Kapitel 14
Freitag | 04.03. | 06.24 Uhr
Der Termin beim Frauenarzt war der schlimmste meines Lebens. James war der festen Überzeugung gewesen, dass er mit in den Behandlungsraum kommen durfte, weshalb das Ganze peinlicher als geplant wurde. Abgesehen davon dass er dabei war, hatte er sich die gesamte Zeit mit dem Arzt unterhalten. Der untersuchende Mann meinte, dass alles in Ordnung sei, was ich mir sowieso dachte, weil ich die Pille nahm und es gar keinen Sinn gemacht hätte, aber James hatte ja so sehr auf den Termin bestanden. Nach den zehn peinlichsten Minuten meines Lebens, hatte er mich nachhause gebracht, blieb jedoch nicht bei mir.
Am Freitagmorgen schrieb mir James wie jeden Tag, eine Guten-Morgen-Nachricht, woraufhin wir auch noch kurz in ein Gespräch kamen.
Wir haben vergessen jemanden wegen des Schulexperimentes zu fragen.
Unsere Klassenbetreuerin unterrichtet uns heute sowieso in der ersten Stunde, da könnten wir sie fragen.
Vergiss den Zettel nicht, den wir ausfüllen mussten
Danke für die Erinnerung, Prinzessin
Bis später
Bis später, James
Nach meiner Morgenroutine machte ich mich schließlich auf den Weg zur Schule, auf welchem ich Musik hörte, und über mein Leben nachdachte, was manchmal nicht die beste Idee war.
Es lief gerade der Song Idon'twannabeyouanymore von Billie Eilish.
Ich fühlte mich bereits mein gesamtes Leben einsam. Die Selbstgespräche, die ich führte, gehörten bereits seit meinem siebten Lebensjahr zum Alltag.
Als ich mich das erste Mal verliebt hatte, begann ich damit. Ich führte Selbstgespräche in einem ungesunden Ausmaß und konnte sie immer öfter nicht mehr kontrollieren. Wenn niemand echtes in meiner Anwesenheit war, merkte ich meistens gar nicht, dass ich erneut begann, mit jemandem zu sprechen, der nicht hier war.
In der Zeit, die ich allein verbrachte, hörte ich dauerhaft Stimmen in meinem Kopf und konnte sie nicht verschwinden lassen. Manchmal war es meine eigene, die mir erklärte, was ich alles falsch machte und was alles nicht mit mir stimmte, manchmal war es die, des Jungens, den ich damals liebte, der mir Zuspruch gab, was mir teilweise half.
Allmählich hörte ich nicht nur die Stimmen, sondern fühlte auch, wie ich von diesen vermeidlichen Personen angefasst wurde. Es kam immer seltener vor, dass ich allein schlafen ging, denn ich nahm wahr, wie jemand seine Arme um mich legte, auch wenn da niemand war. Es fühlt sich alles verdammt echt an.
Die Zeit, in der ich glaubte, dass es echt sei, war die schönste meines Lebens.
Ich hatte nicht gewusst, was mit mir los war, und wusste es auch später nicht, aber sobald ich in Anwesenheit anderer war, gingen diese Stimmen weg – so war es zumindest am Anfang. Mittlerweile schaffte ich es in der Öffentlichkeit nicht immer sie zu unterdrücken, weshalb ich häufig Kopfhörer trug, damit andere dachten, dass ich telefonierte oder ähnliches.
Diese Einsamkeit zerstörte mich.
Wegen ihr begann ich diese Selbstgespräche.
Wegen denen hasste ich mich.
Ich hasste mich.
Und allein das war nichts Gutes.
Ich wollte immer jemand anderes sein, egal wie viele Probleme diese Person gehabt hätte. Die meiste Zeit, die ich allein verbrachte, machte mich glücklich, eben weil ich mir einbildete jemand sei bei mir. Eben weil ich nicht realisierte, dass da niemand ist. Weil ich dachte, da war jemand, der sich mit mir unterhielt. Der mir Mut zusprach. Der mich nach stundenlangem Weinen wieder zum Lachen brachte.
Der Gedanke daran, dass diese Freundschaften nicht echt waren, zerstörte mich, aber trotzdem schaffte ich es, diesen Fakt zu akzeptieren, auch wenn es mir schwerfiel und ich mich dadurch nicht weniger hasste.
Umso länger ich nachdachte, umso schlechter ging es mir. Meine Gedanken schweiften irgendwann zu den Worten meiner Mutter und der von James, die der Meinung waren, dass ich mir mehr Freizeit nehmen und weniger auf die Schule achten sollte.
Ich hatte mich schon oft gefragt, wieso ich darauf bestand Glanzleistungen zu bringen. Es war zu einer Normalität geworden, dass ich mich immer auf die Schule, auf Berufliches oder Dinge dergleichen achtete, aber mich nicht auf meine Gesundheit konzentrierte – vor allem nicht auf meine mentale.
