
~9~
Mycroft hatte einen Entschluss gefasst. Nicht etwa wegen dem Gespräch mit Sherlock - sein Bruder konnte Gefühlsneigungen und anderes dieser Art zwar meistens erfassen, war aber weder feinfühlig, noch irgendwie hilfreich - sondern, weil es langsam Zeit wurde. Etwas an seiner und Gregs Lage musste sich einfach verändern, wenn auch nur ein kleines bisschen. Es war ein etwas schleichender Prozess gewesen, doch seit er Greg vorhin bei dessen alter Wohnung abgesetzt hatte, war es ihm glasklar: ihre Beziehung war angespannt und sie waren unglücklich. Nicht etwa, weil sie sich stritten oder einander betrogen, sondern einfach nur wegen all der Heimlichkeit, die einen von ihnen schon vorher an so manch einem Abend hatte einsam sein lassen. Und das alles war nur seine Schuld, er war das Problem, und nur weil Greg gesagt hatte, sie würden das irgendwie schaffen, hieß das noch lange nicht, dass sie alles so lassen konnten. Deshalb also sein Beschluss: sich mehr Zeit für ihre Ehe schaffen und Risiken in Kauf nehmen. Ein ziemlich unmögliches Unterfangen, aber zumindest heute Abend hatte er sich ein paar Stunden frei kämpfen können. Voller Tatendrang stieg er deshalb aus seinem Auto; er würde sich jetzt etwas frisches anziehen, unterwegs ein wenig Essen beim Chinesen besorgen und dann zurück zu Greg fahren. Zusammen essen, reden oder einfach nur da sitzen - Sex war gar nicht nötig, heute ging es ihn nur um Nähe und seinem Mann das Gefühl zu geben, ihre Beziehung wäre nicht so hoffnungslos, wie es gerade den Anschein hatte. Gerade als er also seinen Schlüssel aus der Hosentasche kramen wollte, fiel ihm auf, dass die Haustür offen war. Nur einen kleinen Spalt, aber sie war offen, nicht abgeschlossen. Und darauf achtete er immer besonders. Eigentlich. In den letzten Tagen war alles so anstrengend und chaotisch gewesen, außerdem war er heute so aufgeregt gewesen wegen Gregs Entlassung ... Beruhigend schüttelte er leicht den Kopf - Versagen war menschlich, das konnte selbst ihm mal passieren. Kurzerhand ging er hinein und siehe da: alles war in Ordnung, alles war an seinem Platz. Schnell zog er seine Schuhe aus und ging auf direktem Weg die Treppe hoch in ihr Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Dabei ertappte er sich erneut dabei, dass in ihm ein unbehagliches Kribbeln herrschte. Doch hier war kein anderer im Haus, wieso sollte er auch? Es lag etwas abgelegen und fast schon versteckt, außerdem wusste so gut wie niemand, dass er hier wohnte, da er immer allein nach Hause fuhr. Greg hingegen hatte ab und zu jedoch mal ein Taxi genommen ... Stop, das war nun wirklich Quatsch. Selbst wenn ein paar Taxifahrer den Weg hierher kannten, niemand würde ihn mit Greg in Verbindung bringen. Paparazzi und Schaulustige gab es hier nicht. Hastig nahm er einen schlichten Pulli und eine frische Hose aus dem Schrank - jetzt wollte er umso schneller hier weg, zu seinem Liebsten, in sichere Hände. Die Nerven gingen mit ihm durch, er brauchte nur Greg und etwas zu essen, dann würde alles wieder gut werden. Alles wieder - Wumms. Ein plumpes, gedämpftes Geräusch. Es schien von unten zu kommen. Mycrofts Herz klopfte ihm bis zum Hals und er spürte sanfte Gänsehaut auf seinen Armen. War es etwa doch ...? Nein, das konnte nicht sein. Seine Schwester war an einem sicheren Ort und kam nicht weg, egal wie sauer sie auf ihn war. Sie würde ihn nicht finden. Und er sollte endlich aufhören, Angst vor ihr zu haben. Das Geräusch war Einbildung gewesen, mehr nicht. Trotzdem verspürte er plötzlich das große Bedürfnis, Greg anzurufen. Er fischte das Telefon aus seinem Jackett und drückte die Kurzwahltaste. Hörte seinen schnellen Atem, das Klopfen seines Herzens. Tuut. Tuut. Wieso ging Greg nur nicht ran? Mit dem Handy in der Hand traute Mycroft sich zumindest, ein paar Schritte nach vorne zu machen, langsam aus dem Zimmer zu gehen. Der Flur war leer, auch im Treppenhaus war niemand zu sehen. Tuut. Tuut. Wahrscheinlich duschte Greg gerade und musste sich vorm Rangehen noch abtrocknen und was anziehen. Mit dieser Ausrede beruhigte sich Mycroft und war in der Lage, Schritt für Schritt die Treppe hinunter zu gehen. Doch plötzlich - war da noch ein Geräusch gewesen, nahe der Tür? Die Angst kochte in ihm hoch und machte ihn besinnungslos, ihm wurde heiß und in einem unglaublichen Rausch rannte er die übrigen Stufen herunter, in den unteren Flur zur Haustür und riss diese schließlich auf. Nichts. In diesem Moment verabschiedete sich auch seine Telefonverbindung zu Greg und die übrige Anspannung viel allmählich von ihm ab. Das war doch alles nur Quatsch, er machte sich selbst umsonst verrückt. Lieber sollte er sich umziehen und endlich zu Greg fahren.
