2: Take me home, country road
März 991
„Sieh nur, Nat, ein Reh! Da ist es! Da!" Rotes Haar flog durch die Luft, begleitet von einem begeisterten Kichern. Vereinzelt ließen sich sogar winzige Sommersprossen ausmachen, welche ihre schmale Nase umspielten und sie oft fröhlich wirken ließen. Aus großen, grünen Augen sah sie dem scheinbaren Reh nach und hüpfte schon los, um nachzusehen, wohin es denn laufen würde. „Hiergeblieben." Mit schneller Handbewegung schnappte ich mir den Kleidkragen in ihrem Nacken und hielt sie zurück, und so sehr sie sich doch wehren mochte, sie konnte sich nicht befreien.
Etwas beugte ich mich zu ihr runter und stützte meine Hände auf meine Beine. „Es läuft zu weit. Wir sind jetzt schon zu weit im Norden. Wenn uns hier wilde Tiere erwischen, oder Plünderer!" „Plünderer? Du bist albern." Erneut lächelte mich die Siebenjährigen an, jedoch mit einer leicht frechen Miene. Kurz irritierte mich ein verräterisches Aufblitzen in ihren Augen, dann landete ich auch schon auf meinen vier Buchstaben. Tatsächlich hatte sie mich doch in diesem unbeachteten Moment umgeworfen...
Und sie wartete keinen Moment zu lange. Freudig lachend rannte sie weg, durch Sträucher und über den nächsten Hügel, dann kletterte sie auf den Felsen hinter mir. Das fiel mir erst auf, als ein Schatten auf mich geworfen wurde und ich dem Verursacher entgegenblinzelte. „Traust du dich nicht, direkt gegen mich zu kämpfen?" Herausfordernd sah ich zu ihr hoch. Ihr Gesicht konnte ich nicht erkennen, doch ich hörte, dass ihre Stimmung etwas gedämpft wurde, ehe sie auch wieder begann zu mir hinunter zu klettern und ich für kurze Zeit geblendet wurde. „Mutter sagte, ich solle nicht kämpfen..."
Vorsichtig, Stück für Stück, ertastete sie sich weiter den Weg nach unten. Langsam trat ich näher. Sonst schien sie ein starkes Mädchen zu sein, wusste, was sie wollte und ließ sich nichts so schnell ausreden. Doch nun... Ihre Spielkameraden kannten oft ihre Unsicherheiten nicht. Ihre größten Sorgen, denn ja, diese könnten sie bei weitem nicht verstehen... Nicht so wie ich. Denn sie und ich... Wir waren gleich.
Und dann änderte sich was. Ganz plötzlich. Ein Vorsprung war rutschig und ließ ihren Fuß hinabgleiten. Mit einem erschrockenen Laut verlor sie somit auch jeglichen Halt und fiel... Doch ich war da. Ich versuchte sie zu fangen... Dabei stürzte ich selbst um und stieß mich an allerlei Stellen schmerzhaft an, doch bewahrte somit die Siebenjährige vor einem schlimmeren Aufkommen. Stattdessen lag ihr zarter Körper nun auf meinem. Durch den Stoff konnte ich ihr rasendes Herz spüren, ihr schneller Atem ging gegen meinen Hals... So blieb ich einfach liegen und hielt sie weiter fest. Dabei war ich ebenso erschrocken.
„Beinahe hätte ich dich nicht gekriegt... Du bist nicht unsterblich. Man würde mich umbringen, wenn du dich verletzt hättest... Weißt du, was Rijs sagen würde? Dass ich dich mit einem meiner Spielchen umgebracht hätte. Willst du etwa, dass ich nicht mehr mit dir spielen kann?" Eine Antwort erhielt ich nicht. Es war kein Schmollen, doch kam es auf ihrer Art etwas an dies heran.
Ganz plötzlich drückte sie mich noch mehr zu Boden, kniete mit einem Mal auf meinem Brustkorb und lächelte mich triumphierend an. „Du musst nicht auf mich aufpassen... Ich muss auf dich aufpassen, bevor dich die Plünderer holen."
Gespielt erschrocken sah ich zu ihr auf und hob etwas abwehrend die Hände. Ich liebte diese Zeit... Immer, wenn sie und ich alleine im Wald spielten, uns weiter weg trauten als wir durften und uns etwas spannendes überlegten. Ich hatte oft gute Ideen, und sie war oft auch noch neugierig, was als nächstes passieren würde, würde sie mit mir mitkommen. Leider passierte das immer weniger, jedenfalls hatte ich dieses merkwürdige Gefühl... Und die anderen? Sie spielten schon seit ein paar Jahren nicht mehr mit mir. Für die Siebenjährige gab es wohl zwei Welten... Meine und die der anderen. Für welche würde sie sich jedoch letztendlich entscheiden?