Niemand sah meine Persönlichkeit. Das Einzige, was andere sahen, waren meine Leistungen. Sie waren das, was mich ausmachte – zumindest erschien es mir immer so. Andere sahen nie mich. Sie sahen nur das, was ich in der Schule leistete.
Mein Selbstwertgefühl hing von meinen Schulnoten ab.
Doch während ich versuchte, alles perfekt zu machen, wollte ich auch immer anderen helfen. Es fühlte sich so an, als würde ich versuchen allen gleichzeitig schwimmen beizubringen und erst zu spät merken, dass ich vergessen hatte, wie das funktionierte. Ich wollte allen den richtigen Weg zeigen, verirrte mich aber selbst.
Mit der Zeit wurde es mir zu viel. Die Einsamkeit verfolgte mich, ich wollte hilfsbereit sein und Glanzleistungen bringen, wurde sexuell missbraucht, stand kurz vor einer problematischen Magersucht, versuchte die perfekte Tochter zu sein und machte mir ständig Druck wegen Umwelt, Klimawandel und Sonstigem. Vielleicht klang es bescheuert, aber manche Male brach ich zusammen, wenn ich daran dachte, dass es so viele Leute gab, die in Armut lebten, denn ich fühlte mich schlecht dafür, dass ich ein gutes Leben hatte, und trotzdem sterben wollte.
Egal, was ich tat, egal, wie sehr ich versuchte, anderen zu helfen, egal, wie sehr ich versuchte perfekt zu sein, ich ging jedes Mal selbst unter und zog andere mit mir. Diese Angst, etwas falsch zu machen, war unfassbar stark, weshalb ich versuchte mich abzulenken, indem ich lernte, las oder ähnliches tat.
Das Lied neigte sich gerade dem Ende und als ich die ersten Töne von Ocean Eyes – ebenso gesungen von Billie Eilish – hörte, merkte ich, wie sich meine Gedanken sofort um James drehten.
I've been watchin' you for some time
Can't stop starin' at those ocean eyes
Mittlerweile akzeptierte ich es, dass mir James gefiel. Früher hätte ich ihn mir sofort vom Leib geschafft. Sobald ich auch nur den kleinsten Verdacht darauf hatte, dass ich jemanden mochte, stieß ich diese Person von mir. Doch das hatte sich geändert. Sobald mir jetzt bewusst wurde, dass ich meinen Blick nicht von ihm abwenden konnte, versuchte ich auch nicht, etwas daran zu ändern. Ich mochte es in seine Augen zu blicken, weil sie immer so viele Emotionen preisgaben, wenn ich ihn anschaute. Manchmal funkelten, strahlten oder wirkten sie einfach glücklich, andere Male wirkten sie traurig, verletzt und verzweifelt.
Wenn ich in seine Augen blickte, merkte ich, wie sehr es mir gefiel, mit ihm Zeit zu verbringen, allein schon, um diese Gefühle zu genießen, die ich in ihm auslöste. Ich liebte es, dieses Adrenalin, das wie ein Vulkanausbruch wirkte, zu sehen, aber auch diese Antriebslosigkeit, die mir so träge wie die Tiefen des Ozeans vorkamen, denn diese zeigte mir, dass es normal war, auch schlechte Tage zu haben. Seine Augen bewiesen mir, wer er wirklich war. Sie waren so dunkel wie die Nacht und blendeten trotzdem.
No fair
You really know how to make me cry
When you gimme those ocean eyes
I'm scared
I've never fallen from quite this high
Fallin' into your ocean eyes
Those ocean eyes
Es machte mich unfassbar glücklich, bei James sein zu können. Dieses Gefühlschaos, welches aus Fröhlichkeit, Entspannung, Sicherheit, Traurigkeit und teilweise auch Liebe bestand, war etwas Unglaubliches, auch wenn es für mich in jeglicher Form fremd gewesen war.
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»Ist alles in Ordnung?«, fragte mich James, welcher gerade in die Klasse kam.
Es war zehn Minuten vor acht Uhr und ich saß auf meinem Platz, jedoch befand sich meine Sitznachbarin nicht neben mir, da diese gemeint hatte, dass sie nicht kommen würde, weil sie krank sei.
»Ja, alles gut.«
»Was hörst du denn?«, erkundigte sich der Junge, der vor mir stand und mit seiner Hand zu meinem Ohr deutete. Wahrscheinlich, weil ich zuerst verwirrt schaute, da ich nicht verstand, was er meinte.
»Ich... ähm-« Ich konnte meinen Satz nicht beenden, was daran lag, dass sich James vorsichtig zu mir setzte und mir den einen Kopfhörer stahl, um selbst auch etwas zu hören.
