1 - first snow
Leise rieselte der erste Schnee des Jahres auf mich herab und landete ebenso sanft auf dem Boden. In solchen Momenten erinnerte ich mich an meine Kindheit, so unbeschwert und frei, genau wie der Schnee. Schlittenfahren mit meinem Vater, Schneemänner bauen mit meiner Mutter und Schneeballschlachten mit meinen Freunden. Ich dachte, es würde immer so bleiben, ich dachte, das Leben wäre immer so einfach, doch je älter ich wurde, umso mehr realisierte ich, dass das eine große Lüge war. Das Leben wirkte, wie auch der Schnee, auf den ersten Blick wie ein Geschenk, doch in großen Massen, in Form einer Lawine konnte der Schnee großen Schaden anrichten und wenn das Leben zuschlug, sein wahres Gesicht zeigte, war das wie eine Lawine, vor der man nicht entkommen konnte. Irgendwann vergrub sie einen unter sich.
Ich wurde schnell erwachsen, mittlerweile war ich siebzehn, doch vor fünf Jahren hatte die Lawine des Lebens mich unter sich begraben. Ich war zwölf gewesen, hatte liebende Eltern gehabt und gerade die Neuigkeit erhalten, das ich bald ein großer Bruder sein würde. Nichts hatte mich mehr gefreut, ich hatte das jedem in der Schule erzählt, fühlte mich da schon wie der coolste große Bruder der Welt und zu diesem Zeitpunkt war Gemma, meine kleine Schwester, noch nicht einmal geboren worden. Mittlerweile war sie fünf Jahre alt, in der Grundschule und ein sehr aufgewecktes, aber auch zurückhaltendes Mädchen. Ich erinnerte mich genau an ihren ersten Tag dort, sie hatte sich hinter mir versteckt und wollte, das ich am liebsten mit ins Klassenzimmer komme.
Eigentlich war das die Aufgabe der Eltern gewesen, ich hatte schließlich selbst Schule gehabt, doch ihr zur Liebe hatte ich ihr den Gefallen getan, den Tag geschwänzt und hatte sie ins Klassenzimmer begleitet. Ich wollte nicht, dass die Lawine, die mir die Luft zum Atmen nahm, auch Gemma unter sich vergrub. Sie war doch bloß ein unschuldiges Kind, sie hatte nicht das Leben verdient, was das Schicksal für uns vorgesehen hatte. Deshalb versuchte ich alles, um dieses Schicksal zumindest für sie zu ändern, auch wenn ich schon verloren war, dasselbe musste nicht für Gemma gelten. Doch dafür musste ich ein paar Opfer bringen, mir blieb keine Wahl, ich konnte und ich wollte den Unterschied im Leben meiner kleinen Schwester bewirken und gerade in der heutigen Zeit war es wichtiger als jemals zuvor, nicht im Strom verloren zu gehen. Dann würde man nur ertrinken.
Gemma sollte nicht wissen, was es bedeutete zu hungern, sie sollte immer die Möglichkeit haben, zu trinken und wenn sie ein Spielzeug wirklich unbedingt haben wollte, sagte ich auch dazu nicht Nein. Sie war wirklich ein dankbares Kind und wünschte sich nicht oft irgendwelche Spielsachen, trotz ihres Alters hatte sie wahrscheinlich auch schon gemerkt, das bei uns etwas anders war, als bei anderen Familien. Doch genau das wollte ich vermeiden, sie sollte sich nicht anders oder sogar seltsam fühlen, sie sollte glücklich sein. In ihrem Alter und unter ihren Freundinnen waren es nun einmal Dinge wie Barbiepuppen, Playmobil und all so ein Kram, der Glück verbreitete, der die Kinderaugen zum Strahlen brachte und ich wollte nicht, dass dieses Strahlen erlischt. Zwar musste ich mich dafür im Einkaufszentrum ab und an einem Risiko ergeben, aber solange ich nicht erwischt wurde, war alles in bester Ordnung.
