~27~
Auch wenn Sally in der Nacht einige Stunden Schlaf bekommen hatte, fühlte sie sich seltsam ausgelaugt und leer. Als würde ihr etwas fehlen, als müsste sie etwas unbedingt tun, um dieses brennende, nagende Gefühl verschwinden lassen zu können. Und das einzige, was das brodelnde Loch in ihrem Inneren zu stopfen können schien, war den Maulwurf in ihrer Abteilung zu finden und Greg anschließend dabei zu helfen, die Klatschpresse loszuwerden, damit sie alle wieder ihr normales Leben leben konnten. Aber so viel auf einmal leisten konnte sie natürlich nicht, weshalb sie versuchte, ihre innere Leere mit einem Gurken-Sandwich zu füllen, das sie eben beim Bäcker um die Ecke gekauft hatte, während ihr Büro-Computer hochfuhr. Gestern war einfach alles miserabel gelaufen und nachdem Greg gegangen war, hatten einzig Christian Wilkerson und Katy Bloumberg versprochen »ein paar Ermittlungen« anzustellen, die restlichen Kollegen hatten auch nicht wirklich gewusst, wie die Sache anzupacken war, immerhin waren sie alle verdächtig. Diese Erkenntnis verdorb Sally umgehend den Appetit und sie legte das Sandwich mit spitzen Fingern zurück auf die braune Papiertüte, die ihm als Verpackung gedient hatte. Gregs verzweifeltes Gesicht erschien erneut vor ihrem inneren Auge. Jemand, den sie wahrscheinlich gut kannte, hatte ihm das alles angetan. Diesen ganzen Mist, der Skandal, die Presse - das hatte ihr Chef nicht verdient. Ihr Computer war inzwischen hochgefahren und sie gab ihr Passwort ein. Sie sollte jetzt ein paar Berichte schreiben, Akten vervollständigen und tun, was sie sonst so bei ihrer Arbeit tat. Aber der Gedanke an Greg und Mycroft wurde schlichtweg zu groß, weshalb sie nicht wiederstehen konnte und schließlich »Mycroft Holmes Gregory Lestrade Affäre« in die Suchleiste bei Google eingab. Und verdammt, da gab es wirklich einige Artikel. Missmutig scrollte sie durch die Materie, die von reißerischen Titeln und einigen Fotoauschnitten vom Sexvideo dominiert wurde. Alles nur der übliche Kram; Vermutungen über eine heiße Affäre, geheime Urlaube und Treffen auf Staatskosten und gelegentlich auch ein paar ganz wilde Verschwörungstheoririker, die in Internetforen darüber diskutierten, ob Mycroft, als der höher gestelltere von beiden, Greg vielleicht in die Affäre gezwungen hatte, weshalb jener das Video vielleicht absichtlich geleakt hatte, um die Verbindung ein für alle Mal zu kappen. Auch die Kommentare unter einigen Ausschnitten des Videos, die irgendwie ihren Weg auf YouTube gefunden hatten, waren gespalten. Von brutalen, homophoben Beleidigungen bis hin zu minderjährigen Fangirls, die die Sache total feierten und sich anscheinend den Shippingnamen Mystrade für die beiden ausgedacht hatten, war alles dabei. So eine große Flut an Meinungen zu einem Thema, das eigentlich niemanden was anging. Und sie hatten den verantwortlichen Übeltäter immer noch nicht gefunden. Demotiviert ließ Sally ihren Blick durchs Büro gleiten. Seargent Marry Clocks kochte sich stumm und ohne die übliche gute Laune Tee, Officer Anthony Higgins saß nägelknabbernd vor seinem Computer und Seargent Sean Murdock sah so erkältet und fertig aus wie gestern. Sally dachte schon daran, ihm einen Hustenbonbon anzubieten - wieder einer ihrer Geheimvorräte, die seit Jahren unangetastet in ihrer Schreibstischschublade vermoderten - aber bevor sie das Leben des armen Jungen mit verstaubten und verfallenen Süßigkeiten beenden konnte, hörte sie Schritte. Kurz darauf betraten Wilkerson und Bloumberg den Raum. Beide wirkten leicht müde, aber enthusiastisch und lächelten leicht. Und sie hatten bei genauerem Hinsehen noch die selben Klamotten wie gestern an, weshalb Sally sich für einen Moment aufgeregt in ungläubigen Spekulationen verrannte, ehe Christian beruhigenderweise sagte:
