Narben
Triggerwarnung: In dieser Geschichte geht es um Gewalt an Kindern
Hätte man Luisa vor zwei Jahren nach ihrer Kindheit gefragt, so hätte sie wohl gesagt, dass diese nahezu perfekt gewesen war. Sie hätte von langen Tischgesprächen über Gott und die Welt erzählt, von Gutenachtgeschichten, Fernsehabenden, an denen Tierdokus angeschaut wurden, von Tagesausflügen und unbeschwertem Spielen mit ihren Geschwistern und Freunden. Sie hätte dabei gelächelt und bei der Gelegenheit noch erzählt, welche wichtigen Dinge sie von ihren Eltern gelernt hatte.
Hätte man ihr gesagt, dass sie, in nur zwei Jahren, bei einem Gespräch über ihre Kindheit eine Panikatacke bekommen würde, so hätte sie wohl die Augen verdreht und der Person gesagt, dass sie keine Ahnung habe.
Und jetzt? Jetzt saß sie hier auf dem Sofa in ihrer kleinen Wohnung und starrte auf das Handy in ihrer Hand. Der schwarze Bildschirm war voller Fingerabdrücke, die ihre schwitzigen Hände darauf hinterlassen hatten. Sie wischte sie einmal an ihrer Hose ab, doch erschienen sie ihr danach genau so klebrig wie davor.
Der Bildschirm leuchtete auf. Eine neue Nachricht. Emilie wollte wissen, ob sie sicher zuhause angekommen war. Sie schickte ihr eine kurze Nachricht zurück, jedoch nicht ohne sich dabei wieder schuldig zu fühlen. Eigentlich hätte es ein schöner Abend werden sollen. Wegen des Lockdowns hatte sie sich seit zwei Wochen mit niemandem mehr getroffen. Die Tage hatte sie auf dem Sofa liegend und die Nächte schlaflos an die Decke starrend verbracht. Als Emilie sie heute Abend angerufen hatte um zu fragen, ob sie noch vorbeikommen wollte, hatte sie sich gefreut. Sie hatte sich sogar geschminkt und Schmuck angelegt.
Und dann? Kaum waren sie ins Gespräch gekommen, hatte sie darüber reden müssen. Mit Emilie, die neben ihrer besten Freundin als einzige Außenstehende davon wusste. Sie wollte ihr sagen, wie hilflos sie sich fühlte, hoffte auf Halt. Sie hatte ihr gesagt, wie groß ihre Angst war vor dem was sie ausgraben könnte, wenn sie weiter in ihren Erinnerungen herumstocherte. Und Emilie? Sie hatte gesagt, dass sie nicht so negativ sein solle. Dass sie sich damit auseinandersetzen müsse und dass sie mit anderen darüber reden müsse, dass sie nicht ihre Therapeutin sei.
Luisa wusste, dass ihre Freundin Recht hatte. Doch dann hatte sie den einen Satz gesagt, der sie schon seit Jahren quälte und ihr Körper hatte verrückt gespielt. Die Panikatacke hatte nicht lange gedauert. Aber sie fühlte sich danach unendlich erschöpft. Wegen der Ausgangssperre hatte sie kurz darauf nachhause fahren müssen. Und hier saß sie jetzt, immer noch zittrig, die Gedanken fahrig und zerbrechlich, befürchtend, wieder die Fassung zu verlieren.
Sie versuchte sich mit Videos abzulenken, aber bekam kaum mit, was gesagt wurde. In ihr arbeitete es. Sie wusste, dass Emilie Recht hatte. Sie sollte das nicht alles mit sich alleine herumtragen. Trotzdem hatte es wehgetan nicht verstanden zu werden. Sie hatte sich das alles nicht ausgesucht, nicht darum gebeten so verwirrt, ängstlich und hilflos zu sein. Sie sprach ohnehin selten über ihre Gefühle und der heutige Abend schien sie darin zu bestätigen, es bisher kaum getan zu haben. Man verstand sie ohnehin nicht.
Ihr war klar, dass sie weitergehen musste, dass sie etwas unternehmen sollte. Aber wohin gehen, wenn man den inneren Kompass, den man zu haben glaubte in Scherben vorfindet? Sie war sich nicht einmal mehr sicher wer sie wirklich war, wer sie sein würde. Bisher hatte sie geglaubt sich zu kennen, hatte eine Zukunft vor sich gesehen, ausgerichtet nach den Prinzipien, die sie für ihre eigenen gehalten hatte. All das war jetzt nicht mehr.