Sein Blick wirkte nachdenklich, bis er dann schließlich meinte: »Ich habe das Lied noch nie gehört, aber die Stimme hört sich so an, wie die von Finneas.«
»Lost my Mind«, sagte ich. »So heißt der Song.«
Mein Gegenüber bewegte sich nicht, hielt meine Hand und lauschte gespannt der Stimme von Billies Bruder. Er schaute mich nicht an und konzentrierte sich vollkommen auf die Strophen, doch auch so sehr er sich bemühte, mir zu zeigen, dass er sich für meinen Musikgeschmack interessierte, übersah ich nicht, dass er es nicht ganz schaffte seinen Fokus nur auf die Melodie zu legen, weil er von mir angestarrt wurde. Ich spürte das einfach. Seine Augen konnte ich nicht einmal sehen wegen seines starren Blickes auf den Boden, wodurch ihm seine Haare ins Gesicht fielen. Sie wirkten etwas nass, aber waren definitiv ohne künstlichen Mitteln gestylt worden.
Umso länger ich ihn anschaute, umso stärker wurde das Bedürfnis, ihm durch die Haare zu fahren, doch ich unterdrückte dieses Verlangen, weil ich wusste, was für einen Zickenkrieg es ausgelöst hätte. Das sowas noch passieren könnte, ist traurig. Wir sind doch eigentlich alle alt genug.
Dass das Lied sich dem Ende zuneigte, merkte ich erst, als James wieder aufblickte und mir in die Augen schaute.
»Das Lied ist wirklich schön«, flüsterte er mir ins Ohr.
Ich rührte mich nicht, konnte meinen Blick nicht von ihm wenden und erwiderte auch nichts. Er denkt sicher, du bist ein idiot, so wie du ihn gerade anschaust. Doch er lächelte nur, bis er irgendwann aufstand und sich grinsend auf seinen eigenen Platz setzte.
Bevor ich über dieses Lächeln nachdenken konnte, kamen Scarlett und Louisa in die Klasse und stellten sich direkt neben meinen Platz. Was wird das hier?
»James!«, rief Scarlett, während ich meine Musik leiser drehte, um das folgende Gespräch besser belauschen zu können.
»Was ist denn los?«
»Wir wollten fragen, wann die Party startet«, erklärte Louisa.
»Kommt um ungefähr 21 Uhr, die Adresse habt ihr ja, oder?«
»Ja, Scarlett hat dich ja besucht.«
Musste das jetzt sein? Ich konnte es für einen Moment vergessen.
»Eine Frage noch«, begann Scarlett, »Wie gefällt dir mein Outfit?«
Hilfe? Was wird das? Ist das dein Ernst, Scarlett?
Ich warf James nur einen bemitleideten, etwas genervten Blick zu, welcher diesen erwiderte und meinte: »Vielleicht solltest du dir etwas anziehen, was deinen Arsch ein wenig mehr bedeckt.«
Ich grinste nur, woraufhin Scarlett meinte: »Schau nicht so blöd, Madison.« Doch ich konnte mein Lächeln nicht unterdrücken, versuchte es, um ehrlich zu sein, gar nicht erst, weil sie dieses fiese Grinsen verdiente.
Als unsere Klassenbetreuerin gerade in die Klasse kam, was mich wunderte, da es noch nicht geläutet hatte, ergriff ich die Initiative, um sie wegen des Schulexperimentes auszufragen.
»Wollen wir uns jetzt bei ihr erkundigen wegen des Briefes?«, fragte ich James, welcher nickte, aufstand, und mit mir zu ihr ging.
»Frau Professorin«, begann ich, »wir hätten ein paar Frage wegen des Schulexperimentes.«
»Genau. Ihr habt den Brief bekommen?«
»Ja«, antworteten James und ich gleichzeitig.
»Habt ihr auch die beigelegenen Zettel, die ihr ausfüllen sollt?«
»Ja, warten Sie kurz«, meinte ich, holte die zwei Zettel, die sie meinte und übergab sie ihr.
Nachdem auch James ihr die Zettel gegeben hatte, fragte er noch: »Wie machen wir das mit dem Essen?«
»Wir machen es an dieser Schule etwas anders. Ihr werdet in der Wohnung, in der ihr die gesamte Woche verbringt, 200 Euro auf dem Tisch liegen sehen, mit denen könnt ihr euch dann die Produkte kaufen, die ihr wollt. Grundzutaten wie Öl, Mehl, Zucker und etc. werden schon vor Ort sein.«
Mit diesen Worten läutete es zur Stunde, weshalb ich mich auf meinen Platz setzte. Als ich mich gerade James zuwenden wollte, begann unsere Lehrerin Zettel auszuteilen.
