Kapitel 3
Mein erster Tag neigte sich dem Ende und zufrieden trat ich den Weg nach draußen auf den Parkplatz an. Die entfernten Geräusche des Feierabendverkehrs drangen gedämpft an meine Ohren und der dunkelgraue, von Wolken verhangene Himmel, zeigte bereits erste Anzeichen der einsetzenden Dämmerung. Ein Beweis dafür, dass der Herbst viel zu schnell Einzug übers Land hielt - und das, obwohl wir erst im September angelangt waren.
Mit großen Schritten überquerte ich den gepflasterten Weg zu meinem Auto. Ich war stolzer Besitzer eines schwarzen Mercedes CLS. Der alleinige Anblick dieses schnittigen Wagens ließ darauf schließen, dass das Lehrerdasein nicht mein einziger Beruf war - was auch der Wahrheit entsprach. Niemand hätte sich von dem lächerlichen Gehalt, das man sich als Lehrkraft erarbeitete, ein solches Auto leisten können, geschweige denn den Luxus, in dem ich lebte. Doch mein Erfolg als Schriftsteller hatte mir einen solchen Lifestyle ermöglicht.
Wie auch die Schule, war das Lesen zu einer Art Katalysator für mich geworden, als ich noch ein Kind gewesen war. Einem Ventil. Wann immer es Zuhause unerträglich wurde, weil mein Stiefvater seine Frau wieder einmal windelweich prügelte, hatte ich mich in meinem Zimmer unter dem Bett versteckt und mich in die Tiefen eines Buches geflüchtet. Oder ich hatte Joanna etwas vorgelesen, um sie von dem Gebrüll abzulenken, das aus dem Erdgeschoss nach oben gedrungen war.
Mit einem innerlichen Frösteln verdrängte ich die Erinnerungen an meine Kindheit.
Da es sich bei der Literatur schon immer um meine größte Leidenschaft handelte, hatte ich während meines Studiums begonnen, selbst zu Stift und Papier zu greifen. Ich schrieb unter einem Pseudonym. Hauptsächlich Kriminalromane und Biografien. Und durch eine glückliche Fügung des Schicksals, war ein Verlag auf mich aufmerksam geworden. Offenbar schienen den Menschen meine Schreibkünste zu gefallen, denn meine Romane fanden immer mehr Anklang, bis ich schließlich sogar davon hatte leben können. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, einen solchen Erfolg an Land zu ziehen. Oft schon versuchte mein Lektor mich zu überreden, Lesungen zu geben, auf Veranstaltungen oder Wettbewerben teilzunehmen. Aber ich wollte mein Privatleben privat halten. Ich wollte keine Berühmtheit sein. Wenngleich ich meine Werke mit der Öffentlichkeit teilte, so war es mir wichtig, etwas für mich zu haben - mein Leben. Und die Tatsache, dass ich im Überfluss lebte, gründete nicht auf Prahlerei oder Egozentrik, nein, es war auf die schlechten Lebensbedingungen meiner Kindheit zurückzuführen. Darauf, dass ich nie wieder hungern wollte, dass ich nie wieder eingesperrt sein wollte in einem Zimmer, das kaum größer, als eine Besenkammer war. Ich wollte nie wieder leiden oder etwas missen müssen. Ich wollte in Freiheit sein, mir keine Sorgen um Geld machen. Dazu gehörte auch, das Auto zu fahren, das mir gefiel, ohne mir den Kopf über die Finanzierung zu zerbrechen. Oder in einer Wohnung zu leben, die mir das Gefühl gab, die ganze Stadt überblicken zu können.
Aber am meisten wollte ich eine bessere Zukunft für meine kleine Schwester.
Joanna.
Ich hatte immer versucht, sie zu beschützen und war doch so kläglich gescheitert. Ich hatte ja nicht einmal mich selbst beschützen können... Unwillkürlich bemerkte ich, dass meine Gedanken wieder abdrifteten. Sie drifteten ab, an jenen grausamen und dunklen Ort, den ich stets zu meiden versuchte. Für gewöhnlich hatte ich mich unter Kontrolle, außer ich wurde wieder einmal von einem der Albträume, die mich regelmäßig überfielen, heimgesucht. Die Erinnerungen an meine Kindheit waren normalerweise in den tiefsten und verborgensten Ecken meines Gedächtnisses weggesperrt. Doch heute schien alles durcheinander zu geraten.