„Komm mit. Wir sollten zurück. Es wird langsam dunkel und das Essen will ich nicht verpassen." Widerwillig ließ ich sie aufstehen, ergriff ihre gebotene Hand und stand selbst auf. So schön meine Ideen auch waren, oft hatten sie Gegenspieler. Irgendwann war jeder Spaß vorbei...
Als sie sah, dass ich anscheinend eine etwas unglückliche Miene machte, nahm sie meine nur etwas größere Hand in ihre etwas kleinere Hand und führte mich mit durch den anscheinend sonst menschenleeren Wald. „Du, Nat... Gestern versprach ich ein paar der anderen Kindern, dass ich heute Abend mitspielen würde..." Ich glaubte, sie sah etwas unsicher aus. Sie fühlte sich wirklich schuldig... Somit versuchte ich nicht allzu... nun... allzu sehr ich zu sein.
„Ich verstehe..." Nein, ich verstand nicht. Nicht, wieso sie lieber mit solch langweiligen Kindern spielte, die so waren wie mein Zwillingsbruder Jonathan. Wieso? Machten ihre langweiligen Spiele mehr Spaß? Waren sie bessere Kameraden oder Aufpasser? Doch diese Frage wäre wohl auf ewig mein Begleiter...
„Eliza?" „Ja?" „Wir werden doch immer zusammen bleiben, richtig?" „Dummerchen... Wo sollte ich denn schon hingehen?"
Heute
Eine Sache, die wohl in Ewigkeit mein Begleiter sein würde: Diese kleine Angewohnheit, die man einfach nicht sein lassen konnte. Man kannte es ja. Man sah Süßigkeiten und musste sie immer essen. Oder als Ordnungsfreak musste man immer alles aufräumen. Es... ging nunmal nicht anders. So auch bei mir. Aber wer konnte mir meine Sucht schon übel nehmen? Meine Angewohnheiten waren nunmal seit sehr langer Zeit ein Teil von mir gewesen.
Viele Menschen würden sich bei meinem Lebenslauf und Lebensstil fragen, wie man nur so sein könnte. Doch ich frage mich eher, wie nur ich so scheinbar sein konnte. Doch die Meinung anderer war für mich schon in jüngsten Jahren so interessant wie ein Staubkorn für einen Fisch.
Ein Glück, dass so oder so kein Mensch meinen Lebenslauf, meine Taten, Erfolge und Misserfolge kannte... Nun... Jedenfalls galt dies für fast alle. Leider schien es auch nicht die Person zu wissen, die es am meisten unter allen wissen sollte. Sie musste es einfach wissen, doch war so blind, konnte es einfach nicht sehen und erkennen... Und nun hatte ich sie gefunden. Ich würde zu ihr gehen, obwohl es hätte anders herum sein müssen. Aber ich war niemand, der einfach alles geschehen ließ und die Zeit nicht störte. Ich war der, der Zeit schrieb, der Geschichte schrieb...
„Sie müssen das von Ihrem Vormund unterschreiben lassen, Mr..." „Bailey. Nathan Bailey." „Sind Sie neu in Amerika?" Die leicht angenervte und zu neugierige Frauenstimme der Person hinter dem Tisch riss mich aus meinen Gedanken und beförderte mich zurück in die Realität, um mich sogleich leicht wackelig antworten zu lassen. „Ich bin Europäer." Konnte man nicht zwei Sekunden nachdenken, ohne dass man sofort wieder angesprochen wurde, wegen solch nichtigen Dingen? Lächelnd legte ich den Kugelschreiber zurück, als ich merkte, wie sie die ganze Zeit meine Hand verkniffen anstarrte.
„Bringen Sie mir die Unterlagen am Freitag wieder. Wir werden Sie anrufen." Ihr Blick sah aus wie der einer Nonne in der Kirchd, wenn man gerade einen kritisierenden Plausch mit der Jesus-Statue hat. Wobei ich immernoch der Meinung war, dass diese eher wegen meiner Lautstärke fast das wichtigste der zehn Gebote gebrochen hätte.
Damit am nächsten Tag kein Amoklauf die Titelseite der Zeitung überschwemmen würde, lächelte ich einfach nur und legte meine Hand auf das Papier der Formulare auf dem Sekretariatstisch, welche sie immernoch mit ihrer Hand, direkt neben meiner, gegen die Tischplatte gedrückt wurden. Irritiert und immernoch misstrauisch sah sie mich an.