»Maddie! Haben wir heute einen Test?«
»Nicht, dass ich was davon wüsste.«
»Wir schreiben nur eine kurze Wiederholung«, klärte uns die Professorin auf.
Bei diesen Worten begann mein Herz schneller zu schlagen und meine Hände zu zittern. Ich spürte ebenso, dass es mir immer schwieriger fiel, in einem normalen Tempo zu atmen. Für andere mochte es nur eine Wiederholung sein, die nahezu nicht zur Note zählte, aber ich empfand das anders. Normalerweise schrieb ich immer nur Einser. Schrieb immer ein Plus. In den letzten Tagen konnte ich nicht mehr so viel lernen, wie sonst, weil ich die Zeit mit James verbrachte.
Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinem Oberschenkel, weshalb ich etwas zuckte, und dann James erblickte, der sich neben mich gesessen hatte.
»Es ist nur eine Wiederholung«, versuchte er mich zu beruhigen.
Es ist nur eine Wiederholung.
Mit solchen Worten wollten Leute mich immer beruhigen.
Du bist Madison, du schreibst sowieso eine eins. Du brauchst dir keine Gedanken machen. Du schaffst es sowieso. Du brauchst doch nicht einmal etwas anschauen, um es zu verstehen.
Es waren diese Worte, die es nur schlimmer machten. Diese Worte, die mich nur noch mehr unter Druck setzten. Ich hatte das Gefühl, dass ich immer eine Eins schreiben musste, weil ich ja Madison war. Weil diese Madison ja keine Fehler machte.
Weil jeder dachte, dass eine Madison alles schaffen konnte, obwohl sie auch nur ein Mensch war.
»Ich bin mir sicher, dass du die Wiederholung schaffen wirst und wenn es ein Minus wird, dann wird es ein Minus, keiner wird dich dafür verurteilen. Nur weil du Madison bist, heißt das nicht, dass du alles perfekt machen musst. Du bist ein guter Mensch, auch wenn du diese Wiederholung verhaust.«
»James, setz dich wieder auf deinen Platz«, sagte unser Klassenvorstand, weshalb ich mich bei James nicht mehr bedanken konnte für die Ermutigung.
»Ihr dürft jetzt beginnen mit der Wiederholung.«
Wie alle anderen drehte auch ich den Zettel um und begann konzentriert zu arbeiten. Es dauerte nicht lange, bis ich mit den vier Fragen fertig war, um genau zu sein, vielleicht sogar nur zwei bis drei Minuten.
Als ich meinen Blick durch die Klasse schweifen ließ, fiel mir auf, dass eigentlich jeder noch arbeitete, und ich mir komplett unnötig Sorgen gemacht hatte, doch das beruhigte mich nicht.
Es stresste mich noch mehr.
Mittlerweile sprach mich fast niemand mehr an, aber früher war es üblich, dass nach einer Wiederholung, einer wichtigen Prüfung oder ähnliches ich immer kritisiert wurde, weil ich mir Sorgen gemacht hatte.
Siehst du, du hast sowieso alle Punkte. Ich habe dir doch gesagt, dass du sowieso die allerletzte bist, die das nicht hinbekommt. Hättest du eine schlechte Note gehabt, dann wäre mit Sicherheit jeder andere in der Klasse durchgefallen.
Nachdem die Zettel eingesammelt wurden, drehte ich mich zu James um, der mich fragte, ob ich es sehr schwierig fand.
»Ich dachte, es würde schwerer werden.«
»Du hättest dir nicht so einen Druck machen sollen. Der Stress tut dir nicht gut.«
»Ich bin immer gestresst, auch wenn ich weiß, dass ich es kann. Mein Körper spinnt einfach ein wenig vor wichtigen – oder auch nicht wichtigen – schriftlichen Prüfungen. Wenigstens habe ich dieses Mal nicht schwarzgesehen.«
»Kannst du das nicht halbwegs kontrollieren?«, fragte mich James, welchem ich gerade antworten wollte, als uns die Frau Professorin erneut unterbrach. »Was gibt es schon wieder so Wichtiges zu erzählen?«
Der Braunhaarige öffnete gerade seinen Mund, um etwas zu sagen, hielt sich dann aber zurück, als er merkte, dass ich keine Lust darauf hatte, Drama zu erzeugen.
Den Rest der Stunde konnte ich mich gut auf den Schulstoff konzentrieren, auch wenn meine Gedanken öfters zu Themen abschweiften, über die ich nicht hätte nachdenken sollen.
Es kam nicht selten vor, dass ich über eine Person nachdachte, die mich sehr verletzt hatte.