Mit einem Seufzen ließ ich mich auf den weichen Ledersitz meines Autos fallen und trat die Heimfahrt an. Als ich vor dem Gebäudekomplex anhielt, indem sich meine Penthouse-Wohnung befand, überreichte ich dem Portier, Mr Grayson, die Autoschlüssel. Er erwiderte meine Begrüßung mit einem freundlichen Nicken, ehe er sich auch schon nach draußen begab, um mein Auto in die Tiefgarage zu fahren.
Bereits als mich der stählerne Aufzug nach oben in mein Appartement fuhr, hätte mir klar sein müssen, dass ich nicht alleine war. Selbstverständlich war Joanna hier, um mich nach meinem ersten Arbeitstag bis ins kleinste Detail zu löchern. Ich hatte ihr zu meinem Einzug in das Appartement eine Schlüsselkarte geben lassen. Sie sollte hier jederzeit willkommen sein und das nutzte sie natürlich aus. Zwar hatte sie nicht weit von hier entfernt eine eigene kleine Wohnung, aber das hielt sie nicht davon ab, ständig bei mir herumzulungern. An manchen Tagen nervte mich ihre Anwesenheit, denn ich war ein Mensch, der viel Zeit für sich brauchte. Doch an den meisten Tagen war ich froh um ihre Gesellschaft, wenngleich ich nicht die Absicht verfolgte, ihr dies unter die Nase zu reiben. Andernfalls würde ich sie gar nicht mehr loswerden.
Joanna studierte Hotelmanagement und ihr großer Traum war es, irgendwann ein eigenes Hotel zu leiten. Zudem shoppte sie nebenher in einem Café, da sie sich strikt dagegen weigerte, ihr Studium von mir finanzieren zu lassen. In ihren Augen war es schon schlimm genug, dass ich für die Miete ihrer Wohnung aufkam. Zwar konnte ich ihren Wunsch auf eigenen Beinen stehen zu wollen vollkommen nachvollziehen, aber gleichzeitig wollte auch ich nicht, dass es ihr an irgendetwas mangelte.
Ich hatte kaum einen Fuß in meine Wohnung gesetzt, als sie auch schon barfuß über die dunkelgrauen Fließen geflitzt kam. Ihr Haar, das in demselben Goldblond schimmerte, wie meines, hatte sie zu Locken gestylt. Es wippte bei jedem Schritt. Wir sahen uns verblüffend ähnlich. Einzig und allein unsere Augenfarbe unterschied sich voneinander. Während Joannas Augen in einem katzenhaften Grün erstrahlten, das sie von unserer Mutter vererbt bekam, erkannte man in meinem Gesicht die Augen unseres Vaters, die von einem tiefen Eisblau gekennzeichnet waren.
Joanna war bildhübsch. Es mangelte ihr definitiv nicht an Verehrern, aber keiner war in ihren Augen gut genug, worüber ich mich in keinster Weise beklagte. Es sollte mir recht sein, denn was mich betraf, gab es nur wenige Männer, denen ich meine Schwester anvertraut hätte - und ich hatte bisher noch keinen davon getroffen.
»Logan!«, Joanna erreichte mich, ehe ich eintreten konnte. Mit einem strahlenden Lächeln hauchte sie mir einen Kuss auf die Wange. »Na? Wie war dein erster Tag? Wie ist es an der Garfield High? Wer ist der begehrteste Footballer? Gibt es schon Klatsch und Tratsch? Ich will alles genau wissen! Ist irgendetwas Spannendes passiert?«
Ich rollte lediglich mit den Augen und begrüßte Joanna meinerseits zurück. Im Vergleich zu mir, besaß Joanna eine unerschütterliche Lebensfreude trotz all der schlimmen Dinge, die man ihr angetan hatte. Doch das war gut so. Ich hätte es nicht ertragen, tagtäglich den Schmerz auch in ihren Augen sehen zu müssen. Der Blick in den Spiegel jeden Morgen reichte mir vollkommen aus.
Nachdem ich mich meiner Jacke entledigt hatte, folgte ich ihr in die Küche.
