Martha Clockworth
Als die Polizei mich am Straßenrand aufsammelte, wehrte ich mich nicht. Ich ließ mich von ihnen in den Streifenwagen verfrachten und sprach die gesamte Fahrt über kein einziges Wort, stattdessen starrte ich schweigend aus dem Fenster.
So sah ich ihn zum ersten Mal.
Er wurde von einer Frau in einem ockerfarbenen Mantel begleitet, die auf ihren hochhackigen, sandfarbenen Schuhen energisch vor ihm her stöckelte.
Den Kopf hielt er gesenkt und sein schwarzes Haar hing ihm tief ins blasse, zerschrammte Gesicht.
Trotz des weiten, schwarzen Hoodies konnte man deutlich erkennen, wie dünn er war.
Er wirkte verloren, verletzlich.
Als seine Begleiterin sich zu ihm umdrehte und ihn anfauchte, zuckte er heftig zusammen und zog den Kopf ein.
Dann fuhren wir um die Ecke und ich verlor ihn aus den Augen.
Angekommen wurden zunächst meine Taschen durchsucht, doch das einzige, was die Beamten fanden, war ein Schülerausweis auf den Namen Martha Clockworth.
Von dem Bild grinste mich ein sommersprossiges Mädchen mit rotblondem Haar schelmisch an und ihre wasserblauen Augen blitzten.
"Clockworth?", fragte einer der Beamten verdutzt, während sein Kollege zischte: "Hab' dir doch gesagt, dass das Mädel mir bekannt vorkommt!"
Dann wandte er sich mir zu und sagte: "Ich hole deinen Vater. Vielleicht erzählst du ihm ja mehr."
Mein Vater?
Der Beamte verließ den Raum und im nächsten Moment traf sie mich. Die Erinnerung.
Sie kam so plötzlich und so schmerzhaft wie ein Schlag ins Gesicht.
Alles um mich herum verschwamm. Ich bekam noch mit, wie ich vom Stuhl kippte und auf dem harten Boden aufschlug, mein Kopf hämmerte als würde er jeden Augenblick zerspringen und plötzlich tauchte vor meinem inneren Auge ein Gesicht auf. Es war das Gesicht eines ca. fünfzigjährigen Mannes mit tiefen Stirnfalten und leicht angegrauten blonden Haaren und erstaunlich klar zu erkennen. Ich hörte einen dumpfen, undeutlichen Ruf, der ein bisschen wie "Martha!" klang.
Und gerade als ich glaubte, die Schmerzen nicht mehr lange aushalten zu können, verschwanden sie, so schnell und plötzlich wie sie gekommen waren.
Als ich in das Gesicht über mir blickte, bekam ich einen kleinen Schreck, den es war das Gesicht, dass ich vorhin gesehen hatte.
"Martha! Was tust du hier?"
Ich ließ ein leises Stöhnen hören.
"Was ist passiert?"
Ich war noch zu verstört um irgendetwas zu sagen, weshalb ich dankbar war, dass einer der anwesenden Polizisten die Situation noch einmal zusammenfasste.
"Eingebrochen? Meine Tochter?" Der Mann aus meiner Erinnerung, mein Vater, warf mir einen verletzten Blick zu.
"Aber warum denn?"
Ich massierte leise stöhnend meine Schläfen.
Dann erklärte ich: "Ich habe keine Ahnung."
"Vermutlich einfach irgendeine dumme Mutprobe, so wie's momentan aussieht ist jedenfalls nichts gestohlen worden", warf jemand ein.
"Eine Mutprobe?" Mein Vater guckte zweifelnd, dann meinte er bestimmt: "Meine Tochter tut so etwas nicht, stimmt's?" Er blickte mich flehend an, als hoffte er, ich würde ihn bestätigen.
Ich ging blitzschnell im Kopf meine Möglichkeiten durch. Die Nummer mit dem Gedächtnisschwund würde man mir hier ziemlich sicher nicht abnehmen, wenn ich aber behauptete, es sei wirklich bloß eine Mutprobe gewesen, kam ich vielleicht mit einer Verwarnung davon.
"Es... es tut mir leid. Ich weiß, es war dumm von mir, zuzustimmen", erklärte ich und warf meinem Vater einen entschuldigenden Blick zu.
"Ich sollte nur einmal kurz rein, aber dann wurde ich erwischt."
"Zustimmen? Wem zustimmen? Wurdest du etwa dazu gezwungen, das zu machen?", fragte mein Vater.
"Naja, sie... haben mich schon ziemlich gedrängt", flunkerte ich. "Aber im Grunde hatte ich die Wahl."
"Wer, sie?"
"So'n paar Typen aus dem Park."
Er wirkte nicht so, als würde er mir glauben, sagte aber nichts dagegen.
"Weißt du was? Manchmal würde ich dir echt gern eine runterhauen", knurrte mein Vater, als wir später im Auto saßen. "Weißt du eigentlich, wie lange es gedauert hat, dich da rauszuschlagen?"
Ich zuckte mit den Schultern. Natürlich wusste ich, wie lange es gedauert hatte, schließlich hatte ich die ganze Zeit im Nebenzimmern gesessen und gewartet. Aber ich würde jetzt erstmal schön die Klappe halten, bevor er seine Drohung noch wahr machte.
"Du warst doch früher auch nicht so! Du warst so ein braves Mädchen!"
"Ich weiß ja, dass es dumm war, ich glaube, ich wollte einfach mal ein bisschen Spaß haben", rechtfertigte ich mich und versuchte dabei, so glaubwürdig wie möglich zu klingen. Es schien jedenfalls zu funktionieren.
"Dumm, unverantwortlich und gefährlich! Und noch dazu schädlich für meinen Ruf! Die Tochter des Polizeipräsidenten, eine Einbrecherin! Das hätte ich wirklich nicht erwartet!"
"Ich... die Typen im Park sagten, es wäre niemand zuhause", murmelte ich gespielt kleinlaut.
"Und was interessieren dich die Typen im Park?!", blaffte er. Ich zog stumm die Schultern hoch und fürchtete, dass die Wahrheit sagen wohl doch die besser Option gewesen wäre. Tja, das hatte ich jetzt davon.
***
"Fernsehverbot, drei Wochen! Und deinen Laptop kassiere ich auch ein!"
Ich seufzte erleichtert. Das ging ja noch. So, wie die Dinge momentan standen, war derlei Zeug sowieso nebensächlich.
In dem Moment steckte ein kleiner Junge den Kopf zur Tür herein und quiekte begeistert: "Wieso kriegt Martha Fernsehverbot?"
"Das musst du nicht wissen, Tim", entgegnete mein Vater müde.
Wir standen im gemütlich eingerichteten Wohnzimmer einer Doppelhaus-Hälfte und mittlerweile war es ziemlich spät und wir waren beide erschöpft.
"Ich will's aber wissen!", krähte die kleine Ratte.
"Timothy, bitte."
Timothy zog eine Grimasse. "Jetzt kann ich drei Wochen lang entscheiden!", verkündete er dann, setzte ein triumphierendes Grinsen auf, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand.
Mein Vater schenkte mir ein müdes Lächeln.
"Du bist bestimmt ziemlich fertig. Wir sprechen da morgen nochmal drüber. Geh jetzt schlafen."
Dann ließ er sich mit einem Seufzen aufs Sofa fallen und schloss die Augen. Ich blieb unschlüssig stehen. Ich hätte im Moment nichts lieber getan, als endlich ins Bett zu gehen, hätte ich nur gewusst, wo selbiges war.
"Na los, worauf wartest du noch?
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