Der Junge, den ich für harmlos hielt, machte mir mit der Zeit, mein Leben zur Hölle. Zu Beginn war es gefahrlos. Dort und da suchte er nach Nähe, hin und wieder fasste er mich an, meinte aber, es sei ein Versehen, bis er plötzlich bei mir zuhause auftauchte. Er ging zu weit. Viel zu weit. Die Berührungen waren furchtbar gewesen und er dachte nicht einmal daran, mich zu küssen, oder irgendeine zärtliche Geste zu vollziehen, er machte einfach das, worauf er Lust hatte, ohne zu berücksichtigen, dass ich es nicht wollte.
Das Traurigste war, dass ich mir selbst die Schuld gab. Vielleicht wäre es nie so weit gekommen, wenn ich ihm von Anfang an gezeigt hätte, dass ich es eindeutig nicht wollte, aber dafür war ich zu schüchtern. Es war mir unangenehm, zu sagen, dass ich mich nicht wohlfühlte, wenn er mich anfasste in der Schule. Ich hatte Angst davor, ihn abzulehnen. Auch wenn ich nie mitgemacht habe und immer einen Schritt schneller ging, wenn er in meine Nähe kam oder ich seine Hand leicht wegdrückte, wenn er mich anfassen wollte, gab ich mir selbst die Schuld daran, dass er mich mehrere Male vergewaltigte.
Ich war nicht immer eine Person gewesen, die so viel Sport betrieb, doch seitdem es passiert war, betrieb ich welchen. Und das nur, um mich das nächste Mal währen zu können. Nur, damit ich mich nicht erneut schwach und hilflos fühlen musste.
Doch es half nie.
Und trotzdem machte ich weiter mit dem Trainieren, denn ich wollte meine Trauer irgendwohin stecken.
Ich hasste mich dafür, dass ich so schwach war.
Ich hasste mich, weil mich ein Junge sexuell missbraucht hatte.
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Nachdem ich ein Kleid meiner Mutter ausgeborgt hatte, saß ich nun zuhause, stylte meine Haare zu einem Dutt mit zwei Strähnen vorne und lackierte meine Nägel schwarz, damit sie zum Kleidungsstück passten.
Während ich mich vorbereitete, dachte ich über eine Sache, die ich ihm offensichtlich verschwiegen hatte, nach. Um ehrlich zu sein, wusste ich gar nicht, was dazu geführt hatte, dass ich es ihm nicht sagen wollte. Vielleicht war es einfach nur Angst, aber an dem Tag, an dem ich ihm meine Wohnung zeigte, ließ ich einen Raum bewusst aus.
Das Zimmer, das ich ihm nicht präsentierte, war nicht besonders groß. Es gab ein Strandgemälde an der Wand, einen schwarzen flauschigen Teppich und eine Lichterkette. Das alles klang gewöhnlich, das war es auch, aber was dieses Normalbild zerstörte, war das Pianino, welches auch zu finden war.
Ich versuchte mir zu erklären, wieso ich ihm es nicht zeigen wollte, fand aber nur wenige Begründungen. Vielleicht wollte ich nicht, dass er mich für eine noch schlimmere Streberin hielt als sowieso schon. Andererseits hätte er mich sicher darum gebeten, etwas vorzuspielen, und ich wäre nervös geworden und hätte mich verspielt. Und du bist ja Madison, du machst alles perfekt.
Als ich mich gerade damit beschäftigen wollte, welchen Schmuck ich tragen würde, läutete es an der Tür. Ich zog mir schnell einen Bademantel an, da ich nur eine Jeans und einen BH trug.
»Hättest du nicht anrufen können?«, fragte ich, nachdem ich die Tür geöffnet und James erblickt hatte.
»Dann hättest du mir vielleicht verboten zu kommen und ich wollte dich unbedingt sehen, weil ich jede Sekunde ausnutze, die ich mit dir verbringen darf«, beantwortete er mir meine Frage, gab mir einen Kuss auf die Stirn und erlaubte sich selbst den Eintritt in meine Wohnung. »Deine Haare riechen echt gut.«
Ich wusste nicht, wie ich mit dem Kompliment umgehen sollte – so wie mit all den anderen, die er mir immer wieder gab.
»Bevor du mir irgendeine schlechte Nachricht überbringst.« Er stoppte kurz und ließ seinen Blick über meinen Körper schweifen. »Du siehst verboten gut aus.«
Ich lächelte nur. Dieser Junge verdreht dir den Kopf, Madison, merk dir das.
