicht, dass du das Gefühl hast, dass du mir nicht guttust.
Du bist mir extrem wichtig und ich habe durch dich einiges lernen können, habe viel Schönes erlebt und bin dir dafür wirklich dankbar.
Anfangs habe ich es bereut, dass ich mich dir geöffnet habe – ich hasse Risikos –, aber mittlerweile weiß ich, dass der Schmerz es wert war.
Du bist es wert.
Ich habe immer gehofft, dass unsere Geschichte ein gutes Ende haben wird, aber in den letzten Tagen habe ich realisierte, dass das vielleicht gar nicht nötig ist. Dass der Schmerz der Trennung es sowieso wert ist.
Ich bin dir für alles dankbar.
Wegen dir habe ich Lukas und Ryan kennenlernen dürfen. Wegen dir habe ich es zum ersten Mal in meinem Leben geschafft, mich meinen Problemen zu stellen. Wegen dir konnte ich meine Angst überwinden und habe meiner Mutter geschrieben.
Durch dich, James, habe ich gelernt mich selbst zu lieben.
Ich habe erfahren, wie es ist, geliebt zu werden.
Das alles habe ich durch dich gelernt, James.
Und für eine Sache bin ich dir besonders dankbar.
Ich stand kurz davor, alles zu beenden, hättest du mir nicht dabei geholfen, die Einsamkeit zu überwinden. Sie war dabei mich aufzufressen, gab mir das Gefühl, dass ich ertrinke, und darüber konnte ich mit niemandem sprechen – bis du kamst. Du hast mir gezeigt, dass ich mich nicht für meine Gefühle schämen muss und dass es in Ordnung ist, sich einsam zu fühlen. Jeder fühlt sich einmal einsam.
Du hast mir gezeigt, dass es nicht unmöglich ist, diese Einsamkeit zu überwinden.
Meine größte Angst war es, verstoßen zu werden, wodurch ich keine Freunde mehr fand und begann, mich immer mehr zu verstecken, bis du mir gezeigt hast, dass ich dieses Versteckspiel nicht benötige. Dass ich schön bin, so wie ich bin. Dass es jemanden gibt, der mich akzeptiert. Mich und all meine Problemen und Eigenarten. Für dich waren sie ein Teil von mir, den du wie jeden anderen genauso geliebt hast.
Durch dich habe ich gelernt, mich anderen zu öffnen.
Ich hätte nie gedacht, dass ich über die Sache mit Viktor jemals sprechen würde. Ich glaubte nie daran, dass ich es jemals in Betracht ziehen würde, es zu verarbeiten. Mag sein, dass ich dir immer noch nicht alles erzählt habe, ich werde immer ein wenig zweifeln, aber durch dich habe ich es geschafft, mit Lukas darüber zu sprechen, und ich glaube, dir ist es am wichtigsten, dass es irgendwer weiß und ich es nicht, in mich hineinfresse.
Ich konnte loslassen – und das hat sich unglaublich gut angefühlt.
Dieser Text ist viel zu lange geworden, aber ich glaube, jetzt ist er zu Ende. Es ist alles geschrieben worden, was mir am Herzen lag.
Danke, James.
Danke, dass ich dich kennenlernen durfte und die Möglichkeit bekam, zuerfahren, wie sich wahre Liebe anfühlt.
***
Lesenacht Teil 2/3
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