Fast hätte er sie erwischt, dieser fremde Mann, der nicht Gregory Lestrade wahr. Er hatte Lilly überrascht als sie gerade im Wohnzimmer gewesen war - dem großen, einladenden Raum mit weichem Sofa und Kamin. Weiter war sie nicht gekommen, nur dieses Wohnzimmer, Hausflur und Küche, mehr hatte sie nicht, um sich einen Eindruck von Gregory Lestrades Leben zu verschaffen. Aber es war viel aufgeräumter gewesen als sie erwartet hatte. So sauber, zum Teil so leer, nichtmal Bilder. Aber vielleicht steckte das Chaos auch größenteils im Schlafzimmer, eines der Zimmer, die ihr verwehrt geblieben waren. Sie war nichtmal dazu gekommen, eine der Minikameras zu installieren, geschweige denn, ein kleines Andenken mizunehmen. Ein Shirt wäre gut gewesen, daran hätte sie riechen und es im Bett an sich drücken können, ganz romantisch als wäre sie wieder Teenager. Doch momentan beschäftige sie eher die Frage, wer dieser Mann gewesen war, der ihr fasst in die Arme gelaufen wäre. Schnell hatte sie sich die Treppe hinunter geschlichen und war zur Haustür raus, war nur ein Mal an eine Stehlampe gestoßen, die leicht gegen die Wand gekracht war - er hatte sie gehört und war ihr nachgelaufen, ganz schnell. Doch sie hatte sich in den Büschen versteckt, war entkommen und hatte kurz sein Gesicht gesehen; braunes, ordentliches Haar und starke Züge, die Nase war etwas groß gewesen. Getragen hatte er einen Anzug, sehr schick und teuer. Womöglich ein Verwandter von Gregory? Etwa der uminöse Mycroft Holmes? Und wenn ja, was hatte dieser Mann im Haus gewollt? Wie es aussah, hatte Lilly in Sachen Informationen noch nachholbedarf. Außerdem würde sie noch einmal ins Haus müssen.
Greg fühlte sich unbeschreiblich schlecht, Mycroft vorhin weggedrückt zu haben. Einfach so, ohne Entschuldigung. Inzwischen war Sally gegangen und er suhlte sich in aufkommenden Melancholie und seiner Einsamkeit, die ihm langsam bewusst wurde. Hier war keine Wärme mehr, kein Heimgefühl, keine Behaglichkeit. Er lebte hier schon längst nicht mehr, selbst wenn seine Möbel und ein paar seiner Sachen es taten. Er wollte zu Mycroft, zu ihrem Zuhause, in das große Bett und ins Wohnzimmer mit den Samtvorhängen. Gerade als er mit dem Gedanken spielte, Mycroft doch zurück zu rufen, klingelte es an der Tür. Etwa seine alte Vermieterin, Mrs Hamshire? Er war schon im Schlafanzug und hatte eigentlich keine Lust auf diese überdrehte Frau, aber alles war besser als allein zu sein. Schnell tappste er zur Tür und öffnete sie.
»Hier ist der Lieferservice. Hat jemand einen gemütlichen Fernsehabend mit Hünchen süß-sauer gestellt?«
Mycroft grinste verlegen und wedelte mit einer Essentüte vom Chinarestaurant um die Ecke. Greg konnte nicht anders als ihm unvermittelt um den Hals zu fallen, so glücklich war er plötzlich.
»Myc! Was machst du denn hier?«, fragte er völlig überwältigt.
»Mit dir zu Abend essen, zumindest hatte ich das vor. Die Arbeit kann bis morgen warten.«
Er drückte Greg einen flüchtigen, aber festen Kuss auf die Lippen und bahnte sich den Weg vorbei in die Wohnung. Stellte das Essen ab und begab sich auf die Expedition nach Besteck, wie Greg schmunzelnd verfolgte. Jegliche Trübsal war wie weggeblasen und er fühlte sich viel wärmer und geborgener. Mit Mycroft konnte wohl jeder Ort schön sein, auch diese kleine und trostlose Wohnung.
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