Erst nach Sekunden des Schweigens zog ich das Papier etwas zu mir herüber, langsam, aber bestimmt. „Keine Sorge. Ich bin zuverlässig. Ich arbeite gründlich und pünktlich." Kurz zwinkerte ich ihr lächelnd zu, ehe ihre immer lascher werdende Hand ganz vom Papier wegrutschte und ich mit den Bogen schnappen konnte. Immernoch starrte sie mich perplex an, und auch wenn ich mit dem Rücken zu ihr war, als ich den Raum verließ, so spürte ich doch den Blick im Rücken.
Es klingelte. Bunte Mengen von Schülern sammelten sich auf den Fluren und umschwirrten mich wie Fliegen einen Apfel. Die Schule hatte sich wirklich mit der Zeit verändert... Mystic High hieß sie anscheinend. Hieß alles in dieser Stadt irgendwas mit Mystic im Namen? Das würde ich wohl noch herausfinden. Denn anscheinend blieb ich für die nächste Zeit...
Doch heute würde ich noch nicht sowas langweiliges machen wie Unterricht besuchen. Ich würde mir wohl eine "Familie" suchen müssen... Das war nicht allzu schwer. Da draußen warteten schon viele Kandidaten... So lächelte ich nun breiter und öffnete die Eingangstür des Schulgebäudes. Warme Sonnenstrahlen trafen mein Gesicht und blendeten mich kurz. Das Schuljahr fing gerade erst an... Und wohl auch ein neues Kapitel meines Lebens. Ich würde mein Ziel erfüllen, koste es was es wolle.
Bis hin zum Nachmittag hatte ich mir die Stadt angesehen. Sie war zwar klein, aber deutlich größer geworden. Und ich erkannte gar nichts wieder. Es war so merkwürdig... Aber als ich einen Stadtplan sah, da hatte ich plötzlich alles im Kopf. Wie es damals aussah, die Bäume, Häuser, die Höhle und der Fluss. Nicht zu vergessen den großen Weißeichebaum... Der noch damals abgebrannt wurde. Und ich sah mein Zuhause. Mein ehemaliges Zuhause. Ich wusste, wo ich es finden konnte. Zwar stieg ich dafür durch Gärten und Müllkontainer von Läden, doch ich fand es irgendwann...
Dort stand nun ein Haus. Es war ein typisch amerikanisches Haus, von welchen ich schon viele gesehen hatte, seit ich wieder in Amerika war. Holz, alles aus Holzbrettern, von außen hin schick und wie zur Gründerzeit, in Wirklichkeit aber so stabil wie ein Kartenhaus. Es war dunkelrot angestrichen und hatte dunkelbraune Eckbalken... Auch die Tür war in dieser braunen Farbe. Das Haus hatte anscheinend ein Erdgeschoss, einen Ersten Stock und einen Dachboden. Vermutlich auch einen Keller. Der Garten, welcher fast nur aus Rasen und zwei Bäumen bestand, war von einem weißen Zaun und Hecke umringt. Eigentlich nett... Und perfekt. Das würde ich hinbekommen.
Klopf, klopf... „Wer ist da?" Eine alte Frauenstimme erklang zögerlich und verwirrt. Kurz sah ich zum Briefschlitz, aus welchem viele Werbeprospekte ragten. Sah nicht so aus, als interessiere sich die Frau sonst für die Haustür... Anscheinend bekam sie nicht oft Besuch. Umso besser. „Ich soll Ihnen etwas bringen. Die... Wasserversorgung der Stadt möchte mit Ihnen über möglicher Probleme in den nächsten Tagen sprechen."
Kurz war nichts zu hören. Dann hörte ich einen klapprigen, hohlen Klang, als würde jemand zittrig versuchen einen Schlüssel ins Schloss zu stecken. Noch eine Weile später öffnete sich langsam und quietschend die Tür und gewährte mir keinen Blick in das Haus. Zu dunkel war es. Durch den Schatten der Daches der Veranda konnte ich nur gerade so das Gesicht der kleinen Frau erkennen, die hinauf sah. Sie hatte etwas asiatisches an sich, viele Falten und schütteres Haar, welches sie mit einer Art grünem Kopftuch zurückgebunden hatte. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, putzte sie gerade das Haus.