Obwohl nur eine einzige Person in diesem Appartement lebte - ich, Joanna übernachtete nur hin und wieder hier - war es ziemlich groß. Sobald man aus dem Aufzug trat, fand man sich in dem Wohnbereich wieder, in dessen Mitte eine breite Stufe hinunter ins Wohnzimmer führte. Dort prangte ein einladendes, schwarzes Sofa, das von jeweils zwei Sesseln und einem kleinen Tischchen gesäumt wurde. Ein flauschiger, weißer Teppich rundete das Ganze ab, ebenso der Kamin auf der gegenüberliegenden Seite sowie das große Panoramafenster und die Terrasse, die sich dahinter verbarg.
Die Küche, auf die ich nun zusteuerte, befand sich zu meiner Linken und wurde vom Wohnbereich nur durch eine dünne Wand, in der sich ein kleiner Durchgang befand, abgetrennt. Hinter mir auf der anderen Seite befand sich eine Treppe, die nach oben in den ersten Stock führte, wo sich Badezimmer, Schlafzimmer, Gästezimmer sowie ein kleines Büro befanden.
Die Einrichtung kennzeichnete sich durch einen minimalistischen Stil. Und wenngleich mich meine Freunde und selbst Joanna ab und an damit aufzogen, dass man bei mir sogar vom Boden hätte essen können, mochte ich es so am liebsten. Mir war durchaus bewusst, dass meine Affinität für Ordnung und Sauberkeit beinahe schon einem krankhaften Zwang glich, aber es verschaffte mir eine innere Zufriedenheit, die mir sehr wichtig war. Womöglich um die Unordnung, die wie ein Schatten über meiner Vergangenheit lag, wieder zu richten.
Ich erreichte die Küche, die wie der Rest meiner Wohnung auch, vor Minimalismus nur so strotzte. Auf der linken Seite des Raumes befand sich eine luxuriöse, weiße Küchenzeile, in der Ofen, Mikrowelle und Kühlschrank integriert waren. In der der Mitte des Raumes dagegen thronte eine kleine Kücheninsel mit marmorner Oberfläche, in deren Mitte ein Spülbecken eingelassen war. Schwarze Barhocker umgaben den äußeren Teil des Tresens.
Joanna, die sich ganz wie Zuhause fühlte, nahm zwei Gläser aus einem der Schränke heraus und schenkte uns beiden Wasser ein. Dann schob sie mir eines der Gläser über die Kücheninsel hinweg zu und sah mich erwartungsvoll an.
Ich erzählte ihr von meinem ersten Tag. Joanna hörte aufmerksam zu und schien sich aufrichtig für mich zu freuen. Die Details über mein Aufeinandertreffen mit diesem besonderen Mädchen, Drea, ließ ich jedoch aus. Ich verstand diese Verbindung zu ihr ja selbst nicht einmal.
Verbindung... Da gab es keine Verbindung, korrigierte ich mich sogleich gedanklich. Die einzige Verbindung die ich zu ihr hatte, war die simple und einfach gestrickte Tatsache, dass sie meine Schülerin war. Also erzählte ich Joanna vom Unterricht, davon, wie begeistert ich von der Mitarbeit meiner Schüler war und von meinen Kollegen. Sobald ich allerdings von meiner Arbeitskollegin Lisa redete, wackelte Joanna verschwörerisch mit den Brauen.
»Also diese Lisa...«, setzte sie an, doch ich schnitt ihr sogleich das Wort ab, da ich meine Schwester gut genug kannte, um zu wissen, worauf sie hinauswollte.
»Vergiss es, Joanna«, ich bedachte meine Schwester mit einem strengen Blick. »Sie ist nur eine Arbeitskollegin. Mehr nicht.«
Joanna rollte mit den Augen.
»Aber sie scheint doch sehr nett zu sein! Du solltest der Frauenwelt endlich mal eine Chance geben, Logan. Oder willst du etwa als Junggeselle sterben?«
Ich beschloss, Joanna mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.
»Und du?«, fragte ich herausfordernd. »Dir ist doch auch niemand gut genug.«
Sogleich zog Joanna den Kopf ein und der euphorische Ausdruck auf ihrem Gesicht schwand.
»Ich gehe immerhin auf Dates«, sie reckte das Kinn vor. »Und davon mal abgesehen bin ich mit meinen einundzwanzig Jahren fünf Jahre jünger als du und habe daher auch fünf Jahre länger Zeit, um den Richtigen zu finden«, sie hob provokant eine Braue.