Sie war eben erst fünf, sie wusste nichts vom Leben oder von den Problemen, genauso wenig wie ich damals und so sollte es auch eine lange Zeit bleiben. Nichts sollte ihr schönes Weltbild zerstören, in welchem ein selbst ausgedachter Streit zwischen Barbie und Ken das Schlimmste war. Ich wollte das so lange wie möglich aufrechterhalten, länger, als diese Illusion bei mir angehalten hatte. Niemals sollte sie das Gefühl haben, von einer Lawine erdrückt zu werden, niemals sollte sie sich einsam fühlen oder glauben, allein zu sein. Ich wollte nicht, dass sie dieselben Narben sammelte, wie ich. Ich wollte nicht, dass sie sich jemals für das, was in unserem Leben passiert ist, die Schuld gibt, denn sie konnte da nichts für. Zu dem Zeitpunkt war sie noch gar nicht auf der Welt, also wenn überhaupt, dann war es meine Schuld.
Ich versuchte, die Gedanken abzuschütteln, setzte ein Lächeln auf und betrat die kleine Bäckerei, die erst vor wenigen Minuten die Pforten geöffnet hatte. ,,Guten Morgen Harry, dasselbe wie immer?", begrüßte mich Grace sofort, von der ich zwar nicht wusste, wie sie jeden Morgen um solch eine frühe Uhrzeit schon gute Laune haben konnte, aber sie war definitiv ansteckend. Ich befreite meine Hände aus den Handschuhen, zog mir die Mütze vom Kopf, schüttelte den Schnee ab und lächelte sie an. ,,Ja, aber ich habe noch etwas Zeit, also nehme ich noch eine heiße Schokolade und setze mich kurz hin." Ich war bisher der einzige Kunde im Laden, also machte Grace sich sofort an meine Bestellung, während ich mich ans Fenster setzte und nach draußen schaute. Es würde noch einige Zeit dauern, bis es hell werden würde, in spätestens einer Stunde musste ich aber wieder zu Hause sein, denn dann ging Gemmas Wecker.
Diese Bäckerei, fünfzehn Minuten Fußmarsch von Zuhause entfernt, besuchte ich jeden Morgen, holte Gemma Frühstück, ein belegtes Brötchen, und außerdem ihr Proviant für die Schule, meist ein Croissant, manchmal auch mit Schokoladenfüllung. Ich könnte mir niemals leisten, hier jeden Tag einzukaufen, deshalb hatte ich mit Grace, welche die Bäckerei besaß, ein kleines Abkommen geschlossen. Jeden Sonntagmorgen, wenn Gemma noch schlief und die Bäckerei noch geschlossen hatte, kam ich her und putzte den gesamten Laden. Dafür hatte ich dann die gesamte Woche über Verpflegung für Gemma, zumindest für den Morgen. Mittags und Abends etwas auf den Tisch zu kriegen, war dann schon wieder etwas anderes.
,,Bitteschön Harry", Grace stellte mir eine dampfende Tasse Kakao hin und legte die Tüte mit Gemmas Frühstück daneben. ,,Danke dir", schnell legte ich meine kalten Finger um die heiße Tasse und wärmte mich daran auf. ,,Ich habe dir auch ein Brötchen eingepackt, du siehst so dünn aus", die ältere Dame lächelte mich herzlich an und ehe ich widersprechen konnte, verschwand sie wieder hinter die Theke, da nun die ersten Kunden kamen. Irgendwann, wenn ich konnte und die Möglichkeit dazu hätte, wollte ich ihr zurückgeben, was sie für mich tat. Sie war ein herzensguter Mensch und würde mich wahrscheinlich sogar bei ihr wohnen lassen, wenn ich obdachlos wäre.
Sobald ich meine heiße Schokolade aufgetrunken hatte, musste ich auch leider schon wieder zurück in die Kälte. Ich bedankte mich noch einmal bei Grace, wünschte ihr einen schönen Tag und fand mich dann an der frischen Luft wieder. Es hatte aufgehört zu schneien, kalt war es aber dennoch, weshalb ich schnell den Nachhauseweg antrat. Unsere Wohnung war klein, das Gegenteil von Luxus und es war ein Wunder, das Gemma und ich uns kein Zimmer teilen mussten, aber London war nun einmal teuer, auch wenn wir nicht im Zentrum wohnten. Zum Glück hatte ich die Heizung angemacht, bevor ich gegangen war, dadurch war es jetzt angenehm warm in der Wohnung und Gemma würde nicht frieren, sobald sie aufwachen würde. Da das erst in fünfzehn Minuten der Fall war, kümmerte ich mich um ihr Frühstück, packte ihre Brotdose für die Schule und aß dann das mit Salami belegte Brötchen, welches Grace mir eingepackt hatte.
