Kapitel 1
„Und du bist wieder tot, Cabet", brüllte Gizmo so laut, dass es auch wirklich jeder hören konnte und bohrte den Degen immer tiefer in meine Brust. „Lass gut sein, Lake", grummelte ich genervt und machte einen Schritt zurück, wodurch Gizmo fast das Gleichgewicht verlor, da er sich mit seinem ganzen Gewicht auf seine Waffe gelegt hatte. Aber bedauerlicherweise hatte er- im Gegensatz zu mir- einen verdammt guten Gleichgewichtssinn und stand sofort wieder aufrecht vor mir. Mit einer fließenden Bewegung nahm er jetzt seine Fechtmaske ab und verneigte sich(natürlich nicht ohne sein bescheuertes Gizmo-Grinsen). „Wenn du Applaus willst, geh woanders hin", fauchte ich ihn an und wandte mich ab. Mit einer längst nicht so eleganten Bewegung nahm ich schließlich ebenfalls meine Maske ab und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ich hatte mich ja bereits daran gewöhnt, zu verlieren, gegen Gizmo und eigentlich auch jeden anderen, aber diese Schadenfreude, die nach einem Jahr immer noch in Gizmos Gesicht stand, wenn er wieder gewann, die war einfach unerträglich.
Dann fiel mir etwas ein, was noch einmal ein Lächeln auf mein Gesicht zauberte und ich drehte mich wieder zu ihm um. „Du, Gizmo, wo wir gerade von gewinnen reden...wie läuft es eigentlich so mit Melody?" Mehr musste ich nicht sagen, um ihn röter als eine Tomate werden zu lassen. Dennoch bemühte er sich um einen unbeeindruckten Gesichtsausdruck. „Halt dich da bloß raus, Prinzessin", spuckte er mir entgegen, dann machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand zu seiner Freundin. Melody. Eine kleine, zierliche Blondine, gegen die er noch kein einziges Mal gewonnen hatte.
„Cabet!", brüllte plötzlich jemand. „Ja!", rief ich zurück, wandte mich um und blickte Coralie, meiner Trainerin, direkt in die Augen. „Wieder verloren?", fragte sie spöttisch. Coralie war eine eigentlich ziemlich hübsche, schlanke, großgewachsene Frau mit dunkler Haut und vielen kleinen Zöpfen in ihrem schwarzen Haar, aber wenn sie mich so herablassend ansah, wollte ich ihr am liebsten in ihr schönes Gesicht schlagen. „Offensichtlich", erwiderte ich kalt.
„Melody!", schrie sie jetzt, ohne den Blick von mir abzuwenden. „Was?", brüllte Melody zurück und ich musste mir mühevoll ein Lachen verkneifen, als Coralie die Augen rollte und sich jetzt doch zu ihr drehte. „Komm her." Mit genervtem Blick nahm Melody ihre Hand von Gizmos Hintern und bewegte ihren eigenen zu uns rüber. Man sah ihr deutlich an, dass es ihr gar nicht passte, was auch immer sie eben jetzt tun musste. „Jaaah?" „Duell, du und Liv, jetzt!" Mehr musste Coralie gar nicht sagen, um uns beiden ein geschocktes ‚oh nein' zu entlocken. Aus verschiedenen Gründen, versteht sich. Melody war gut, verdammt gut und ich war schlecht. Richtig schlecht. Und zudem fühlte ich mich neben ihr immer wie das hässliche Entlein.
Melody und ich nahmen also gegenüber Aufstellung und warteten. „En garde", rief Coralie und bevor ich überhaupt wahrgenommen hatte, dass es losging, jagte Melodys Degen schon auf mich zu. Ich verdankte es meinen doch einigermaßen guten Reflexen, dass ich diesen Schlag noch blocken konnte, doch dann hatte ich keine Chance mehr. Innerhalb kürzester Zeit hatte Melody mich bestimmt fünf Mal getroffen, doch das schien ihr nicht zu reichen. Sie machte immer weiter, bis sie durch einen besonders geschickten Stoß meinen Degen auf die andere Seite der Matte, auf der wir uns duellierten(wenn man das überhaupt Duell nennen konnte) und mich auf meinen Hintern beförderte. Und natürlich hatten die anderen nichts Besseres zu tun, als zu jubeln und zu klatschen. Wütend schnaubend rappelte ich mich wieder auf und holte meinen Degen. Von den Blicken und rufen der Anderen ließ ich mich schon lange nicht mehr beeindrucken.