Sollte sie bei der Telefonseelsorge anrufen? Sie hatte es bereits zwei Mal getan und beide Male hatte es ihr ein kleines Stück Sicherheit zurückgegeben. Aber was sollte sie sagen? Die Geschichte noch einmal erzählen? Hatte sie überhaupt einen triftigen Grund? Einfach nur um darüber zusprechen erschien ihr zu trivial, zu bedeutungslos. Sie überlegte einen Moment. Dann kam ihr eine Idee. Sie würde nach Tipps fragen, einen guten Therapeuten zu finden. Und sie würde sichergehen, dass sie wirklich eine Therapie brauchte. Sie wollte die Sache nicht größer machen, als sie war.
Das Handy in ihren Hand wog schwer. Mitternacht. Sollte sie wirklich anrufen? Jetzt noch? Die Minuten verstrichen, während sie wie fesgewachsen dasaß und mit sich kämpfte. Doch dann, ohne lange darüber nachzudenken, drückte sie auf Wählen. Es klingelte nur ein Mal, bevor sich jemand meldete.
„Hallo", sagte sie und lachte nervös. Dann schwieg sie, suchte nach den passenden Worten. Die Frau am anderen Ende schwieg ebenfalls, gab ihr Zeit sich zu sammeln.
„Ich finde es immer scher so ein Gespräch anzufangen", gab sie zu und knetete nervös den Stoff ihres Pullovers. „Ich rufe sie an, weil ich Ihnen etwas erzählen möchte und ich ihren Rat brauche. Und ich brauche Rat von einer Person, die nicht involviert ist, die weder mich, noch die betroffenen Personen kennt". Die Frau am anderen Ende stimmte zu.
Und dann fing sie an zu erzählen. Sie begann bei einem Gespräch mit Emilie vor zwei Monaten, dass eine unerwartete Wendung genommen hatte und in dessen Verlauf ein Stöpsel gezogen worden war, den sie seitdem nicht mehr an seinen alten Platz hatte bringen können. Erinnerungen, die sie Jahre lang verdrängt, ignoriert und unterdrückt hatte, waren plötzlich über sie hereingebrochen und mit ihnen alle dazugehörigen Gefühle. Sie hatte damals mehrere Minuten lang unkontrollier geweint, so heftig, wie sie es noch nie erlebt hatte.
Und plötzlich war alles anders gewesen. Sie konnte nicht darüber nachdenken, nicht darüber sprechen ohne zu weinen. Worte, Dinge, die ihr zuvor vollkommen normal erschienen waren, erzeugten plötzlich einen Kloß in ihrer Kehle, ließen die Bilder wieder auferstehen. Sie wurde getriggert. Ein Wort, dem sie nie zuvor Bedeutung beigemessen hatte, wurde plötzlich zu einem Auslöser schmerzhafter Erinnerungen. Doch das war noch nicht alles. Sie begann, ihr ganzes Verhalten, ihre Gedanken und Glaubenssätze zu hinterfragen, erkannte Parallelen und Muster in Dingen, die sie zuvor für simple Charakterschwächen gehalten hatte. Sie fragte sich, ob sie nun verrückt war, ob sie es größer machte, als es das eigentlich war, weil ihr Ego aus irgendeinem kranken Grund Bestätigung daraus zog, so eine kaputte Seele zu haben.
Ihre Stimme war fest, als sie davon erzählte. Aber als sie zu den Ereignissen ihrer Kindheit kann, begann sie gefährlich zu zittern.
Wann genau es angefangen hatte, und warum, wusste sie nicht mehr. Sie wusste auch nicht wie lange es gewesen war. Es konnte ein Jahr gewesen sein, vielleicht aber auch zwei oder drei. Sie erinnerte sich nur an den einen Tag in der Grundschule. Sie war damals acht oder neun gewesen. Er hatte sich unwiederruflich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Es war der Tag gewesen, an dem sie einer Freundin erzählen wollte, dass ihr Vater sie geschlagen hatte. Sie hatte es einfach so gesagt, im Vorbeigehen. Sie hatte keine Reaktion bekommen. Irgendwie hatte sie auch keine erwartet. Trotzdem hatte es weh getan, weil sie sich unglaublich klein und hilflos gefühlt hatte. Denn irgendwie hatte sie schon damals gespürt, dass es falsch war, was ihr Vater tat. Aber ihre Freundin hatte nichts gesagt. Und so hatte sie geschwiegen, und nie wieder ein Wort darüber verloren, bis sie 21 gewesen war.
Die Frau am Telefon zeigte sich betroffen.
Dann erzählte Luisa weiter. Anfangs war es mit der Hand gewesen, einige wenige Schläge auf den nackten Po. Warum genau wusste sie nicht mehr. Vielleicht war es die Strafe für unerledigte Hausarbeiten gewesen. Irgendwas hatte es auch mit ihrem Trotz zu tun gehabt, mit ihren Diskussionen und mit ihrer Wut. Sie hatte nie jemanden angegriffen oder Dinge zerstört, war höchstens etwas lauter geworden.