Gerade, als ich den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte, hörte ich Gemmas Wecker und machte mich deshalb lächelnd auf zu ihrem Zimmer. ,,Guten Morgen Prinzessin", rief ich, sobald ich in den Raum kam, erhielt dafür nur ein Grummeln und einen müden Blick aus den Knopfaugen meiner Schwester. ,,Schau mich nicht so an, es hat geschneit", sagte ich fröhlich und bekam sie damit sofort aus dem Bett. Sie rannte zum Fenster und blickte runter auf die Straße, die so aussah, als wäre sie weiß angemalt worden. ,,Oh Harry, können wir heute einen Schneemann bauen? Bitte?" ,,Gemma", lachend beobachtete ich den kleinen Wirbelwind, ,,du gehst doch heute nach der Schule mit zu Emma. Und ich bezweifle, dass der Schnee liegen bleibt, heute sollen noch bis zu zehn Grad werden, wir haben schließlich erst Anfang Dezember. Aber mach dir keine Sorgen, in zwei Wochen bleibt der Schnee sicher liegen und dann können wir gerne so viele Schneemänner bauen, wie du möchtest."
Gemma war zwar traurig, dass der Schnee wohl bald wieder schmelzen würde aber sie freute sich jetzt schon darauf, wenn der Dezember voranschreiten würde. Schließlich war dann auch Weihnachten, ein Fest, um welches ich mir jetzt schon Sorgen machte. Dies versuchte ich aber alles erst einmal zu überspielen, stattdessen half ich Gemma, Klamotten für den Tag rauszusuchen und während sie sich anzog, ging ich in die Küche und schenkte ihr ein Glas Orangensaft ein, was ich ihr zum Frühstück stellte. Das Brötchen verputzte sie auch gleich, nachdem sie fertig angezogen in die Küche kam und nachdem auch die Zähne geputzt waren, ging es eigentlich los zur Schule.
,,Ist Mama schon zu Hause?", fragte Gemma jedoch, kurz bevor wir die Wohnung verlassen konnten und hielt uns damit auf. ,,Ich glaube nicht Gem, aber heute Abend, wenn du von Emma zurück bist, bestimmt", versuchte ich sie aufzuheitern, in der Hoffnung, das meine Mutter dann nicht schon wieder unterwegs war. Ich erzählte Gemma immer, das unsere Mutter Nachts arbeiten musste, für die Wahrheit war sie aber noch zu klein, viel zu klein. Traurig schaute Gemma zu der Tür, die ins Schlafzimmer unserer Mutter führte und ich wünschte, die ganze Situation wäre anders. ,,Komm Gemma, oder möchtest du den Schnee etwa verpassen?", fragte ich sie, in der Hoffnung sie abzulenken und zum Glück klappte es. Sofort kehrte das Strahlen in ihre Augen zurück und mit mir an der Hand stürmte sie nach draußen, wo der erste Schnee des Jahres auf uns wartete. Für ihr Lachen, für das Glück, das sie empfand, tat ich, was ich tun musste, dafür überlebte ich.
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Herzlichen Willkommen bei einer neuen Story von mir!❤
Es freut mich sehr, dass ihr hergefunden habt und ich hoffe, das erste Kapitel hat euch soweit gefallen. Lasst mir gerne eure Rückmeldung, in Form von Votes und Kommentaren, und Vermutungen zum weiteren Verlauf da, genauso wie zu Harrys Geschichte, solltet ihr da etwas im Kopf haben. Es würde mich sehr interessieren, was ihr denkt.
Ich hoffe, ein paar von euch werden mich beim Schreiben dieses Buches begleiten!❤
Danke noch an lashton_fever für das Cover und allgemein für deine Hilfe!❤
All the love xx
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