»Willst du mir damit sagen, dass ich alt bin?«, Ich zog die Stirn kraus.
Joanna seufzte, griff zu ihrem Glas und nahm einen großen Schluck Wasser, ehe sie weitersprach.
»Du weißt genau, was ich dir damit sagen möchte«, sie sah mir direkt in die Augen und es bedurfte keinem weiteren Wort mehr - ich wusste auch so, was Joanna mir damit hatte sagen wollen.
Lass die Vergangenheit endlich hinter dir.
Doch das war etwas, das mir einfach nicht gelingen wollte.
Zu tief waren die Narben.
Zu schmerzhaft die Erinnerungen.
Und zu groß war die Angst davor, mich selbst wieder zu verlieren...
∞
Joanna übernachtete hier. Wir bestellten uns noch eine Pizza, schauten einen Film auf Netflix und gingen dann zu Bett. Als ich mich am nächsten Morgen für die Arbeit zurecht machte und gerade damit beschäftigt war, die Manschetten meines Hemdes zuzuknöpfen, kündigte das Klingeln meines Handys den Eingang einer SMS an.
Sie war von Michael.
Ich hatte ihn während meiner Zeit auf dem College kennengelernt. Seither zählte ich ihn zu einem meiner besten Freunde, auch wenn wir uns nicht allzu oft zu Gesicht bekamen. Das lag größtenteils daran, dass wir beide sehr ambitioniert und karrierebewusst waren. Michael hatte BWL studiert, während ich meinem zukünftigen Lehrerdasein nachjagte. Nichtsdestotrotz hatte Michael es geschafft, die Mauer niederzureißen, die ich so mühsam all die Jahre um mich herum aufgebaut hatte. Michael war ein ruhiger, in sich gekehrter und angenehmer Zeitgenosse. Manchmal erinnerte er mich ein wenig an mich selbst. Dass ich ihm vertraute, lag weniger an der Tatsache, dass wir uns ähnelten, sondern vielmehr daran, dass er niemals nachgefragt hatte, was ich in meiner Vergangenheit erlebt hatte. Nicht ein einziges Mal. Nicht einmal, als er meine Narben auf dem Rücken gesehen hatte. Nicht als er mitbekommen hatte, wie mich nachts Albträume heimsuchten und auch nicht, wenn mich die Panikattacken einholten, die ich mittlerweile glücklicherweise gut im Griff hatte. Und so hatte ich beschlossen, Michael einen Teil von mir preiszugeben, wenn auch nur einen kleinen. Die unschönen Details hatte ich ausgelassen. Aber selbst heute noch war ich Michael für seine Reaktion zutiefst dankbar. Er hatte keine Fragen gestellt, sondern lediglich genickt, mir eine Hand auf die Schulter gelegt und gesagt Danke für dein Vertrauen.
Nur vier Worte. Aber in diesen vier Worten hatte so viel Emotion gesteckt. So viel Gewicht, Verständnis und Empathie, dass er gar nicht mehr zu sagen brauchte. Und seither hatten wir nicht mehr über dieses Thema gesprochen. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf das Smartphone in meinen Händen und las Michaels SMS:
Lust am Samstag Abend was trinken zu gehen?
Die Jungs sind ebenfalls am Start.
- Michael
Michael hatte mich mit seinen besten Freunden, Lukas und David, erst letzte Woche bekannt gemacht. Bei den beiden handelte es sich um zwei anständige Männer, mit denen ich mich auf Anhieb verstand. Es kam einem Wunder gleich, dass Michael uns während unserer Collegezeit nicht schon früher vorgestellt hatte. Doch wie bereits erwähnt, war Michael der Inbegriff eines Karrieremenschen und so wenig Zeit er für mich hatte, so wenig schien er auch für seine anderen besten Freunde übrig gehabt zu haben. Ganz zu schweigen davon, dass er sich ohnehin rar gemacht hatte, seit ihm Melinda am College über den Weg gelaufen war. Michael und Melinda waren ein Herz und eine Seele und mittlerweile sogar verlobt. Erst vor Kurzem erreichte mich eine Einladung zu ihrer Hochzeit.
Ich spielte bereits mit dem Gedanken abzusagen, da ich etwas im Rückstand mit meinem aktuellen Buch war, entschied mich aber in letzter Sekunde dagegen. Stattdessen erinnerte ich mich an Joannas unausgesprochenen Worte.