Ihre Brüder hatte es auch betroffen, aber deutlich weniger als sie und immer nur wegen unerledigter Arbeiten. Beide zusammen waren seltener geschlagen worden, als sie alleine. Vielleicht jeder vier, oder fünf mal. Immer mit der Hand. Und sie? Für sie war ihr Vater eines Tages in den Werkkeller gegangen und hatte aus einer Kiste ein Stück Holz genommen. In Zukunft hatte er sie nur noch damit geschlagen. Manchmal so stark, dass sie blaue Flecken davon gehabt hatte und das Sitzen für einige Tage schmerzhaft gewesen war. Doch auch das schien nicht gereicht zu haben, um bei ihr eine Verhaltensänderung zu erreichen. Deshalb hatte ihr Vater irgendwann ein Loch in ein Ende des Holzstücks gebohrt und eine Schnur hindurchgeführt. Dann hatte er einen Nagel in die Wand ihres Zimmer geschlagen, auf augenhöhe, direkt neben ihren Spiegel. Dort hatte er das Holz aufgehängt, damit sie es immer sah und wusste, was passierte, wenn sie nicht spurte. Immer wenn er sie schlug, nahm er das Holz von der Wand und hängte es hinterher zurück. Wie oft sie insgesamt geschlagen worden war, wusste sie nicht genau. Vielleicht waren es zehn, vielleicht aber auch dreißig Mal gewesen. Sie wusste es nicht mehr. Sie erinnerte sich nur an die Angst, den Schmerz, den Selbsthass und die Verzweiflung hinterher.
Die Frau am anderen Ende der Leitung schien schockiert, bewegt und sprach ihr Mitgefühl aus. Es tat gut, das zu höhren.
Luisa sprang in ihrer Erzählung an den Beginn des letzen Jahres zurück, zum ersten Lockdown, der ihr geholfen hatte ihrer Depression zu entkommen. Dort hatten sich zum ersten Mal die Erinnerungen geregt, sehr zaghaft erst. Sie war wenige Wochen später an Ostern bei ihren Eltern gewesen. Eines Abends hatte sie darauf angesprochen. Sie wusste nicht mehr genau was sie gesagt hatte, aber es war etwas im Sinne von „Ich habe das Gefühlt, dass ihr etwas in mir kaputt gemacht habt und das belastet mich" gewesen. Ihre Mutter hatte darauf erneut von ihrer Kindheit erzählt, davon wie sie von ihrer Mutter schwer körperlich und psychisch misshandelt worden war. Wie sie geschlagen worden war, wenn sie die Vokabeln nicht schnell genug gelernt hatte, wie ihre Mutter ihr ständig gesagt hatte nutzlos, dumm und eine Belastung zu sein. Dann hatte Luisas Vater hinzugefügt, dass es bei ihr immer einen triftigen Grund gegeben hätte und ihm das ganze ja auch keinen Spaß gemacht hätte. Und damit war das Thema erledigt gewesen.
„Das war sehr mutig von Ihnen", meinte die Frau am Telefon. Luisa musste lächelt. War es das? Sie fand nicht.
Und dann schilderte sie ihr Dilemma. Plötzlich existierten zwei Versionen ihrer Kindheit, zwei Versionen ihrer Eltern in ihrem Kopf. Die eine perfekte, das Bild der weisen, liebevollen Menschen die so viel für sie taten und getan hatten, doch da waren diese Erinnerungen, die sich jetzt nicht mehr unterdrücken ließen.
„Ich bekomme diese zwei Versionen in meinem Kopf einfach nicht zusammen. Es fühlt sich an, als wären das die Erinnerungen von jemand anderem. Aber sie gehören beide zu mir. Und das kann ich noch nicht begreifen."
Die Frau am Telefon verstand das. Sie sagte, dass es einiges an Arbeit kosten würde, das zu verarbeiten, die inneren Wunden zu heilen. Dass vielleicht Narben bleiben würden, aber dass sie lernen würde, damit zu leben. Sie sagte, dass sie eine Therapie brauchen würde, dass sie keine Angst haben musste.
Luisa hörte zu. Sie sprachen noch eine Weile über Therapiemöglichkeiten und sie begann sich etwas sicherer, etwas ruhiger zu fühlen. Dann legte sie auf.
Morgen würde sie bei der Stelle anrufen, die die Dame von der Seelsorge ihr empfohlen hatte. Vielleicht auch erst in einer Woche. Aber auf jeden Fall bald.
Als sie im Bett lag fühlte sie sich leer. Die Emotionen waren weg und hatten einer alles umfassenden Taubheit Platz gemacht. Vielleicht übertrieb sie ja doch?
Es dauerte lange, bis sie einschlief. Ihr Körper versank in Träumen und begann sich zu regenerieren, zu erholen und zu heilen.
Doch die Wunden auf ihrer Seele heilten nicht.
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