Als das Horrortraining endlich vorbei war, war ich die Erste, die aus der Halle jagte. Innerhalb kürzester Zeit war ich umgezogen und eilte nach draußen. Dort war der kleine blaue Peugeot das erste, was mir ins Auge fiel und mich wieder zum Lächeln brachte. Hinter dem Steuer saß Honey und strahlte mich an. Honey war so was, wie mein Kindermädchen, wobei ich finde, dass das verdammt bescheuert klingt, vor allem wenn man bedenkt, dass ich inzwischen auch schon 16 bin, deshalb bezeichne ich sie immer nur als meine Freundin, meine beste Freundin, meine einzige Freundin. Sie war circa Mitte 20, hatte honigblondes Haar, dunkelblaue Augen und ein strahlendes Lächeln, mit dem sie die ganze Welt zu umarmen schien(meistens umarmte sie dann doch nur mich).
„Hey Liv!", rief sie fröhlich, kaum dass ich die Autotür geöffnet hatte. „Schönen Tag gehabt?" Schnaubend ließ ich mich auf den Beifahrersitz fallen. „Ansichtssache", grummelte ich. „Hi Honey", fügte ich dann ebenfalls lächelnd hinzu und umarmte sie kurz. „Wir müssen uns ein wenig beeilen, Lucia hat schon wieder Feuer gespuckt, als ich weg bin, weil irgendwer so eine Vase runter geschmissen hat, die offensichtlich einiges gekostet hat", erklärte Honey, als sie das Gaspedal voll durchdrückte und sich geschickt vom Parkplatz schlängelte. „Nicht, dass für Lucia irgendwas teuer wäre, ich meine, dein Dad hat den Geldhahn ja offenbar immer noch nicht zugedreht und dass obwohl er wann das letzte Mal zu Hause war? Ich habe ihn jedenfalls noch nie zu Gesicht bekommen und ich meine ja nur, immerhin arbeite ich inzwischen auch schon drei Jahre bei euch. Egal, jedenfalls hat Lucia beschlossen, dass ich schuld bin und gesagt, wenn ich in zwanzig Minuten nicht wieder da bin...Jaaah, den Satz hat sie nicht beendet. Egal, bist du angeschnallt?" „Klar", erwiderte ich, kurz verwirrt, aber dann belustigt über Honeys Redeschwall. Dann krallte ich mich erschrocken am Türgriff fest und betete, dass auf der Strecke wenigstens kein Blitzer stand. Wir hatten Glück, aber den Türgriff ließ ich trotzdem erst los, als wir in die Hauszufahrt einbogen und Honey offenbar endlich die Bremse gefunden hatte.
Ich wohnte jetzt schon mein ganzes Leben lang hier und trotzdem fand ich es noch immer beeindruckend, wenn wir den letzten Hügel hinauffuhren und die Bäume, die unsere Einfahrt säumten und sie in eine traumhafte Allee verwandelten, sich lichteten und wie auf einer Waldlichtung unser Haus freigaben, sanft beschienen von der nachmittäglichen Sonne, umgeben von Blumen in allen Farben, Büschen und kleinen Bäumen. Von außen hatte man absolut keine Chance, es zu sehen, aber wenn man davor stand, dann haute es einen beinahe um.
Honey hatte kaum die Handbremse angezogen, da flog auch schon die Flügeltüre auf und meine Mutter kam mit wehendem Haar auf uns zu. Bereits von weitem war zu erkennen, dass sie vor Wut fast überkochte. Nicht gerade ein seltener Anblick, ehrlich gesagt. „Warum hat das so lange gedauert?", fauchte sie, noch bevor sie uns erreicht hatte. „Coralie hat überzogen, krieg dich ein", entgegnete ich, empört über diese freundliche Begrüßung. Sie ignorierte mich und baute sich wütend vor Honey auf. „Also, junge Dame, zurück zu unserem Gespräch von vorhin!" Honey murmelte etwas, was wie „eher einseitig" klang, setzte aber ein höfliches Lächeln auf und wartete, dass Lucia weiter sprach. Plötzlich brüllte diese so laut, dass Honey und ich erschrocken zusammen zuckten: „DIESE VASE WAR VERDAMMT TEUER! HAST DU ÜBERHAUPT EINE AHNUNG, WAS ES KOSTET, DIE ZU ERSTETZEN?! MAN KANN SIE ÜBERHAUPT NICHT ERSTEZEN, SIE WAR NÄMLICH EINE SONDERANFERTIGUNG!" Das letzte Wort kreischte sie so laut und hoch, dass sich ihre Stimme für einen kurzen Moment verabschiedete, ansonsten hätte sie sicher noch weiter geschrien.
Honey nutzte diese kurze Pause, um auch etwas zu sagen: „Wenn ich zu meiner Verteidigung sagen dürfte, dass ich diese Vase nicht einmal berührt habe und sie schon gar nicht runter geworfen habe.." Sie wollte weiter reden, aber Lucia lief langsam rot an, ein sicheres Zeichen, jetzt lieber zu schweigen. „Ich glaube, du brauchst einen Anwalt", flüsterte ich ihr ins Ohr und sie verkniff sich mühevoll ein Grinsen. Lucia hatte offenbar fertig geladen und schrie jetzt wieder los. „Oh nein, komm mir bloß nicht so! Du verschwindest jetzt sofort da rein und sammelst die Scherben auf, vielleicht hast du ja Glück und man kann sie wieder reparieren. Und dann überlegst du dir was, wie du das Geld für die Vase wieder aufarbeiten kannst. Ich sollte die feuern, du Nichtsnutz!"
„Lucia, das reicht!", schaltete ich mich ein, wodurch ich endlich die Aufmerksamkeit meiner Mutter erhielt. War allerdings keine sehr gute Idee gewesen. „Misch dich nicht ein", fauchte sie jetzt leise. „Verschwinde auf deinen Flur, ich will dich heute nicht mehr sehen!" Das ganze hätte jetzt natürlich deutlich eindrucksvoller geklungen, wenn sie gesagt hätte, Verschwinde auf dein Zimmer, oder, Verschwinde in dein Kämmerchen, aber es war nun einmal so, dass ich in diesem riesigen Haus, das mein Vater vor Jahren erstanden und renovieren hatte lassen, einen eigenen Flur hatte. Und in eben jenen verschwand ich jetzt, nicht ohne Honey noch einen mitleidigen Blick zu zuwerfen, die ich jetzt mit meiner Mutter alleine ließ.
Von innen erinnerte unser Haus auf den ersten Blick an ein altes Schloss. Die große Eingangshalle war gefliest und in der Mitte führte eine breite, Teppich gesäumte Treppe nach oben, die sich auf dem ersten Absatz in zwei schmalere Treppen aufteilte, die nach rechts und links weiter führten. Ich nahm die rechte Treppe und lief hinauf in den zweiten Stock. Mein Flur war nicht sonderlich groß, aber es war eben mein Flur. Er enthielt zwei Zimmer, das Bad und mein Schlafzimmer und das Bad schien gerade verzweifelt nach mir zu rufen. Ich trat ein und fand mich in einer Unterwasserwelt wieder. Die Wände waren blau gefliest und der Boden sah aus, als wäre er aus Sand. Bilder von Fischen und anderen Meeresbewohnern waren in die Wände eingelassen und auf dem Fensterbrett saß eine kleine Meerjungfrau, die mein Dad mal von einer Reise mitgebracht hatte.