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Schwester gestern Gefallen an dir gefunden hat. Vielleicht solltest du nochmal vorbeikommen, wenn wir die Ermittlungen beendet haben. Dann müsstest du eventuell nicht wieder auf der Couch einschlafen.«
Offensichtlich beschenkte man sie glücklicherweise doch nicht mit einer wilden Büro-Romanze voller Drama, auch wenn das bei diesen beiden sowieso etwas unrealistisch gewesen wäre. Immerhin waren beide klug, zielorientiert und definitiv vernünftig genug, sich ordentlich zu trennen. Außerdem hegte Sally schon seit längerem den Verdacht, dass Christian wie seine Schwester Claire nicht wirklich hetero war. Zwar ließ er das nicht gerade heraushängen, aber wenn sich doch mal ein attraktiver und vor allem intelligenter Kerl - von denen es hier ja nicht viele gab, sonst wäre er wahrscheinlich schon längst geoutet - her verirrte, flirtete er gewissermaßen und ließ durchaus seinen Charme spielen, immerhin war er selbst auch ganz ansehnlich. Aber anstatt weiter über dieses fruchtlose Thema nachzudenken, packte sie die Neugier, ob ihre beiden Kollegen eventuell etwas herausgefunden hatten, als sie gestern wahrscheinlich bei Christian Zuhause die Nacht durchgemacht hatten. Schließlich stand sie auf und ging zu den beidem herüber, wobei sie Katys Antwort auf Christians kleine Neckerei mitanhören konnte.
»Deine Schwester ist hübsch. Und scheint intelligent. Aber ich habe kein Interesse an Beziehungen, die voraussetzen, dass man sich ein Bett teilt.«
Die Polizistin klang ruhig und pragmatisch, doch sie knibbelte am Etikett ihres Einweg-Kaffeebechers und schien Sally etwas nervös. Anscheinend würde sie doch eine kleine Romanze zum Beobachten geschenkt bekommen, allerdings blieb sie vom Büro-Setting verschont.
»Hey. Habt ihr was herausgefunden?«, fragte sie jetzt aber ungeduldig und erstickte Christians Erwiderung und sein Grinsen damit im Keim.
»Könnte man so sagen. Wir haben begonnen, uns in die Mailadressen der Mitarbeiter des Daily Sun zu hacken, um zu sehen, ob jemand dort eine Nachricht mit der Video-Datei erhalten hat. Natürlich wissen wir nicht genau, ob wir überhaupt was finden, aber wir sind so gesehen fast durch, also lässt die mögliche Entdeckung wahrscheinlich nicht mehr lange auf sich warten«, fasste der Brünette kurz zusammen, einen etwas unerfreulichen Ausdruck auf dem Gesicht. Es ging ihm definitiv gegen den Strich zuzugeben, bisher nichts erreicht zu haben und Sally hütete sich, dazu einen Kommentar abzugeben. Also nickte sie nur.
»Ich hoffe, es ergibt sich was.«
»Wir werden sehen.«
Katy stellte ihren malträtierten Kaffeebecher auf dem Schreibtisch ab und klappte ihren Laptop auf, was Sally als Wink zum Gehen verstand. Doch gerade als sie sich wieder an ihren Platz setzen wollte, trat ihr Chef in den Raum. Er sah verhältnismäßig gut aus, halbwegs ausgeruht und mit sauberen, wenn auch etwas zerknitterten Klamotten. Wahrscheinlich hatte er bisher nicht wie sie selbst durch trügerische und verletzende Zeitungsartikel gescrollt und das war wahrscheinlich die beste Vorgehensweise, den Skandal größtenteils zu ignorieren und keine Selbstzweifel zu bekommen.
