Kapitel 1
Die Vögel zwitscherten, der Himmel war in ein sanftes Rot getaucht und neben dem Pfad, auf dem Louis ging, sprossen wunderschöne Blumen. Verträumt sah er nach oben, in die schönen Rottöne, und fragte sich, ob er wohl jemals von Zuhause weg kommen würde. Es hielt ihn eigentlich nichts mehr in Pengton, in seinem Geburtsdorf. Es war nur eine kleine Ansiedlung, die zu Caston gehörte, doch sein Vater sagte immer, Pengton sei größer als Caston, obwohl das überhaupt nicht ging. Allein ein kleiner Teil der großen Stadt umfasste fünfzehn Quadratkilometer, und Pengton hatte gerade mal einen. Seufzend senkte er den Blick auf den Boden, beobachtete seine Füße, die ihn immer in gleichem Tempo nach vorne trugen. Vielleicht könnte er abhauen. Für einen Moment fühlte er sich in der Lage, alles hinter sich zu lassen, den Zorn seines Vaters auf sich zu nehmen, einfach zu rennen. Doch kurz danach wurde er unsicher. Louis war noch nie so jemand gewesen, der Dinge tat, die man nicht tun durfte. Das sah Liam eher ähnlich. Dort kam er nun auch an, klopfte an der Tür und wartete. Das Haus der Payne's war groß und schick eingerichtet; mit seinen fünf Stockwerken galt es als das größte in ganz Caston. Louis biss sich auf die Unterlippe, um sich den Neid nicht anmerken zu lassen. Von drinnen ertönte Gepoltere, und kurz darauf wurde die Tür aufgerissen; Liam sah ihn gestresst an, doch als er registrierte, dass Louis vor ihm stand, überzog ein breites Grinsen sein erwachsenes Gesicht. „Louis!", rief er freudig aus, zog ihn in eine feste Umarmung und drückte ihm einen Schmatzer auf die Wange. „Ihhh, Li!", beschwerte sich der Kleinere, und sah ein ihm unbekanntes Mädchen hinter Liam lächelnd an, das ihm kurz zuwinkte. Er lief knallrot an, senkte verlegen den Blick und musste sich sein Gelächter anhören. „Rachel, das ist Louis. Louis, das ist Rachel." Schmunzelnd beobachtete er, wie Louis zögerlich Rachel's Hand nahm, einen sanften Kuss darauf hauchte und sie einen Knicks machte. „Freut mich, Louis.", sagte seine Schwester mit glockenheller Stimme und zwinkerte ihm aus funkelnden Augen zu. Louis erwiderte die Geste mit einem schüchternen Lächeln, seine Wangen waren noch immer in ein blasses Rosa getaucht. Liam grinste und boxte leicht an Louis' Oberarm. „Jetzt hör auf, meine Schwester anzustarren, du Zwerg!" Schmollend verschränkte der Angesprochene die Arme vor der Brust, doch als Liam endlich fertig war, sich die braunen Lederstiefel und eine Jacke anzuziehen, spürte er Vorfreude in sich aufwallen. Heute würden sie zum Fluss Lea wandern, dort ein Floß bauen und dann ein wenig auf dem eiskalten Wasser treiben. Schon als kleines Kind hatte er immer davon geträumt, doch seine Mutter hatte es ihm nicht erlaubt, da er noch viel zu klein war, um auf einem ‚solch großen Gefährt' zu fahren, wie sie es zu sagen pflegte. „Jetzt komm schon!", lachte Louis und zog Liam mit sich mit, der nur kopfschüttelnd hinter ihm her stolperte. „Du kannst es nicht abwarten, was?" Louis schüttelte nur hektisch mit dem Kopf, was seinen besten Freund zum Grinsen brachte. „Nur weil du heute achtzehn geworden bist, heißt das nicht, dass du alles tun darfst, Kleiner." Sofort blieb Louis stehen und stemmte die Hände in die Hüfte. „Nur weil du ein Jahr älter bist, heißt das nicht, dass du mich die ganze Zeit ärgern musst!" Stur starrten die beiden sich an, doch dieses Mal war Liam derjenige, der nachgab und Louis die Genugtuung gab, die er ab und zu brauchte. Zufrieden grinsend stapfte er weiter den Weg entlang, ein schmollender Liam folgte ihm. Eigentlich war er immer derjenige, der die Autorität hatte. Da sein Vater der oberste Fürst von ganz Falkenberg war, wurde er immer respektvoll behandelt und hatte noch nie Probleme mit irgendjemandem aus der Unterschicht gehabt. Wobei es für ihn keine Unterschicht gab, denn seine Mutter hatte ihm gelehrt, alle Menschen als gleich anzusehen, obwohl sein Vater ihm von Anfang an eingetrichtert hatte, dass es drei Schichten gab: Die Oberschicht, die alle Reichen einschloss, die Mittelschicht, die von Bürgern belegt war, und die letzte und unbeliebteste Schicht: die Armen oder Wertlosen, wie sein Vater sie immer beschrieb. Liam schüttelte nur verständnislos den Kopf über die Denkweise des Fürsten. Wenn er das Zuhause getan hätte, hätte er mit Sicherheit eine Backpfeife dafür kassiert. Aber als Louis ihn anstubste, kam er wieder in das Hier und Jetzt zurück und sah ihn verpeilt an. „Was?" Louis schmunzelte. „Wir sind da." Mit großen Augen sah Liam sich um; schon seit ein paar Jahren war er nicht mehr hier gewesen, und als er den mindestens zwanzig Fuß breiten Fluss sah, welcher an den Ufern komplett von Farnen und Moss überdeckt war, musste er automatisch lächeln. Sein Blick fiel auf das Wasser, und seine Miene wurde unsicher. „Louis, meinst du nicht, wir sollen an einem anderen Tag das Floß aufbauen?" Doch als der Angesprochene ihn unzufrieden anfunkelte, hielt er lieber den Mund. Er kannte seinen besten Freund gut genug um zu wissen, wann es Schluss mit diskutieren war; und so war es jetzt gerade. Also half er Louis, das Floß zu bauen, und nach und nach vergaß er die Unsicherheit.
Fünf Stunden später, nachdem sie vier Bäume gefällt, einen dünnen in Streifen geschnitten und die Bäume aneinander gebunden hatten, betrachteten die beiden Jungs ihr Werk stolz. „Da würden bestimmt fünf Leute drauf passen! Wenn die Händler das sehen würden..." Louis biss sich auf die Lippe. Sie würden bestimmt eine Menge dafür bezahlen, um über den Fluss zu gelangen. Langsam und vorsichtig schoben die beiden das Gefährt in das Wasser und stiegen schnell selbst auf, bevor es ihnen davon schwomm. Louis hielt den langen Stab in den Händen und drückte ihn ab und zu ins Wasser, um die Schwimmrichtung zu kontrollieren. „Lou, ich glaube, das war keine gute Idee...", murmelte Liam unsicher, als das Floß ein wenig hin und her geschleudert wurde. „Ach Quatsch! Du machst dir viel zu große Sorgen, Li. Genieß es doch einfach, diese Möglichkeit bietet sich dir nicht mehr so oft!" In dem Punkt musste Liam ihm zustimmen, weshalb er nichts mehr dazu sagte; doch als das Wasser immer schneller und der Strom stärker wurde, stieg Panik in ihm auf. „Louis, wir müssen hier raus!" Langsam schien auch Louis zu bemerken, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. „Ja, aber wie? Das Ufer ist mindestens zehn Fuß entfernt!" Verzweifelt schnappte Liam sich den Stock aus den Händen des Kleineren und versuchte, durch Paddeln an das Ufer zu kommen. Dass dieses Vorhaben unmöglich war, wusste er genau so gut wie jeder andere, der jetzt in dieser Situation wäre. „Liam, vor uns!", schrie Louis plötzlich panisch, denn genau vor ihnen ragte ein riesiger Felsen aus dem Wasser. Liam hatte jedoch keine Zeit mehr, um zu antworten, denn das Floß zersplitterte in zwei Teile, und das letzte, das er von Louis sah, war sein brauner Haarschopf, bevor auch er unter Wasser gezogen wurde.
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