zwei
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Wir stehen nebeneinander vor dem Haus meiner Eltern, die Schweißabdrücke unter meinen Achseln müssen gigantonormisch sein, was auf der einen Seite an der extrem heißen Luft und dem viel zu warmen Anzug liegen, auf der anderen Seite aber auch mit meiner riesigen Panik zusammenhängen könnte. Eventuell stehen wir hier schon für einige Minuten in einträchtiger Stille und starren das Haus an, aber ich habe einfach keinen verschissenen Plan, was ich jetzt machen soll. Ich klaue nicht jeden Tag den alten Mercedes W124 meines Vaters, auch wenn man das bei einem BadBoy wie mir natürlich denken könnte.
Lima steht wie die Ruhe in Person neben mir, guckt verträumt in der Gegend umher und gibt keinen Ton von sich. Ich räuspere mich leicht, reibe mit den Händen über die riesige Hose und beginne kleine Schritte Richtung Haustür zu machen. „Ich gehe dann mal. So langsam." „Ok." Sie nickt, bleibt aber an Ort und Stelle stehen und summt leise vor sich hin. Scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße. Jetzt wünsche ich mir nicht mehr, dass etwas vom Himmel auf Melvin fällt, sondern auf mich und ich endlich in Frieden sterben kann. Es war schön hier. Ich bleibe kurz, in der Hoffnung meinen letzten Atemzug zu tätigen, stehen, jedoch passiert nichts und ich gehe die letzten Schritte bis zur Haustür. Der Ersatzschlüssel liegt wie immer unter dem grässlichen Zwerg (mein Vater hat ein Faible für männliche Gartenzwerge mit weiblichen Brüsten - manchmal glaube ich, dass er vielleicht schwul ist, es aber nicht weiß), ich gebe mir Mühe so leise wie möglich die Tür aufzuschließen und schleiche auf Zehenspitzen in den Flur, wo ich den Autoschlüssel vom Brett nehme. Im Wohnzimmer sitzt mein Vater, mit einer Dose Bier, schlafend vor dem Fernseher, sieht sogar so aus als würde ihm wieder der Speichel am Kinn hinunterlaufen. Noch viel leiser gehe ich rückwärts wieder hinaus und schließe vorsichtig die Tür hinter mir. Tom Cruize hätte es nicht besser hinbekommen. Das kleine freudige Quieken kann ich nicht verhindern, versuche mich dann aber so lässig wie möglich zu Lima umzudrehen und will den Schlüssel um meinen Finger kreisen lassen, woraufhin er erstmal runterfällt. Peinlich berührt und mit knallrotem Kopf hebe ich ihn schnell wieder auf und öffne das Auto.
„Ein schönes Auto habt ihr." Lima läuft lächelnd zur Beifahrertür und streicht sanft über den perlblauen Lack dieses Babys. „Ja. Mein Opa hat damit schon die ein oder andere Leiche in den Wald gefahren." Ich lache nervös und setze mich auf den Fahrersitz, wo ich als erstes den Sitz verstellen muss, da ich nicht an die Pedale komme. Ganz davon abgesehen, dass ich diesen Hebel nicht finde, läuft es auch sonst eher semi. Dad hat seinen 'ersten und einzigen Sohn' wie er das Auto immer nennt, tatsächlich von Opa bekommen, nachdem er gestorben war. 'Endlich bringt der alte Sack mal was Gutes', meinte Papa, als Opa gerade in die Erde gelassen wurde und hatte verträumt zum Mercedes am Parkplatz geschaut. Lebendig hätte mein Großvater seinen Sohn nicht einmal drin sitzen lassen. Manchmal hat der Wagen so fürchterlich gerochen, dass er vielleicht wirklich damit Leichen in den Wald transportiert hat. Möge er in Frieden ruhen.
Wir sitzen nun beide im Auto, meine Augen huschen hektisch über die ganzen Knöpfe und Hebel und ich versuche mich brennend daran zu erinnern, wie mein Vater immer losfährt. Ich durfte noch nie fahren, weswegen ich keinen Plan habe wie das läuft. Dad meinte immer nur, dass ein echter Mann das Autofahren im Blut hat. Ich widerstehe dem Drang, in meiner Unterhose nachzuschauen, ob ich auch wirklich die Merkmale eines Mannes erfülle, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dasselbe wie heute morgen vorfinden würde. Melvin hatte mir zwar mal eingetrichtert, dass er auch bei zu niedrigen Temperaturen abfallen kann, aber ich bin vor einem Jahr dahinter gekommen, dass es nicht stimmt.