»Hi, Chef«, grüßte sie locker, konnte sich aber kein euphorisches Guten-Morgen-Lächeln abringen.
»Wie geht's?«
»Ganz okay. Es standen zwar schon wieder Reporter vorm Eingang, aber ich konnte sie loswerden.«
Er zuckte etwas entwaffnet die Schultern und setzte wahrscheinlich ihr zuliebe ein kleines Grinsen auf.
»Was soll's. Jedenfalls habe ich beschlossen, unsere Ermittlungen zum … Video erstmal auf Eis zu legen. Nicht nur, dass es damit nicht gut gelaufen ist, wir müssen uns auch noch um wichtigere Dinge kümmern.«
»Aber …«
Diese Sache war wichtig. Ein Verräter war auf lange Sicht grundlegend ein Problem, um das man sich kümmern musste und es wurde nicht einfach kleiner, wenn man es ignorierte, weil sonst die Stimmung im Team angespannt wurde. Außerdem war es wirklich inakzeptabel, was der Täter Greg angetan hatte. Sie wollte ihrem Chef das auch gerade leidenschaftlich nochmal näher bringen, als Christian plötzlich rief:
»Wir haben was!«
Siegessicher klatschte der Polizist in die Hände und winkte Sally und Greg mit einer Geste zu sich heran.
»Was meint er denn damit?«, fragte Greg verwirrt und Sally zuckte mit zufriedener Miene die Schultern.
»Tjah, er und Bloumberg haben gestern Nacht weiter ermittelt und offensichtlich einen Hinweis gefunden. Wahrscheinlich sollten wir die Ermittlungen also doch nicht auf Eis legen, Chef.«
Neugierig gesellten sich die beiden zu ihren Kollegen, vor dessen Tisch sich jetzt auch Marry, Sean und Anthony versammelt hatten.
»Wir haben beim Durchsehen der Mails von einem der Redakteure, Nicholas Grey, unsere Video-Datei gefunden. Sie wurde ohne weiteren Text versendet und kommt von der Fake-Adresse gh_gzhkmd@gmail.com«, erklärte Bloumberg knapp und Christian nickte grinsend.
»Jetzt brauchen wir nur noch diese Adresse hacken und können mit etwas Glück nicht nur die IP-Adresse sondern auch das Gerät ermitteln, über die das Mail verschickt wurde.«
»Das ist ja großartig«, stieß Sally freudig aus.
»Und wie lange dauert das?«
»Ahnung für sich nicht lang. Katy, wie weit bist du?«, richtete sich Christian an die Schwarzhaarige, die inzwischen wieder eifrig die Laptoptastatur bearbeitete.
»Naja, ich bin gerade dabei- Fuck.«
Sie ließ plötzlich frustriert die Hände sinken.
»Unser Täter hat offensichtlich weitergedacht, denn die Mailadresse wurde nicht nur gelöscht, sondern man bekommt auch noch einen Virus ab, wenn man nach Spuren davon sucht oder sie zurückverfolgen will.«
Der Bildschirm ihres Laptops wurde jetzt geziert von herum zuckenden Pixeln und sie klappte ihn zu, bevor sie sich auch in Richtung der anderen drehte.
»Das heißt, wir fangen wieder bei null an.«
»Aber … kann man die Adresse denn wirklich nicht irgendwie zurückverfolgen? Was soll denn das für ein Virus sein?«, fragte da Sean Murdock, der ungefähr zweimal so verzweifelt klang, wie Sally sich fühlte. Klar, immerhin mochte der Junge Greg und hatte sehr viel Respekt vor ihm, weshalb er es wahrscheinlich ebenfalls nicht ertrug, die ganzen Zeitungsartikel und die Diskussionen im Internet zu sehen. Christian seufzte geschlagen.