Nachdem ich James eine etwas längere Zeit angestarrt hatte, und dieser mich immer grinsender anschaute, wendete ich peinlich berührt meinen Blick ab, räusperte mich und meinte: »Eigentlich wollte ich gerade mein Kleid anziehen, wenn du willst, könntest du mir dabei helfen.«
Das Lächeln des Braunhaarigen wurde nicht kleiner, aber trotzdem konnte ich kurz Verunsicherung in seinen Augen entdecken, die sich mit seinen Worten bestätigte. »Ich habe an sich nichts dagegen, aber wenn du dich nicht wohlfühlen solltest, müssen wir es nicht machen. Ich möchte nicht, dass du dich unwohl oder zu irgendetwas gezwungen fühlst.«
»Du bist verdammt süß, weißt du das?«
Die Worte kamen einfach aus meinem Mund heraus, woraufhin ich leicht rot wurde, mich umdrehte und ins Schlafzimmer ging, dicht gefolgt von James. Auf meinem Bett hatte ich bereits mein schwarzes Cocktailkleid, welches einen Reisverschluss besaß, ausgebreitet.
»Stört es dich wirklich nicht, wenn ich dich in Unterwäsche sehe?«
»Ich werde es überleben.«
Als ich gerade meinen Bademantel ausziehen wollte, hielt James mich erneut davon ab, meine Kleidung auszuziehen.
»Madison, bist du dir wirklich sicher? Das Letzte, was ich will, ist, dass du dich unwohl fühlst.«
Normalerweise hätte ich mich niemals in Unterwäsche vor einem Jungen blicken lassen, doch in diesem Moment war es mir egal. Ich versicherte James erneut, dass es mir nichts ausmache, zog mir meinen Bademantel aus und wurde meine lange Jeans, unter der ich noch eine enge Sporthose trug, auch schnell los.
Ich hatte mir fest vorgenommen keinen Blick in den Spiegel zu werfen, doch das Bedürfnis danach war zu stark. In diesem Spiegel konnte ich die Madison, die ich einmal kannte, nicht wiedererkennen.
Du solltest abnehmen, Madison.
Du solltest noch mehr Sport machen.
Du solltest weniger essen.
Ich hätte so viel dafür gegeben, diese Gedanken loszuwerden, doch sie verschwanden nie. Eine Zeitlang konnte ich meinen Körper akzeptieren, aber mittlerweile fand ich ihn einfach nur noch furchtbar. Die meisten meinten immer, dass ich doch dünn sei, aber ich sah dieses Magersein nicht.
Während ich in den Spiegel schaute, fiel mir auf, wie sich James, den ich im Hintergrund klar und deutlich sehen konnte, auf die Lippen biss, was mich einerseits verwirrte, andererseits freute. James' Blick gehörte starr meinem Körper. Ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen, wie nervös er mich machte und schlüpfte in mein Kleid. Normalerweise war ich diejenige, die rot wurde, doch als ich mich zu ihm umdrehte und er aus seiner Starre aufschreckte, wirkte er beinahe ein wenig verlegen, weil ihm bewusst war, dass ich gemerkt hatte, wie er mich ansah.
»James?«
»Hm.«
»Schließt du den Reisverschluss noch heute?«
»Ähm, ja, natürlich«, erwiderte James flüsternd, da er anscheinend keinen lauteren Ton aus dem Mund bekam.
Ich drehte mich erneut um, sah im Spiegel, wie er einen Schritt näher zu mir kam, und das Kleid, das ich mir eben angelegt hatte, schloss. Doch nachdem er das getan hatte, vergrößerte er den Abstand zwischen uns nicht, sondern platzierte seine Hände um meine Hüfte und legte seinen Kopf in meinen Nacken.
»Enge Kleider stehen dir«, meinte er. »Du solltest sie aber nur tragen, wenn du dich dabei wohlfühlst.«
»Ich zeige meinen Körper nicht gerne«, erwiderte ich. »Eigentlich würde ich gerne etwas abnehmen.
»Dir würde es nicht schaden, ein paar Kilos zuzulegen«, erklärte mir James.
Ich weiß.
Ich möchte trotzdem abnehmen.
»Madison, du bist unfassbar schön, weißt du das denn nicht?« Die Frage klang eher wie eine Feststellung.
Vorsichtig begann James federleichte Küsse auf meinem Hals zu verteilen, die mir gefielen – und zwar wirklich sehr gefielen. Doch auch wenn das so war, machte ich mich mit einem Räuspern bemerkbar.
»Wir sollten damit aufhören.«
»Entschuldigung«, sagte James.
Nachdem ich die Vorbereitungen erledigt hatte, ging ich mit meinem Schulkamerad wieder ins Wohnzimmer, in dem er mir erklärte, dass er deshalb gekommen war, weil er mich fragen wollte, ob ich bereits früher zu der Party kommen wolle und da ich mit dem Anziehen fertig war, meinte ich, dass es mich freuen würde, weshalb wir um 16 Uhr schon beim Partyhaus waren.
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Mittlerweile war es 21 Uhr. Vor circa einer Stunde hatte ich James erklärt, dass ich eine Runde spazieren gehen wolle – allein – was er sogar akzeptierte, was wahrscheinlich daran lag, dass ich etwas Abstand von ihm brauchte, weil mir das vorhin etwas zu schnell ging – was nicht hieß, dass es mir nicht gefiel, es war großartig, nur etwas früh.