Lass die Vergangenheit endlich hinter dir.
Joanna wünschte sich ein Leben für mich. Ein Leben, mit einer anständigen Frau an meiner Seite. Ein Leben mit einer Familie, Kinder. Ein Leben in Glück und Fülle. Leider sah ich mich in dieser Rolle überhaupt nicht und ich war mir absolut sicher, dass das auch niemals passieren würde.
Ich konnte nicht lieben.
Ich hatte es verlernt.
Zu lieben bedeutete für mich, verletzlich zu sein - und Verletzlichkeit war etwas, das ich mir nicht leisten konnte.
Aber ein Männerabend würde mir sicherlich nicht schaden, insbesondere da es höchste Zeit wurde, mich wieder mit einer Frau zu treffen. Also willigte ich ein.
Unwillkürlich musste ich an das Mädchen mit den unglaublich traurig Augen denken, die mich gestern so vollkommen aus der Fassung gebracht hatte.
Drea.
Sie wollte mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ich mir während dem Frühstück den Kopf darüber zerbrach, was ihr wohl widerfahren war. Was wohl der Grund dafür war, dass sie so unglücklich zu sein schien? Was hatte ihren Glauben an ein Happy End zerstört? Was hatte sie zu demselben, gebrochenen Menschen gemacht, der auch in mir schlummerte? Und das schon in solch jungen Jahren!
Mich überkam das dringende Bedürfnis, ihr helfen zu wollen, obwohl ich sie überhaupt nicht kannte. Schließlich konnte ich sie schlecht darum bitte, mir einfach zu erzählen, was sie so sehr bedrückte. Sie würde mich wahrscheinlich für verrückt erklären. Aber hatte ich als Lehrer nicht auch einen Schutzbefohlenen-Auftrag? Einen Auftrag, der mich dazu verpflichtete, das seelische Befinden meiner Schüler ebenso im Auge zu behalten?
Ich beschloss, diesem Auftrag nachzugehen - und ich hatte da schon so eine leise Idee...
∞
Nachdem ich meinen Wagen auf dem Parkplatz der Garfield abgestellt hatte, machte ich mich auf den Weg in das Innere meiner neuen Arbeitsstätte. Schon in der ersten Stunde würde mich die Abschlussklasse im Fach Englisch erwarten.
Da mich allerdings die Sekretärin von Direktor Wilkinson aufhielt wegen einigen Papierkrams, das meiner Aufmerksamkeit bedurfte, erreichte ich meinen Klassensaal erst ein paar Minuten nach Unterrichtsbeginn. Doch als ich schließlich in den Flur einbog, ließ mich das Schauspiel, das mich vor meinem Saal erwartete, kurz innehalten.
Ich entdeckte Drea, die dem rothaarigen Mädchen gegenüberstand, von dem ich mich nur noch an den Nachnamen erinnern konnte. Lively. Sie war diejenige, die gestern verlangt hatte zu wissen, welche Themen wir in meinem Unterricht durchgehen würden.
Aber das war es nicht, was meine Aufmerksamkeit erweckte, nein es war die Art und Weise, wie Lively Drea ansah. Voller Verachtung und - Neid.
Ich stöhnte innerlich. Es handelte sich höchstwahrscheinlich um irgendein High School Drama. Mir war zwar bewusst, dass auch dies zu meinem zukünftigen Job dazugehörte, allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, direkt schon an meinem zweiten Arbeitstag damit konfrontiert zu werden. Ich beschloss das Ganze erst einmal zu beobachten, vielleicht waren sie ja in der Lage, diese Diskrepanz aus eigenen Kräften zu klären, ohne die Einmischung eines Lehrers. Ich wusste aus eigener Erfahrung, wie lästig das sein konnte. Außerdem war mir durchaus klar, dass man die Probleme, die Teenager in diesem Alter mit sich herumtrugen, zwar nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte, jedoch erschienen mir manche Themen relativ banal, wenn man wusste, wie sich wirkliche Probleme anfühlten. Wenn man wusste, wie es war zu hungern oder Todesängste zu erleiden.
Meine Augen folgten dem Geschehen vor mir. Auch Dreas beste Freundin - das Mädchen mit den grauen Haaren - schien nun mitmischen zu wollen, denn sie durchbohrte Lively mit zornigen Blicken.