Ich zog mich aus und betrat meine große Dusche. In die Wand war ein kleines Radio integriert, welches ich jetzt voll aufdrehte, während das warme Wasser wir sanfter Regen auf mich herunter prasselte. Ich ließ mir verdammt viel Zeit, aber schließlich fiel mir nun wirklich nichts mehr ein, was ich im Bad noch tun konnte und so trat ich nach anderthalb Stunden erfrischt und müde durch die andere Tür auf meinem Flur; die zu meinem Zimmer. Als ich die Tür öffnete, flog mir erst einmal ein Blatt Papier ins Gesicht, was sich offenbar von meinem Schreibtisch verabschiedet hatte. Wie auch noch einiges anderes, was jetzt kreuz und quer durch mein Zimmer flog und mich darauf aufmerksam machte, dass es zu stürmen angefangen hatte. Sommergewitter. Ich arbeitete mich zu meinem weit geöffneten Fenster durch und stellte fest, dass sich dank des starken Regens auf dem Boden eine riesige Pfütze gebildet hatte. Eilig versuchte ich das Fenster zu schließen, was mir der Wind, der dagegen ankämpfte und auch die Gardine, die offenbar gerade auf Kuschelkurs war, nicht gerade leicht machten. Schließlich hatte ich es aber doch geschafft und holte einen Lappen aus dem Bad, um die Pfütze zu beseitigen. Dann sah ich mich in meinem Zimmer um... Das reinste Chaos! (Ist ja nicht so, dass es das nicht immer ist, aber... Das reinste Chaos!) Seufzend begann ich, die herumfliegenden Blätter einzusammeln und wieder auf dem Schreibtisch zu stapeln, alles was umgefallen war wieder hinzustellen und etwas Ordnung rein zu bringen.
Dann ließ ich mich erschöpft auf meinen Klavierhocker fallen und strich sanft über die Tastatur meines weißen Flügels, meinem Heiligtum. Von dort aus blickte ich durch die geschlossene Balkontür in den Regen. In der Ferne konnte ich klein den Reitstall sehen, den ich gerne besuchte, wenn ich mich langweilte oder es in diesem viel zu perfekten Haus einfach nicht mehr aushielt. Entsprechend war ich also mindestens fünf Mal die Woche da. Schließlich riss ich meinen Blick los und konzentrierte mich stattdessen wieder auf ein Klavier. Ich schlug ein paar Tasten an um mich einzuspielen und dann spielte ich. Und wenn ich spielte, konnte ich alles um mich herum vergessen. Dann war ich in meiner eigenen Welt.
Als es an der Tür klopfte, zuckte ich erschrocken zusammen. Es hatte aufgehört zu stürmen und ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mit, dass es bereits halb sieben war. Erneut ertönte ein klopfen. Ich krabbelte von meinem Hocker und öffnete die Tür. Dort stand Honey, ein Tablett mit einem Teller Nudeln und einem Glas Wasser darauf und grinste mich an. „Ich dachte, du hast vielleicht Hunger", meinte sie, trat ein und stellte das Tablett auf dem kleinen Couchtisch ab. Hunger hatte ich tatsächlich. „Danke!", sagte ich glücklich, ließ mich auf die Couch fallen und begann begeistert zu essen. Honey nahm neben mir Platz. „Wie bist du überhaupt hier hoch gekommen, ohne dass Lucia dich erwischt hat?", fragte ich zwischen zwei Bissen, denn meine Mutter hatte immer den genauesten Überblick, wer gerade wo durchs Haus lief. Honey setzte einen dramatischen Gesichtsausdruck auf. „Kennst du das Bild von den zwei Welpen, gleich neben der Küche?"
„Noch ein Geheimgang?", fragte ich begeistert. Honey nickte. „Er endet hinter dem unglaublich kreativen Gemälde mit den drei Strichen, das hier oben hängt." Ich schmunzelte. „16 Jahre und dieses Haus überrascht mich immer noch."
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