Amanda, Scarlett und Louisa hatte ich bereits gesehen beim Haus. Keine von den Dreien sprach mich an, was mir sowieso lieber war. Wieso Amanda da war, verstand ich nicht, weil eigentlich hatte sie gemeint, dass sie krank sei, doch ich wollte sie auch nicht ansprechen, weshalb ich sie einfach versuchte zu vergessen.
Mein Handy begann zu klingeln, weshalb ich es aus meiner Handtasche herausholte. James.
»Wann kommst du denn zurück, Prinzessin? Ich warte bereits draußen auf dich«, fragte er. »Ich möchte dir, jemanden vorstellen.«
»Ich bin auf dem Weg zu dir. Gib mir ein paar Minuten.«
»In Ordnung, bis gleich, Prinzessin.«
Wenige Minuten später stand ich vor dem Haus und erblickte James, welcher neben einem Jungen stand. Der Fremde schien von der Weite etwas größer als ich, aber kleiner als James, zu sein. 1,75m traf es wahrscheinlich gut. Er hatte blonde Haare und war ziemlich normal gebaut.
Als ich zu den beiden Jungs kam, umarmte mich James und nahm mir meine Handtasche ab – die sowieso nichts wog. Idiot.
»Das ist nicht nötig, James«, meinte ich.
»Ich muss doch wohl ein Gentleman sein«, erwiderte er nur.
Ist doch klar. James will immer möglichst höflich und vorbildlich sein.
»Ich bin Lukas«, stellte sich der Blonde vor.
»Madison«, erwiderte ich. »Woher kennt ihr euch?«
»Ich war James' Mitbewohner auf dem Internat«, erklärte er mir.
Hatte James mir nicht erklärt, dass er sein erstes Mal mit seinem Mitbewohner hatte? Doch bevor ich länger darüber nachdenken konnte, erwiderte mein Mitschüler: »Ja, Madison, du denkst schon an die richtige Person.«
»Kennt sie mich?«, fragte Lukas, welcher nicht verstand, was sein Kumpel meinte.
»Du hast ja gemeint, dass ich mit ihr über unser damaliges Verhältnis sprechen kann«, meinte er. »Ich habe ihr erklärt, dass ich mein erstes Mal mit einem Jungen hatte und ich wollte, dass ihr euch kennenlernt. Soweit ich Madison kenne, habt ihr einige gemeinsame Interessen und würdet euch sicher gut verstehen. Du weißt ja, Madison braucht dringend ehrliche Freunde, die hat sie nämlich wirklich verdient.« Die letzten Worte sagte er eher zu mir als zu Lukas.
»Und natürlich will er das wir Freunde werden, weil er sich zu 100% sicher ist, dass ich schwul bin und mit seiner Prinzessin – so leid es mir auch tut – nichts anfangen würde«, ergänzte Lukas James' Erklärung.
»Sie braucht mehr soziale Kontakte«, verteidigte sich James.
Lukas grinste nur und wendete sich an mich. »Ich habe gehört du liest viel, Madison, oder?«
»Ja, aber eigentlich nur im Romance-Bereich. Hin und wieder Thriller, aber eher selten.«
»Du kennst sicher-«
Doch bevor er seinen Satz aussprechen konnte, wurde er direkt von James unterbrochen, welcher meinte: »Bitte, diskutiert jetzt nicht über Bücher. Dafür habe ich gerade keine Nerven.«
Lukas wollte etwas erwidern, doch da kam Scarlett auf uns zu gelaufen. Kann die sich nicht verpissen?
»James, kommst du wieder hinein? Wir spielen Flaschendrehen.«
»Ich bin gleich da«, meinte James. »Spielst du auch mit, Prinzessin?«
»Nur weil du es bist.«
---
Wir waren dabei Flaschendrehen zu spielen – glücklicherweise war ich noch nicht an der Reihe gewesen. Ich achtete nicht wirklich auf das Spiel, da es mich sowieso nicht interessierte und ich Kopfschmerzen aufgrund der lauten Musik bekommen hatte. Auf Alkohol verzichtete ich, damit ich nicht erneut so endete wie auf der vorherigen Party, doch leider reichte der alkoholisierte Geruch aus, um die Übelkeit zu verstärken.
Meine Aufmerksamkeit gehörte nicht dem Spiel, doch als mich alle anstarrten, versuchte ich mich doch noch zu konzentrieren. Was ist denn los?
»Madison, du musst das nicht machen«, meinte James.
Was ist los?
»So schlimm ist es nun auch nicht«, meinte Louisa. »James, drück ihr einfach einen schnellen Kuss auf die Lippen.«
Bitte, was? Wieso solltest du das überhaupt wollen, Louisa?