Ich drücke auf gut Glück den Hebel neben mir nach unten, was die Handbremse sein müsste, woraufhin der Wagen plötzlich beginnt, die Auffahrt hinab zu rollen. Eigentlich war genau das mein Ziel, weil ich den Motor nicht anmachen wollte, um weniger Aufmerksamkeit zu erlangen, doch das Auto rollt schneller und schneller und ich kann mich nicht mehr erinnern, wo die Bremse ist. Rechts, Links, Mitte? Wer soll sich die Scheiße denn merken? Beim zweiten Pedal angekommen bleibt das Auto ruckartig stehen und ich knalle beinahe mit meinem Schädel gegen das Lenkrad. Spätestens jetzt müsste jeder bemerkt haben, dass ich der absolute Loser und die Blamage in Person bin. Schande über mein Haupt. Lima sitzt immer noch still neben mir, aber ich kann ganz genau sehen, wie sie sich das Lachen verkneift. Ich atme drei Mal tief ein und aus, so wie Mama es mir immer sagt, wenn ich mal wieder fast einen Heulkrampf habe und lasse die Bremse erneut los. Der Wagen rollt gekonnt die restliche Auffahrt hinunter, bis auf die Straße und ganz vielleicht ein kleines bisschen in das Blumenbeet von unserer Nachbarin. Da es noch bergab geht, lasse ich weiter rollen und bringe die alte Karre ein paar Häuser weiter hinten zum Stehen. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen.
Ich versuche mich an die Erklärungen von Dad zu erinnern. Rechts müsste Gas sein, dann ist links die Kupplung. Kupplung und Bremse drücken, Schlüssel im Zündschloss umdrehen. Der Motor springt an. Erster Gang, Bremse loslassen, das Auto rollt schon wieder, Kupplung langsam kommen lassen. Abgewürgt. Von vorne. Erster Gang, Bremse loslassen, das Auto rollt weiter, Kupplung noch langsamer kommen lassen. Wieder abgewürgt. Ich versuche das Ganze noch fünf weitere Male, bis der Wagen sich in Bewegung setzt und zwar dieses Mal nicht rückwärts. Ha! Ich kann nicht anders als leicht zu jubeln, immerhin kann man einen solchen Erfolg nicht jeden Tag verbuchen und drücke kräftig aufs Gas, wodurch mein Körper in den Sitz gedrückt wird. Der Motor hört sich ungesund hoch an und durch die Stille hier drin scheint es noch penetranter, dass irgendwas falsch ist. Der Klang wird höher und höher und höher und ich meine mich an etwas von wegen Schaltung zu erinnern.
„Ich glaube, du musst einen Gang hoch schalten." Verwirrt starre ich auf den Schaltknüppel, als es mir wieder einfällt, ich die Kupplung drücke und in den zweiten Gang schalte. Als der Motor schon wieder immer höher wird, schalte ich in den dritten. Whoa, was bin ich ein Kerl. Brad Pitt wäre neidisch. Das Lenkrad halte ich fest umklammert, um uns nicht umzubringen und mit jedem Meter habe ich das Gefühl, dass es besser wird. Wahrscheinlich sollte ich eine Karriere als Rennfahrer antreten. Ich schaue leicht verlegen grinsend zu Lima, die mir das umwerfend zitronigste Lächeln aller Zeiten schenkt und mich somit fast dazu bringt, in den Graben zu fahren.
Um die Peinlichkeiten der letzten Minuten ein wenig zu überspielen schalte ich locker das Radio an, das sich dann doch als CD-Player herausstellt (Catfish sag ich da nur) und die limp bizkit CD meines Vaters beinhaltet. 'Break stuff' dröhnt in betäubender Lautstärke aus den Lautsprechern, weswegen ich panisch auf alle Knöpfe drücke, um Fred Durst endlich zum Verstummen zu bringen, was mir nach einer gefühlten Ewigkeit gelingt. Falls Mrs. Harpers Katze morgen fehlt, war sie der kleine Hubbel eben. Vergebt mir meine Sünden. „Dein Vater muss aber ganz schön sauer gewesen sein." „Das ist er die meiste Zeit. Außer er hat Bier, einen Fernseher und seine Ruhe." Die Lieblingsbeschäftigung von ihm ist Rumbrüllen. So richtig laut und aus vollem Herzen. Mich, meine Mutter, egal wen. Wenn er nach Hause kommt, unter der Dusche, überall. Ich will ihn nicht verurteilen, im Schlaf ist er ganz friedlich, außerdem stumpft man nach einer Zeit ab, mir macht es nichts mehr aus. „Sauer sein ist scheiße."
