Δ | Wenn ich in den Spiegel sehe...
Ihre Finger trommelten den Takt eines Songs auf die harte Tischplatte, der Beat bewegte ihren Kopf, schwenkte ihn sacht auf und ab. Dies alles geschah ganz unterbewusst, nichts was sie absichtlich steuern würde. Der Blick schweifte durch das kleine Café, blieb an einer Ansammlung kleinerer Bilder hängen, die ihre Aufmerksamkeit erregten. Es waren Zeichnungen vom Meer; mal wunderschöne Sonnenuntergänge, in denen Feuerwalzen den Horizont verschlungen, dann tosende Wellen, deren Gischt die Gewalten der Natur zu vereinen schien, während das kleine Segelschiff hoffnungslos, wie eine Nussschale, dem Spiel der Götter ausgeliefert war. Sie seufzte. Wünschte sich einen kurzen Augenblick an den Strand, weit weg von diesem Ort, fort von dem bevorstehenden Aufeinandertreffen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es Zeit war zu bezahlen, ihre Tasche zu schultern und in Richtung des Gleises, mit der Nummer vier, zu gehen.
Je näher sie dem Treppenaufgang kam, der hoch zum Bahngleis führte, desto mehr schlug ihr aufgeregtes Herz. Was ist, wenn wir uns doch nicht mögen? Was ist, wenn wir uns plötzlich nichts mehr zu erzählen hätten, einander doch unsympathisch finden? Mit einem energischen Kopfschütteln verscheuchte sie die unerwünschten Gedanken. Sie war schließlich erwachsen, hatte sich das Treffen gut überlegt, gehörte nicht zu den Menschen die unbedacht handelten; und doch ließ sich ein kleiner Rest an Zweifeln nicht den Mund verbieten und nagte weiter an ihrem Selbstbewusstsein.
Ihre Beziehung hatte sich rasend schnell entwickelt, es hatte nur eine Handvoll Worte gebraucht, um sie vollends zu verzaubern. Sie hatte sofort den Zauber bemerkt, der von ihren Sätzen ausging, sie magisch zu umhüllen schien und diese federleicht inmitten ihres Herzens pflanzte. Seelenverwandte. Früher hatte sie diese Floskel belächelt, hatte sie ein, zweimal selbst verwendet, doch da war sie jünger, so viel jünger gewesen.
Heute, als erwachsene Frau, wünschte sie sich manchmal die Fähigkeit des rationalen Handelns und allem voran, die des Denkens. In ihrem Kopf zündete täglich ein Feuerwerk an Emotionen, versprühte viel zu oft Funken, lenkte sie von wichtigen Angelegenheiten ihres Alltags ab; verführte sie zu oft dazu, sich in ihren Tagträumen zu verlieren und in Dinge zu viel buntes hineinzuinterpretieren.
Dieses Geständnis ließ sie abrupt innehalten. Fluchend stolperte jemand gegen ihren Rücken, doch mehr als ein um Verzeihung bittendes Lächeln brachte sie nicht zustande. Was, wenn ich zu viel hineininterpretiert habe? Was, wenn ich mir so sehr gewünscht habe eine Seelenverwandte zu finden, so albern ich dieses Wort auch finden möchte?
Sie hatte Freundinnen, wirklich gute Freundinnen, mit denen sie sich gerne traf, um über Männer, Arbeit und die Zukunft zu reden, feiern zu gehen oder einfach nur nebeneinander zu sitzen und die Menschen beim Vorübergehen zu beobachten. Dennoch fehlte ihr etwas, etwas das sie früher kaum in Worte zu wandeln vermochte. Niemand kannte ihre wahre Leidenschaft, das, was sie antrieb, ihre Seele zum Leuchten brachte und den Raum mit einem Meer aus Farben fluten konnte. Keiner konnte oder wollte ihren phantastischen Ausführungen folgen, verstand, was sie mit ihren Sätzen zu formen versuchte - bis eines Tages eine Nachricht auf ihrem Profil pinnte:
„Wenn ich in den Spiegel sehe, kann ich in deine Seele blicken."
Lächelnd hatte sie die Worte betrachtet, zu oft schon hatte jemand schöne Sätze verfasst, um ihr zu gefallen, ihre Aufmerksamkeit zu erregen; doch tief in ihrem Inneren leuchtete unerwartet ein Funke auf, verführte sie dazu mehr als ein Dankeschön zu schreiben.
Den nächsten Tag hatte sie nur mit literweise Kaffee überstanden. In ihrem Kopf flatterten bunte Möwen umher, erhoben sich hoch in die Lüfte, zogen ihre Kreise über ein ungezähmtes Meer aus Ideen, Welten, Emotionen, das sich unendlich am Horizont zu erstrecken schien. Sie hatte so viele Sinneseindrücke zu verarbeiten, dass sie nur mit Mühe die geforderte Konzentration für ihre Arbeit fand.
In der Nacht hatte sie in die noch fremde Seele blicken dürfen, hatte sich fast in einem Ozean verloren, bis sie sich selbst in ihr wiederfand. Es war ein unbeschreibliches Gefühl; so intensiv, wie die aufkeimende Liebe zu einem noch unbekannten Mann, so vertraut, wie das Heimkehren nach einer langen Reise und so befreiend, wie auf einem freien Feld zu stehen und seine Lungen mit dem Bouquet der Natur zu verwöhnen.
Mit ihr wurde alles anders. Sie hatte endlich jemanden gefunden, der sie auf andere Weise verstand, mit dem sie sich tiefgründig austauschen konnte und doch zu nichts verpflichtet wurde. War es also eine gute Idee, all das aufs Spiel zu setzen, nur um sich auch im wirklichen Leben zu begegnen?
Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe und sprang die letzten Stufen hinauf. Der Zug war bereits eingefahren. Ihr strömten distanzierte, freudige und traurige Gesichter entgegen; und dann sah sie ihren Spiegel, blickte direkt in die Augen ihrer Seele.
Dieses kleine Geschichtchen widme ich allen Menschen, die ganz unerwartet einen Seelenverwandten im tiefen Meer des World Wide Webs gefunden haben!
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