»Was war überhaupt die Aufgabe?«, fragte ich leicht überfordert.
»James soll dich küssen«, erklärte mir Amanda. Großartig, dass ich plötzlich kein Geist mehr bin.
»Man sollte niemandem, den ersten Kuss wegnehmen«, kommentierte James.
Ich realisierte erst spät, was mein Mitschüler gerade preisgegeben hatte, doch das machte den Schmerz nicht besser. Dieser Satz war wie ein Schlag in mein Gesicht. Wie mehrere Schläge.
Ich dachte, ich konnte ihm vertrauen. Mochte sein, dass er schlimmere Sachen über mich wusste, doch ich war bereits, die gesamte Zeit misstrauisch geworden. Trotzdem hast du ihm vertraut. Leb mit den Konsequenzen. Sei nicht so eine Heuchlerin. Hör auf, so eigenartig zu sein, dann würde dich auch niemand so komisch anschauen.
Alle aus der Runde starrten mich an, begannen dem Sitznachbarn etwas ins Ohr zu flüstern, während es mir immer schwerer fiel, die Tränen zurückzuhalten. Madison, jetzt beginn doch nicht zu weinen. Du bist auch wirklich für nichts zu gebrauchen.
Es gab schon viele Personen, die mich enttäuschten, doch das machte es nicht einfacher. Erneut brach mir jemand das Herz und ich wünschte mir, dass ich James nie kennengelernt hätte.
Du bist schwach, Madison, deswegen hast du ihm vertraut.
Du konntest dem Druck nicht standhalten.
»Dann küss doch einfach Scarlett«, meinte Louisa.
Ich wollte wegschauen, schaffte es aber nicht.
James sah mich bemitleidend an, kam zögernd Scarlett näher und legte seine Lippen auf ihre. Sie zog ihn noch etwas näher, genoss es, mit James rumzumachen, denn küssen konnte man es nicht nennen.
Ich wollte nicht weinen, tat es aber trotzdem. Mein Blick gehörte James, während ich es kaum schaffte, zu atmen, weil ich das Gefühl hatte, dass sich etwas in mir auflöste.
Der Fakt, dass James Scarlett küsste, verletzte mich – und genau das gefiel mir nicht. Deswegen verzichtete ich seit Jahren auf Freundschaften, nur um diesen Schmerz nicht spüren zu müssen, bis er kam. Bis er meine Welt zusammenbrechen ließ.
»Madison, ich wollte nie-«, doch ich ließ ihn nicht aussprechen, sondern stand einfach auf und ging, doch leider kam ich nicht weit, da mir James folgte und mich festhielt.
»Madison, ich möchte, es wieder gut machen«, meinte er.
»Lass mich allein«, schrie ich James an und drängte mich an ihm vorbei. Ich bekam mit, dass er mich erneut festhalten wollte, doch Lukas hielt ihn auf, meinte, dass ich Zeit benötige und er mich alleine lassen solle, weshalb James mir nicht mehr hinterherkam.
Nachdem ich das Haus verlassen hatte, holte ich mein Handy und meine Kopfhörer heraus, machte das erste Lied meiner Finneas-Playlist, I lost a friend, an und begann in eine Richtung zu laufen – ohne einem Ziel. Ich wollte weg von diesem Jungen.
I lost a friend
Like keys in a sofa
Like a wallet in the back seat
Like ice in the summer heat
Genau vor dieser Situation fürchtete ich mich. Ich wollte nicht verletzt werden, weil ich wusste, dass es mich zerstören würde. Weil ich ansonsten niemanden hatte und dann wieder allein war. Es wirklich zu erleben war schlimmer, als nur darüber nachzudenken. Dieser Schmerz war schlimmer als jede Vorstellung.
Es war einer dieser Momente, in denen ich mich noch mehr hasste, weil ich wusste, dass ich niemandem hätte vertrauen sollen. Weil ich wusste, dass es auf diese Art und Weise enden würde.
I lost a friend
I lost a friend
I lost my mind
And nobody believes me
Say, I know that he doesn't need me, cause he made a little too much money to be twenty and sad.
Ich hatte das Gefühl, dass mir niemand glaubte. Wie konnte sich denn eine reiche 16-Jährige einsam fühlen? Das dachten alle, doch das war nicht schwer, wenn man niemanden mehr hatte und die Person verlor, von der man dachte, dass sie einen unterstützen würde, obwohl das vielleicht nie der Fall war.
How the hell did I lose a friend I never had?
***
Dramaaaaa. Langsam, aber doch, läuft alles schief..
Die Kapitel kommen immer am Montag, Mittwoch und Samstag um ca. 20 Uhr :)
Meinung zum Buch? Verbesserungsvorschläge?
Eure Larisa
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