»Tja, ich kann auch nichts dafür. Würde die Heulsuse da«, Lively deutete mit einem perfekt manikürten Zeigefinger auf Drea. »Mal ihre Augen öffnen, dann hätte sie mich bemerkt. Aber stattdessen trauert sie die ganze Zeit nur ihrem Ex hinterher, der sie einfach nicht mehr will.«
Ich konnte förmlich sehen, wie Livelys Worte Drea einen Stich versetzten.
War das der Grund, weshalb sie so traurig war? Wegen einer einfachen Trennung von einem High School Jungen? Einem Jungen, der gerade erst den Kinderschuhen entwuchs? War ihr denn nicht klar, dass sich die Kerle in ihrem Alter erst noch die Hörner abstoßen mussten, ehe sie reif und erfahren genug waren, um ein ernsthafteres Interesse an einer Frau zu entwickeln?
Himmel! So schön wie sie war, würde sie sicherlich noch zehn Mal so viele Männer kennenlernen. Warum trauerte sie irgendeinem Idioten hinterher, der sie nicht wollte?
Und warum machte ich mir überhaupt Gedanken darüber?
Innerlich kopfschüttelnd wagte ich mich näher an das Geschehen heran.
»Maddy, es reicht«, sagte ein Junge.
Richtig. Jetzt erinnerte ich mich wieder an ihren Namen. Sie hieß Madison Lively.
Plötzlich trat der Junge, er soeben gesprochen hatte vor, legte Madison eine Hand auf die Schulter, während sein Blick kurz zu Drea glitt und wieder zurück zu Madison. Alles an Dreas Körperhaltung, der Art, wie sie sich anspannte, als er sich zu ihnen gesellte, wie sie ihn fassungslos anstarrte - all das verriet mir, dass es sich bei ihm um besagten Exfreund handeln musste.
Ich kannte den Jungen. Er war ebenfalls in meinem Englisch Kurs.
Blonde Locken, dunkle Augen, hochgewachsen und eine Collegejacke. Typisch, es hätte mich nicht verwundert, wenn er auch noch Captain des Football Teams wäre.
»Nein, es ist doch wahr. Sie soll aufhören, sich wie ein armes Hündchen aufzuführen, nur weil du sie abserviert hast und ihre Mutter ins Gras gebissen...«, doch weiter kam sie nicht, da Dreas Freundin vorschoss und Madison mit ihrem gesamten Gewicht gegen die Wand stieß.
»Wag es ja nicht!«, brüllte das Mädchen und war erneut im Begriff auf Madison loszugehen,
Verdammt.
Das war mein Stichwort. So viel zum Thema die Diskrepanz aus eigenen Kräften klären, ohne meine Einmischung.
Ich stieß einen Fluch aus und lief mit schnellen Schritten los, während ein anderer Junge meines Kurses, er hieß Noah, wohl geistesgegenwärtig genug war, die Arme von Dreas bester Freundin zu umgreifen, um sie davon abzuhalten, weiter auf Madison loszugehen.
Drea unterdessen ging einige Schritte rückwärts, bis sie an die Wand stieß, während ihr glasiger Blick noch immer unverwandt auf Madison lag. Sie schien nichts um sich herum mehr wahrzunehmen. Tränen stiegen ihr in die Augen und ich konnte erkennen, wie sich ihre Fingernägel in die Handflächen gruben.
Sie schluckte schwer und im nächsten Moment stürmte sie auch schon davon.
»Drea, warten Sie!«, rief ich hinterher, doch sie war bereits verschwunden. Ein paar Sekunden lang sah ich noch auf die Stelle, an der sie soeben verschwunden war. Dann drehte ich mich zu meinen Schülern um, von denen einige schuldbewusst zu Boden blickte und andere wiederum still und heimlich miteinander tuschelten oder einfach nur mit neugierigen Blicken das Geschehen verfolgten.
Meine Aufmerksamkeit wanderte zu Madison.
»Sie können sich sofort beim Direktor melden, Madison. Sie werden heute Mittag nachsitzen.«
»Aber ich habe doch gar nichts getan! Sie hat angefangen«, warf Madison empört ein und deutete mit ihrem Finger auf Dreas Freundin, die sogleich wieder die Zähne fletschte. Ich ließ Madison erst gar nicht ausreden.
»Ich habe genug mitbekommen, um zu wissen, dass Sie nicht unschuldig sind. Eine Mitschülerin verbal derart zu attackieren ist nicht nur gemein, sondern auch extrem respektlos. Also unterlassen Sie es bitte, meine Entscheidung infrage zu stellen, sondern begeben Sie sich bitte auf direktem Weg zu Direktor Wilkinson«, die Kälte meiner Stimme durchschnitt die Luft wie ein Pfeil und ließ keinerlei Raum für Gegenwehr übrig. Ich hätte nicht gedacht, schon an meinem zweiten Tag meine Autorität derart demonstrieren zu müssen.
Dreas Freundin - wie war ihr Name noch gleich? Penelope? - verzog ihre Lippen zu einem hämischen Grinsen. Offenbar gefiel ihr die Tatsache, dass Madison die Quittung für ihr Verhalten bekam. Doch dieses Lächeln würde ihr sogleich wieder vergehen.
»Penelope, Sie melden sich bitte ebenfalls beim Direktor. Sie werden heute Mittag auch Nachsitzen.«
Wie erwartet sanken Penelopes Munwinkel schlagartig nach unten. Ihr Gesicht verzog sich zu einer entrüsteten Grimasse.
»Wie bitte? Aber ich habe Drea doch nur verteidigt! Haben Sie nicht mitbekommen, was diese Bitch über meine beste Freundin gesagt hat?«
»Zügel deine Zunge, Miststück!«, zischte Madison.
Die beiden funkelten sich wütend an und ich war mir absolut sicher, dass sie sofort wieder übereinander hergefallen wären, hätte meine Anwesenheit sie nicht zur Zurückhaltung ermahnt.
»Ich dulde hier keine Gewalt und verbitte mir einen solchen Ton. Ihr werdet beide nachsitzen und heute Mittag euer Verhalten noch einmal genau überdenken.«
Penelope schien Atem zu holen, um gegen meine Aufforderung zu protestieren.
»Ich werde mich sicherlich nicht dafür entschuldigen. Ich bereue nichts«, sie straffte die Schultern und stolzierte hoch erhobenem Hauptes davon.
Ich seufzte innerlich. Dieses Mädchen schien eine harte Nuss zu sein und ich war mir absolut sicher, dass sie mir noch die ein oder andere Herausforderung bescheren würde. Madison dagegen wirkte etwas zerknirscht, verschränkte die Arme vor der Brust und machte sich dann ebenfalls auf den Weg zum Büro des Direktors.
Nachdem die beiden verschwunden waren, wandte ich mich dem Rest der Klasse zu. Ich schloss ihnen die Tür zu meinem Klassensaal auf, bat sie darum, schon einmal Platz zu nehmen, gab ihnen einige Aufgaben zur Stillarbeit und verkündete ihnen, gleich wieder zurück zu sein.
Dann lief ich los und machte mich auf die Suche nach Drea.
Es dauerte nicht lange, bis ich sie fand, denn der Rückzugsort, den sie gewählt hatte, erinnerte stark an den meinen, aus meiner eigenen High School Zeit - die Football Tribüne.
Einsam und verlassen saß sie auf einer der Bänke, das Gesicht in den Händen vergraben.
Ihr Anblick brach mir beinahe das Herz.
Meine Schritte hallten auf den Treppen wider, als ich auf ihre Bank zusteuerte. Erschrocken zuckte sie zusammen und hob den Blick.
Ihre Augen waren gerötet vom Weinen.
Wortlos ließ ich mich auf dem Platz neben ihr nieder. Sie mied meinen Blick und sah stattdessen stoisch nach unten. Ich reichte ihr ein Taschentuch, da noch immer einige Tränen über ihre Wangen kullerten. Verwundert starrte sie auf das Taschentusch in meinen Händen, nahm es zu meiner Erleichterung jedoch dankend an.