Lima kurbelt ihr Fenster herunter und streckt den Kopf mit geschlossen Augen heraus, was ihre Haare wilder in der Luft herumfliegen lässt, als sie es sowieso schon die meiste Zeit tun. Ich kann nicht anders als immer wieder zu ihr zu blicken, auch wenn ich deswegen beinahe einige Mülltonnen, Briefkästen und Kleintiere umfahre. Wenn ich nicht schon vorhin Herzchenaugen hatte, dann habe ich sie spätestens jetzt. Ich kann mir das Grinsen gar nicht mehr aus dem Gesicht wischen, wenn Melvin hier von wüsste... Dem würden vor Neid die kleinen Rosinen schrumpeln.
Im Radio wechselt das Lied, was Lima dazu bringt sich kerzengerade hinzusetzen, die Lautstärke aufzudrehen, mitzusingen und vorerst leicht hin und her zu schaukeln. Ich kenne zwar nicht den Text, doch ihre Art ist so ansteckend, dass ich mitsumme und ebenfalls leicht im Sitz hin und her rutsche, was ziemlich affig aussehen muss, denn sie beginnt zu Lachen. Als der Sänger dann einen „Yieh" ähnlichen Laut von sich gibt, kann sich Lima nicht mehr halten und sie beginnt wie wild im Sitzen zu tanzen, was ich ihr ebenfalls nachmache. So gut es eben geht und obwohl ich kein bisschen tanzen oder mich gar rhythmisch bewegen kann. Aber das spielt keine Rolle. Mit Lima spielt nichts eine Rolle, da ist alles andere egal, selbst mein Lieblingsgericht.
So plötzlich das Lied begonnen hat, ist es auch wieder zu Ende und wir setzen uns schweratmend zurück, bis wir in schallendes Gelächter ausbrechen. „Du tanzt wie mein Onkel, wenn er fast die ganze Flasche Wodka getrunken hat." Sie hält sich den Bauch vor lauter Lachen und scheint sich gar nicht mehr einzubekommen. „Und du wie meine Oma, wenn sie mal wieder zu viele Haschkekse gegessen hat." Kurz wird es mucksmäuschenstill, doch es dauert nicht lange, bis wir uns beide erneut vor Lachen krümmen.
„Vagabond. Caamp. Mein Leben." Mittlerweile haben wir uns wieder beruhigt und nach ihrer Aussage lehnt sich Lima zufrieden zurück und schließt die Augen. Ich habe keine Ahnung, wo wir hinfahren oder wo wir hinfahren wollen, doch mit ihr fühlt sich alles richtig an. Von mir aus könnten wir auch den ganzen Abend und die ganze Nacht nur herumfahren. Die Sonne steht tief am Himmel und taucht alles in goldenes Licht, was diese unwirkliche Situation nur noch viel unwirklicher wirken lässt. Eher hätte ich gedacht, dass ich schwanger werde, als dass das hier passiert. Aber Wunder geschehen, selbst bei den größten Versagern.
„Was macht man denn jetzt so als rebellischer Teenager?" Ich schaue fragend, mit leicht geröteten Wangen zu Lima, die mir halb frech grinsend, halb überlegend entgegenblickt. „Ich weiß nicht. Alkohol trinken vielleicht? Rauchen? Beides?" Geraucht habe ich noch nie und Alkohol nur in kleinen Mengen getrunken (Melvin hatte einmal Bier zu mir geschmuggelt - es war warm). Aber wenn ich alt und runzelig bin und meine Füße vor lauter Bierbauch nicht mehr sehen kann, möchte ich wenigstens meinen Enkelkindern von dieser krassen Braut erzählen, mit der ich in dieser einen Nacht damals, noch krasseres Zeug gemacht habe. Und das wäre schon mal ein Anfang. Mal ganz abgesehen von dem krassen Zeug, das ich Melvin morgen unter die Nase reiben kann, wenn ich vor seiner Tür stehe und er wahrscheinlich noch seinen Supermen-Schlafanzug trägt. „Tankstelle?"
„Tankstelle."
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