Ich setzte mein freundlichstes Lächeln auf, nun gut, wohl eher nur unschuldig und harmlos. „Sie sind sehr jung..." Wenn Sie wüssten... „Ich fühle mich geschmeichelt, wirklich. Herzallerliebst Ihr Haus... Darf ich eintreten? Es wird auch schnell gehen." Ohne große Umschweife öffnete sie mit einer wegwerfenden Handbewegung die quietschende Tür. „Kommen Sie herein... Aber wenn Sie schon wieder sagen, ich soll mehr zahlen, dann werde ich mich vergessen." „Sorgen Sie sich nicht, ich komme in guten Absichten." Leicht lächelte ich, als die Tür sich auch schon hinter meinem Rücken schloss und wir in Dunkelheit gefangen waren.
„Der Handwerker für die Glühbirne war noch nicht da... Folgen Sie mir." Hätte ich ihre Stimme und ihre leicht schlurfende Schritte nicht gehört, dann wüsste ich wohl nicht, wo sie nun war. Sie allerdings kannte wohl den Weg bestens. „Bekommen Sie oft Besuch?" Ein leicht entrüstetes Schnauben erklang in der Dunkelheit und führte mich zu einer Tür, aus welcher ein schwaches Licht kam. Die Tür zum Keller, wie ich sah.
Ihre stumme Antwort war dennoch eine Antwort. Sie schien wohl eine einsame Einsiedler zu sein... Perfekt. Wirklich perfekt.
Mit jeder weiteren Treppenstufe, die hinab in den kühlen und miefenden Keller führte, kam mir auch das Licht immer mehr entgehen. Unten angekommen sah ich, dass das hier wohl die Sammelstelle der alten Frau war. Eine flackernde Lampe hing von der Decke hinab und wies uns den Weg zu dem Armaturenbrett des Hauses.
„Ich habe dieses ältere Modell hier. Mr. Ellis sagte, dass ich seinem Kollegen das hier zeigen soll, wenn es zu Problemen kommt." Mit einem wissenden Expertenblick besah ich mir die Rohre und Schalter. Verstehen tat ich nicht viel davon. Typisch amerikanische Technik der 60er Jahre...
Endlich ein Hinweis, dass ich das tun sollte, wofür ich eigentlich gekommen war. So wandte ich mich an die vermutlich 60-Jährige. Fragend sah sie mich an, ihre Augen schienen im schwachen Licht noch dunkler, als sie wohl waren, und der Keller gab allem einen gruseligen Flair...
„Sie bleiben hier stehen und hören mir gut zu. Verstanden? Perfekt. Fangen wir mit dem geschäftlichen an. Ach ja... Halten Sie die Klappe." Den letzten Satz fügte ich schnell hinzu, als ich sah, dass sie wohl schon jetzt lautstark protestieren wollte. „Ich ziehe hier ein. Oder warten Sie... Vergessen Sie das. Ich bin vor ein paar Tagen hergezogen. War zuvor kurz in New York City und lebe nie drei Jahre an einem Ort, weil meine Mutter viel reiste. Sie ist vor kurzem gestorben... Mein Vater hat sie verstoßen, als ich klein war, weil er mich nicht wollte. Und jetzt kommen Sie... kommst Du ins Spiel. Du bist meine Tante. Meine Mutter war deine viel jüngere Halbschwester. Ich habe niemanden mehr... Aber sie wollte, dass ich bei dir wohne, und dass wir uns verstehen. Verstanden?" Erstaunt und mit einem leicht zombiehaftem Blick nickte sie und bekam leicht Tränen in den Augen. Was war denn jetzt los?
„Die Leute wissen nichts von meiner Mutter oder mir, weil ihr euch gestritten habt. Vor einigen Jahren. Und obwohl du sie in Wirklichkeit liebtest, schafftest du es nie, ihr das zu sagen... Tragisch, nicht wahr?" So locker ich doch klang, so sehr sammelten sich noch mehr Tränen in ihren alten Augen. War ich wirklich so überzeugend oder nur dramatisch?
„Ich erzähle dir mal unsere Geschichte. Du musst nämlich nachher etwas für mich unterschreiben. Und... Ach ja. Bevor ich es vergesse. Ich bin Nathan Bailey. Freut mich. Wir werden Geschichte schreiben, Tante. Ich hätte übrigens nichts gegen eine kleine Führung im Haus. Mein Zuhause." Ein breites Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, eines, welches sich echt und gut anfühlte. Ich trat zur Treppe und deutete ihr, mir zu folgen. Sie ging an mir vorbei und hinauf, während ich mich nochmal zufrieden umsah. Ich war wieder Zuhause... Und in meinem Kopf spielte sich langsam dieser Song ein, der mich auf meinem Hinweg verfolgte. John Denver schien ein gutes Omen zu sein. Mal sehen, welcher Sänger mir noch eine gute Vorraussage machte.
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