Nach wie vor versuchte sie sich meinen Blicken zu entziehen. Es war ihr ganz offenkundig unangenehm. Sie schämte sich. Sie war vor Augen all ihrer Mitschüler zusammengebrochen - und vor den Augen ihres Lehrers. Nur verständlich, dass es ihr peinlich war, obwohl es das nicht sein musste. Nach allem, was ich mitbekommen hatte, schien sie wohl mit einem schwerwiegenderen Verlust zu kämpfen, als den einer verlorenen Liebe. Nur zu gut erinnerte ich mich daran, wie schmerzhaft es für mich gewesen war, als meine Eltern gestorben waren. Ich erinnerte mich an die Einsamkeit, an die gespielt betroffenen Worte von Bekannten oder Ärzten. Die Blicke voller Mitleid, aber auch die Dankbarkeit deren Blicke, nicht in der Haut meiner Schwester und mir stecken zu müssen. Blicke, die mich immer und immer wieder daran erinnert hatten, dass meine Eltern tot waren, dass Joanna und ich von da an alleine waren...
Ich hatte diese Blicke gehasst.
Es war die buchstäbliche Hölle gewesen.
Ich konnte gut nachempfinden, wie Drea sich gerade fühlen musste.
»Falls Sie jemanden zum Reden brauchen, Drea, habe ich immer ein offenes Ohr für Sie.«
Drea schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und die unausgesprochene Frage stand ihr regelrecht aufs Gesicht geschrieben. Sie fragte sich, wie viel des Schauspiels, das vor meinem Saal geschehen war, ich mitbekommen hatte.
Und dann hob sie das Gesicht und sah mich endlich an.
Ihr Blick zwang mich beinahe in die Knie und ich hatte das Gefühl, in den vielen unterschiedlichen, warmen Brauntönen ihrer Augen zu ertrinken. Obwohl alles an ihrem Gesicht pure Trauer ausdrückte, kam ich nicht umhin zu bemerken, welch unglaubliche Kraft sich dahinter verbarg. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass diese junge Frau stärker war, als sie annahm. Drea trug einen innerlichen Kampf aus, einen Kampf, dessen Schwere ich nur zu gut nachvollziehen konnte.
Unsere Blicke waren für ein paar Sekunden ineinander verschlungen und ich konnte mich nicht davon abhalten, ihr ein kleines Lächeln zu schenken. Für ein paar Minuten saßen wir schließlich einfach nur schweigend nebeneinander und beobachteten den Herbst, der das Land in bunte Farben tauchte. Dann fiel mir ein, weshalb ich Drea überhaupt nach draußen gefolgt war.
»Ich habe Ihnen übrigens etwas mitgebracht, Drea«, durchbrach ich die Stille zwischen uns.
Überrascht sah sie zu mir hoch.
Ich griff in das Innere meiner Tasche, zog das kleine Buch heraus, das ich heute Morgen eingepackt hatte und hielt es ihr entgegen. Wieder verzogen sich meine Lippen zu einem leisen Lächeln. Es war ein Roman von Jane Austen, Verstand und Gefühl.
Der Roman handelte von zwei Schwestern, Elinor und Marianne, deren Vater gestorben war. Seither versank ihr Leben in Chaos. Beide verliebten sich anschließend, doch das Glück war wieder nicht auf ihrer Seite und trennte die beiden Schwestern immer wieder von ihren Geliebten. Schließlich fanden Elinor und ihr Auserwählter doch noch zueinander, während ihre Schwester Marianne einen neuen Mann zu lieben lernte. Der Roman befasste sich mit dem Kontrast zwischen Liebe und Konventionen zur damaligen Zeit. Also Gefühle gegen Verstand, wie es der Titel bereits besagte.
Meine Intention hierbei war es, Drea aufzuzeigen, dass es trotz zahlreicher Rückschläge immer noch Hoffnung auf ein Happy End gab, wenngleich ich meinen eigenen Glauben daran bereits verloren hatte. Doch Drea war noch so jung, sie sollte ihre Jugend nicht damit vergeuden, in Trauer und Einsamkeit zu leben, so wie ich es getan hatte...
Zudem war mir die Idee mit dem Buch gekommen, weil es mehr als offensichtlich war, dass Drea, ebenso wie ich, eine Verbindung zur Literatur besaß. Es schien ihre Leidenschaft zu sein und dies wiederum war der Draht, über den ich mit ihr in Verbindung treten konnte. Die einzige Möglichkeit, wie ich ihr eventuell helfen konnte.
»Vielleicht kann ich Ihre Meinung über Happy Ends ja noch ändern«, mit diesen Worten stand ich auf und ließ Drea alleine auf der Bank zurück.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro