11. Manche versinken in Tränen, ich misshandelte Plakate
Schweißgebadet wachte ich auf. Alles um mich herum war stockdunkel.
War ich tot?
Doch die weiche Matratze unter mir ließ mich aufatmen. Wäre ich tot, würde ich Meter weit unter der Erde liegen und von Ungeziefer aufgefressen werden. Und das Wichtigste: Ich könnte nicht denken! Also war ich mir sicher nicht tot zu sein.
Tollpatschig tastete ich nach meinem Handy. 2 Uhr morgens. Na Super! Ich hatte noch mindestens Stunden Zeit mich wieder ins Land der Träume zu befördern. Doch mit dem Traum in meinem Kopf, werde ich wohl die nächsten Wochen nie wieder ein Auge zumachen. Man könnte meinen ich hätte von Monstern, wilden Kannibalen, Mördern oder gar von Calvin geträumt. Aber es war noch viel schlimmer. Schade dass es für Träume keine Gästeliste gab. Eine Tür, vor der ein muskelbepackter Kerl stand und dafür sorgte dass gewisse Menschen sich nicht in meine Träume schlichen. Bei dem Gedanken an die fünf Gesichter, wurde mir wieder schlecht. Jetzt hatte ich nicht mal in der Nacht Ruhe vor denen.
Kurz vor sechs schlief ich dann doch ein. Nur um dann, ein halbe Stunde später, von meinem Wecker geweckt zu werden. Trotz der voll aufgedrehten Heizung, bibberte ich am ganzen Körper. Fluchend durchwühlte ich meinen Kleiderschrank, bis ich es fand. Mein allerliebster Lieblingspullover. Abgesehen davon dass er das Kuscheligste war, was mein Körper je berührt hatte, brachte mich das rote Ahornblatt darauf immer wieder zum Lächeln.
Angezogen in meinem tröstenden Lieblingsoutfit, blieb ich vor der Treppe stehen und versuchte die Müdigkeit zu verscheuchen. Bis mehrere Stimmen im Wohnzimmer mich meine Schritte beschleunigen ließen. Ich spürte wie sich, trotz warmen Pullis, eine Gänsehaut in mir ausbreitete. Bitte lass es nicht die sein! War es nicht schon schlimm genug, dass sie mir das Verhältnis zu meinem Bett kaputt gemacht haben?
Im Flur angekommen, schnappte ich mir einen der Regenschirme an der Kommode und atmete tief durch. Ruhig Leia! Ich wusste schon mal dass ich es mit zwei von ihnen aufnehmen könnte. Sollte es Probleme mit den restlichen Dreien geben, werde ich einfach die Polizei rufen. Den Regenschirm wie einen Schlagstock haltend, schlich ich mich vorsichtig ins Wohnzimmer. Die Stimmen wurden immer deutlicher und ich war mir jetzt 100%ig sicher dass es sie waren. Man merkte das die Müdigkeit meinem Hirn nicht gut tat. Ich stand am Türrahmen mit einem Regenschirm in den Händen, den ich wie ein Baseballschläger hielt, und benahm mich wie ein Auftragskiller.
Im Raum war keine Menschenseele und auch in der Küche war niemand zu sehen. Ein eindeutiges Zeichen dass ich mich wieder ins Bett legen sollte. Gerade als ich mich umdrehen wollte, hörte ich die Stimmen wieder. Erst jetzt viel mir auf, dass der Fernseher flackerte. Ich kam näher und sah Rory auf der Couch und mit großen Augen, die an der Glotze klebten.
Seit wann wusste er wie man einen Fernseher anmachte? Ich bereitete mich bereit darauf vor ihm eine Predigt zu halten. Doch als meine Augen seinem Blick folgten, ließ ich mich fassungslos neben ihm nieder. Die Müdigkeit hatte mich doch nicht wahnsinnig gemacht, die fünf grinsten mir von dem Bildschirm aus entgegen. Rory begann glücklich auf und ab zu wippen, während ich nur eine Grimasse zog.
¨Da ist One Direction!¨
Ich starrte ihn verwundert an. Nicht mal ich konnte mir den Namen dieser dummen Band merken, aber ein 4-Jähriger,den ich erst gestern abhalten musste aus dem Brunnen zu trinken? Es war ein Wunder dass der Giftzwerg um diese Zeit überhaupt wach war. Seine dunkelblonden Haare standen wirr nach allen Seiten ab und er trug noch seinen Pyjama mit den Astronauten drauf. Wäre er nicht so eine hochnäsige, egoistische Nervensäge, würde ich am liebsten meinen weiblichen Instinkten folgen und ihn in den Arm nehmen. Ich brummte etwas zur Antwort und richtete mich auf. Den Übeltätern meiner schlaflosen Nacht weiter in die Augen zu sehen, machte mich nur noch wütender.
¨Ich schlürfte in die Küche aber nicht ohne vorher Rorys Haare zu verwuscheln. Dieser schlug meine Hand weg und funkelte mich böse an.
Typische Mimose! Wenn es um die Frisur geht, werden selbst kleine Jungs eitel.
Wenige Minuten später hörte ich Musik und schielte vorsichtig ins Wohnzimmer. Doch die Szene die sich da bot, hätte ich mir auch sparen können. Rory stand wenige Meter vom Fernseher entfernt und schien schlichtweg begeistert von dem Gesang der Trottel zu sein. Verräter! Der einzige Mensch der mich unterstützen konnte, war auf der Seite des Feindes. Es war mir ein Rätsel, wie so viele weibliche Wesen diese Typen anhimmeln konnten. Von der Musik her wirkten sie eher wie eine Massenproduktion von Justin Biebers. Ein zukünftiger Schwager war genug in meinem Leben. Mit weiteren fünf von der Sorte würde ich mich freiwillig begraben lassen. Am Eingang hörte ich wie der Briefschlitz quietschte, und rannte erwartungsvoll zur Tür. Mir war zwar klar, dass es sich zu 90% um Rechnungen handelte, aber lieber holte ich die Post als Rory dabei zu zusehen wie er zu einem männlichen Fangirl mutierte.
Wie erwartet nichts als Rechnungen, doch ein Brief war schwerer als die anderen. Er wurde an mich adressiert aber es gab keinen Absender. Die Panik packte mich.
Briefbomben?
Invasion von durchgeknallten Groupies?
Wie hatten die meine Adresse herausgefunden?
Ich war noch nicht bereit zu sterben und wenn dann möchte ich den Idioten vorher gehörig in den Hintern treten.
Vorsichtig zupfte ich an den Umschlag und kniff die Augen zusammen. Doch meine Angst war unbegründet. Kein Knall und an meinem Körper schien noch alles dran zu sein.
Ich öffnete wieder die Augen und blickte schmunzelnd auf die Fotos in meiner Hand.
Ich schob meine Paranoia allein auf die Müdigkeit. Ich war wie ein Kleinkind. Ohne meinen täglichen Schlaf war ich aufgeschmissen, gereizt, launisch, paranoid und schrecklich dramatisch. Schade nur dass man mir nicht einfach einen Schnuller in den Mund stecken konnte. Immer noch lächelnd stützte ich mich an der Wand ab und betrachtete die Fotos. Die meisten zeigten meine kleine Schwester Elfie. Manchmal merkt man erst wie sehr einem etwas fehlt, wenn man es sieht. So ging es mir gerade. Obwohl ich Rory den ganzen Tag um mich hatte, vermisste ich meine Fee. Zwar tat es mal gut ein paar Monate zu leben, ohne dabei blaue Flecken und kleine Gehirnerschütterungen von ihrem heiligen, magischen Plastikstab zu kassieren. Doch auch wenn ich es nie zugeben würde, mir fehlten unsere schrägen Barbie-Nachmittage. Wenn sie den armen Ken auszog, ihn auf Barbie legte und ihnen befahl "Liebe" zu machen. Was von außen wie sexuelle Nötigung aussah, war für Elfie eine normale Art "Familie" zu spielen. Es ist leider wahr.
Meine kleine Schwester war, was Aufklärung anging, um einiges informierter als so manche Mädchen in meinem Alter. Ich beneidete sie etwas für die lockere Art mit diesen Dingen umzugehen. Ich dagegen lief in solchen Situationen dunkelrot an und versuchte sie abzulenken. Oder besser gesagt mich abzulenken. Was für eine tolle, große Schwester ich doch war. Das Lächeln wurde zum Grinsen als ich ein Foto meiner Mutter sah. Ich witterte das als gutes Zeichen. Ein Zeichen das Elfie in ihrer Pubertät beiden Elternteilen auf die Nerven gehen konnte. Ein Zeichen dass wir Weihnachten nicht damit verbringen mussten, zwischen Mom und Dad hin und her zu fahren. Doch dies war falsch von mir. London schien mich um einiges naiver gemacht zu haben. Mein Lächeln mutierte zu einer Grimasse. Das nächste Foto zeigte meinen Vater und in seinen Armen eine Frau mit wasserstoffblonden Haaren. Ich sah genauer hin, in der Hoffnung mich zu täuschen. Doch meine Mutter hatte weder schlecht gefärbte Ansätze, noch war sie Anfang 20.
Wie automatisch griff ich zum Telefon und rief Raj an. Keine zehn Minuten später stand er vor der Tür. Das war einer der Gründe warum ich Raj so mochte. Ohne nachzufragen setzte er sich zu Rory ins Wohnzimmer, während ich mir meinen Mantel anzog. Meine Finger umklammerten dabei immer noch den Umschlag. Calvin hatte mich dabei beobachtet und ließ seine Leine mürrisch vor meine Füße fallen. Mir war klar dass er sein Geschäft erledigen wollte, aber auch der Köter wurde misstrauisch als ich ihn ohne Kommentar anleinte.
Starr zog ich ihn hinter mir her und er folgte mir stumm.
Ihm war wohl klar, dass wenn er mir nicht gehorsam folgte, er sich aus Versehen selbst erwürgen würde.
Ich wusste nicht genau wohin ich lief, mein Körper verlangte einfach Bewegung. Wir befanden uns schon mitten in der Stadt und Calvins Schnaufen hinter mir, bestätigte dass wir eine große Strecke zurückgelegt hatten. Etwas in mir verkrampfte sich und ich blieb stehen. Neben mir an der Wand hing ein riesiges Werbeplakat.
Old couples make you realize, someone can love you forever.
Abgebildet waren mehrere Pärchen in den verschiedensten Altersstufen. Gegenüber der Wand befand sich eine Bank, fast so als ob diese nur auf mich gewartet hätte. Müde ließ ich mich auf sie fallen und starrte weiter auf das Plakat. Das nenne ich perfektes Timing!
Ich war schon seit Monaten auf diesen Moment vorbereitet gewesen, aber trotzdem traf es mich wie ein Schlag ins Gesicht. Eine sehr freundliche Art und Weise seiner Tochter die neue Flamme vorzustellen!
Obwohl ich irgendwie das Gefühl hatte dass dieses Foto nie hätte zu mir kommen sollen.
Ich zog es aus dem Umschlag und sah mir die Gesichtszüge meines Vaters an. Sein Lächeln war ehrlich und aufrichtig. Ganz anders als vor einem Monat. Anders als vor einem halben Jahr traf es genauer.
Man sah ihn zwar lächelnd , doch es hatte lange nicht mehr bis zu seinen Augen gereicht.
Meine Kehle schnürte sich zu. Normale Menschen hätten jetzt geweint. Irgendwo, auf einer Bank, ohne eine Menschenseele. Wo gab es eine bessere Lokation um sich die Augen aus dem Kopf zu heulen?
Ich kniff die Augen zu und versuchte meine Tränendrüse auszupressen. Doch ohne Erfolg. Nicht das dieser Moment nicht emotional genug war, aber ich war unfähig zu weinen. Das letzte Mal als Tränen über mein Gesicht liefen war Jahre her. So lange dass ich mich nicht mal erinnern konnte. Vielleicht im Kleinkindalter? Es gab nie einen wichtigen Grund für mich zu weinen. Es ist nie ein nahe stehender Mensch in meiner Nähe verstorben und auch als Kind habe ich meine Traurigkeit eher mit meinem Mund, statt mit meinen Augen gezeigt.
Noch ein Zeichen dass ich eindeutig unnormal bin. Welcher normale Mensch hatte schon eine angeborene Abneigung gegen Liebe und lebte mit der Unfähigkeit zu Weinen?
Stimmt, niemand!
Ich war ein gefühlskalter Roboter! Man sollte mich in einen Käfig sperren und als Jahrmarktattraktion benutzen.
Ich gab meinen Versuch zu weinen auf und begann stattdessen das Foto in einzelne kleine Stücke zu zerreißen.
Die Beziehung meiner Eltern war für mich Beweis genug, dass ich Recht hatte.
Liebe bedeutet gar nichts.
Ein angebliches Gefühl, dass Menschen einfach zu Irren machte.
Wütend kramte ich in meiner Tasche herum und fand Stifte die Rory vor ein paar Tagen im Kindergarten gebraucht hatte. Mit pochendem Herzen steuerte ich auf das Plakat zu und ließ meiner Kreativität freien Lauf. Die Frauen bekamen Schnurrbärte. Die Männer dagegen sahen aus, als hätten sie zu viele weibliche Hormonpillen geschluckt. Jeder bei dem ich trotz meiner kleinen Größe rankam, hatte seine persönliche Schönheits-OP von mir bekommen. Um meine Wut noch mehr zum Ausdruck zu bringen, fluchte ich leise vor mich hin und machte Geräusche, die eher einer Raubkatze mit Tollwut glichen.
Ich trat ein paar Schritte zurück und betrachtete ,mit unregelmäßig hebend und senkendem Brustkorb, mein Werk.
"Aggressionsprobleme?"
Ich war so beschäftig mit meiner Arbeit gewesen, dass ich nicht merkte das Calvin nicht mein einziger Beobachter war.
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