Prolog
Er öffnete vorsichtig die Tür. Dabei musste er gegen einen Widerstand ankämpfen und ein quietschendes Geräusch ertönte. Schon durch den kleinen Spalt pfiff der Wind an seinen Ohren vorbei, schlug ihm ins Gesicht. Es wäre besser, die Tür wieder zu schließen. Aber er musste in Erfahrung bringen, ob sie etwas gefunden hatten.
Er öffnete sie weiter und musste viel Kraft aufwenden, damit die Tür nicht wieder zuschlug. Der Mann trat hinaus. Sofort wurde seine Kleidung vom Wind erfasst. Es schien ihm Spaß zu machen, mit seinem Umhang zu spielen. Um dem Wetter nicht schutzlos ausgeliefert zu sein, zog er sich schnell die Kapuze seines Umhangs über den Kopf. Hoffentlich ließ ihn sein Gefühl heute nicht im Stich. Aber etwas in ihm verriet ihm, dass heute der richtige Tag war.
Er vertraute auf sie und lief den Hügel hinab. Nicht in Richtung des kleinen Dorfes, das unter ihm an einem Fluss lag. Sondern in die andere Richtung zu den Bergen.
Das Gras war rutschig und bereits nach wenigen Schritten fühlte er, wie ihm seine Kleidung nass und schwer am Körper hing. Immer wieder fielen ihm Regentropfen in die Augen, obwohl er sie zukniff.
Er sandte ein Stoßgebet zum Himmel.
Bitte, lasst es jetzt so weit sein. Ich weiß nicht, wie lange wir das sonst noch durchstehen! Wir brauchen sie jetzt. Ich brauche sie!
Wenn er doch selbst etwas tun könnte. Aber das war unmöglich.
Auch wenn er keine Antwort bekam, war er davon überzeugt, dass sie ihn gehört hatten.
Der Himmel war noch immer schwarz und ein Blitz zuckte am Horizont, als er die Berge erreicht hatte. Kurz darauf folgte ein lautes Donnergrollen. Wenn heute der Tag war, musste er nun etwas finden. Oder hatte er sich doch wieder getäuscht? So langsam wurde die Zeit knapp. Aus einem anderen Dorf hatten sie die Nachricht erhalten, dass zwei Häuser unvermittelt eingestürzt waren. Er konnte sich denken, was dafür verantwortlich war.
Der Mann zog sich seinen Umhang enger um den Körper. Durch den Wind fiel ihm das Atmen schwer. Die Bäume des nahegelegenen Waldes bogen sich und der Fluss strömte noch unruhiger als sonst. Er bekam ein mulmiges Gefühl.
Die Bedrohung wurde von Tag zu Tag spürbarer. Anfangs war sie eine harmlose Wolke gewesen, die sich langsam vor die Sonne schob. Mittlerweile war der ganze Himmel dunkel. So, wie in diesem Moment. Wie passend.
Trotzdem vertraute er auf sie. Sie würden sie finden. Und dann wäre sie bei ihm.
Der Boden war matschig, als er einen Fuß vor den anderen setzte und er sank immer wieder ein. Es donnerte und der Mann zuckte zusammen.
„Noch ein paar Minuten. Wenn dann niemand hier ist, werde ich wieder gehen", sagte er zu sich selbst. Seine Stimme klang rau.
Mittlerweile war sogar seine Haut durchnässt und die Kälte drang bis in seine Knochen vor. Er schüttelte sich. Offensichtlich war es doch noch nicht so weit. Aber lange konnten sie alle nicht mehr warten. Ansonsten wäre die Welt verloren. Er würde seinem Anführer davon berichten, dass sie immer noch warten müssten.
***
Der Mann wählte einen anderen Weg zurück, durch den Wald. Der Wind blies noch immer, aber etwas sagte ihm, dass das sein Weg war. Seine letzte Chance für heute.
Der Regen hatte etwas nachgelassen. Der Himmel wurde noch immer in regelmäßigen Abständen von Blitzen erhellt. Der Wind ließ die Blätter rascheln.
Plötzlich sah er direkt vor sich ein grelles Licht, gleichzeitig hörte er ein lautes Krachen. Er spürte die Elektrizität in der Luft und zitterte noch stärker als zuvor. Vor ihm in den Boden war ein Blitz eingeschlagen. Sein Herz hatte einen Schlag ausgesetzt. Er konnte nichts mehr sehen, da ihn der Blitz geblendet hatte. Vielleicht war das seine verdiente Strafe. Erleichterung durchfuhr ihn, als sich sein Sichtfeld einige Augenblicke später klärte.
Seine Erleichterung schwang in Ehrfurcht um, als er auf dem Baum vor sich eine Entdeckung machte. Dort saß eine Gruppe Raben. Es schien fast, als hätten sie die Blätter ersetzt, die der Baum durch den nahen Blitzschlag hatte einbüßen müssen. Hoffnung stieg in ihm auf.
Noch immer peitschte der Wind und der Regen fiel leicht durch die Blätterdecke, aber er nahm es nicht mehr wahr. Sein Blick war auf die Vögel gerichtet. Alles andere war unwichtig. Kein Ast war leergeblieben, von überallher sahen ihn dunkle Augen an. Auch die Raben waren durchnässt, aber selbst das konnte ihnen ihre Würde nicht nehmen.
„Vertraue", hörte er da eine Stimme. Sie schien von überall zu kommen. In diesem Moment hatte sich der Wind gelegt. Es war fast, als hätte die Stimme Gewalt über das Wetter. Lediglich ein kaum wahrnehmbarer Nieselregen blieb.
„Ihr wisst, dass ich das tue. Aber wie lange sollen wir noch warten?" Bei seinen Worten sah er die Vögel an. Er erhielt keine Antwort. Scheinbar war kein weiterer Kontakt vorgesehen. Enttäuscht ging er weiter. Nun kam er schneller voran, was ihn dennoch freute. Denn er wollte schnellstens seine nassen Kleider ablegen. Außerdem hatte er nun das, worauf er so lange gewartet hatte. Ein Zeichen, dass sie noch da waren. Dass er vertrauen sollte. Die Hoffnung war nicht verloren.
Nachdem er einige Schritte gegangen war, hörte der Mann raschelnde Flügelschläge hinter sich. Er blickte zum Himmel, der noch immer dunkel war, und sah einen noch dunkleren Vogel über sich. Einzelne Tropfen fielen ihm ins Gesicht. Die letzten, kaum wahrnehmbaren, Überreste des Unwetters. Er blieb stehen und der Rabe landete vor seinen Füßen.
„Wir sind uns sicher, dass wir sie haben", sprach er. Der Mann war nicht im Mindestens erstaunt darüber.
„Das ist gut!" Das Grinsen konnte er nicht verbergen. Endlich eine gute Nachricht. Sie hatten sich doch noch nicht abgewandt.
Das Gefieder des Vogels glänzte blau und grün, durch die Nässe wirkte es fast wie ein Leuchten.
„Wir machen uns jetzt auf den Weg und holen sie zu uns. Wo sie hingehört", sagte der Rabe. Da kam ein zweiter Vogel angeflogen und setzte sich neben den ersten.
„Wir müssen sie nur irgendwie davon überzeugen, mit uns zu kommen." Der neue klang skeptisch. Er war kleiner als der erste Vogel.
„Aber wir werden schon einen Weg finden", hielt der andere dagegen.
Der Mann nickte. Der etwas größere Rabe erhob sich in die Lüfte und wie auf ein unsichtbares Zeichen hin folgte ihm die Gruppe, die in hundert Metern Entfernung noch immer auf dem Baum saß. Eine neue Wolke, die sich in Richtung der Berge schob.
Dann wurde der Himmel von einem Blitz erhellt und die Gruppe war wie vom Erdboden verschluckt. Es folgte ein Donner, der ihm in die Knochen fuhr. Jetzt würde alles besser werden, das wusste er.
„Komm mit", sagte da der Rabe, der noch vor ihm saß. Der Mann folgte ihm.
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