»Nein, das können wir vergessen. Ich kann versuchen, die Daten nochmal an ein paar Fachmänner weiterzuleiten, aber wer so gut vorbereitet ist, hinterlässt keine Hinweise.«
Sally sah, wie Greg eine traurige Miene aufsetzte und seine Schultern ein Stück nach unten sanken.
»Da kann man nichts machen, aber das ist okay. Ich schlage vor, wir gehen jetzt alle zurück an unsere Arbeit, diese Sache hat uns lange genug aufgehalten.«
»Aber jetzt aufzugeben ist feige«, stellte Christian sichtlich pikiert fest.
»Und es ist ein Risiko für zukünftige Ermittlungen.«
Greg hob die Hände als wolle er so jegliche Argumente und Wiedersprüche abwehren.
»Ich weiß, aber es sterben dennoch weiter Menschen, deren Mörder es zu fassen gilt und wir haben uns schon viel zu lange nur mit dieser Sache beschäftigt. Ich sage ja nicht, dass wir nie wieder darauf zurückkommen, aber gerade wäre es nur hinderlich, sich daran festzubeißen, wo wir eh nichts tun können. Also gehen jetzt alle zurück an ihre Arbeit, verstanden?«
Die Umstehenden rangen sich ein eher motivationsloses, leises »Ja« ab und Greg nickte, bevor er sich schließlich ebenfalls in sein Büro begab. Eigentlich war dieses Vorgehen sogar verständlich, wo sich gerade sowieso ihre einzige Spur im Sand verlaufen hatte, dennoch tat Sally von der selbstlosen Entscheidung ihres Chefs das Herz weh.
Eine gute Stunde später versuchte Greg immer noch, ein verantwortungsvoller und guter Polizist zu sein und ackerte sich durch die liegen gebliebenen Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. Mit aller Macht versuchte er den gestrigen Abend, eigentlich sogar den ganzen Tag, aus seinem Kopf zu verbannen, und die Enttäuschung, dass er den Verräter unter ihnen wohl nicht finden würde, aber das klappte natürlich nur so halbwegs. Besonders nagte an ihm beispielsweise, dass er nicht gemerkt hatte, wie der ungeschickte und unsportliche Cunningham ihm gefolgt war, ohne dass er etwas bemerkt hatte. Klar, er war abgelenkt gewesen, aber normalerweise konnte er sich auf seine Polizei-Instinkte verlassen. Außerdem bekam er langsam echt Hunger und überlegte, den Schreibtisch kurz für was zu essen und etwas Kaffee zu verlassen, als es plötzlich klopfte. Sofort setzte er sich gerader hin und versuchte das Chaos auf seinem Tisch leicht zu ordnen, bevor er ein bemüht festes »Herein« rief. Zu seiner Überraschung öffnete Sean Murdock die Tür, einen nicht sehr fröhlichen Ausdruck im Gesicht. Er war blass und sah aus als hätte er etwas abgenommen, denn die viel zu breiten Ärmel seines Pullis schlackerten ihm um die Handgelenke. Wahrscheinlich war er wirklich etwas krank und wollte vielleicht vorzeitig Schluss machen, um noch zum Arzt zu gehen.
»Seargent Murdock, Sie sehen ja gar nicht gut aus. Sind Sie krank?«, fragte er deshalb mitfühlend, doch der Blonde schüttelte nur den Kopf und trat näher an ihn heran.
»Ich muss mit Ihnen reden.«
»Okay.«
Greg konnte einen leicht verwunderten Unterton nicht unterdrücken.
»Ich wollte mir gerade eh einen Kaffee holen, Sie könnten mitkommen.«
»Nein, das …«
Sean schüttelte den Kopf.
»Ich bin bloß gekommen, um Ihnen was zu sagen.«
Nun durchaus beunruhigt beugte Greg sich vor. Er konnte sich nicht recht vorstellen, dass der nette und brave Seargent was angestellt hatte. Aber er sollte sich irren, denn Sean sagte mit trauriger Miene:
»Ich war's. Ich hab das Video an die Presse weitergeleitet.«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro