-24- Von Säcken und Feuer II
Jetzt schenkte ich dem anderen Mann Beachtung, der den Hausmeister nicht aus den Augen ließ, während er zu mir sprach. Erst als er sich auf den Weg zurück ins Schulgebäude machte, wandte er sich an mich und sagte: „Komm, ich bringe dich erstmal von hier weg. In Sicherheit. Bevor er es sich wieder anders überlegt.“
Ich war skeptisch, kannte ich den Mann doch nicht. Aber er hatte mich gerettet, als ich entführt werden sollte. Vielleicht war auch alles nur ein Trick und die wahre Entführung geschah erst jetzt, wenn ich mich in Sicherheit wiegte? Immerhin hatte er von einem Bruder gesprochen. Standen sie auf unterschiedlichen Seiten? Ich blieb, wo ich war, musterte den Mann genauer. Er trug eine Jeans und ein helles T-Shirt, das einen Kontrast zu seinen schwarzen Haaren bildete.
„Ich bringe dich nach Hause. Und dann kann ich dir Antworten geben.“ Etwas daran kam mit bekannt vor. Langsam ging ich einen Schritt nach vorne. Ein weiterer folgte. Ich umrundete den Wagen vorsichtig und erkannte, was passiert war: In den Transporter war ein Stein eingeschlagen. Nein, eigentlich kein Stein, ein kleiner Felsen. Die Motorhaube hatte eine große Delle. Der nächste trifft dich.
Vielleicht sollte ich doch mitgehen, bevor ich auch noch erschlagen wurde.
„Wenn ich dir etwas tun wollte, hätte ich es schon längst getan.“ Er hob die Hände. „Ich wollte ihn nur einschüchtern."
„Ist dir gelungen ..."
Das hier war ein Wendepunkt. Entweder, ich ging ins Sekretariat, meldete den Vorfall und sorgte dafür, dass der Hausmeister bestraft wurde. Sollte es stimmen, dass Arokin verhaftet worden war, weil er der vermeintliche Entführer war, würde er eventuell wieder frei kommen. Wäre das gut oder schlecht? Vielleicht wäre es die beste, und doch die schwerste Entscheidung. Ich hätte über all das reden müssen, was ich nicht verstand. Denn wo war der Anfang dieser Geschichte, wo das Ende? Noch dazu würde sie das Leben von anderen wohl am stärksten beeinflussen.
Ich könnte einfach zurück in die Klasse gehen, meine Verspätung mit einer Ausrede erklären und so tun, als wäre nichts geschehen. Vielleicht wäre es am Einfachsten, und doch am Schwersten. Ich hätte all das in mich hineinfressen müssen.
Oder ich tat das, was dieser fremde Mann mir vorschlug, ging nach Hause und hörte mir an, was er zu sagen hatte. Vielleicht wäre es dumm, und doch war ich gespannt auf das, was er zu sagen hatte.
Ich machte einen Schritt in Richtung Schule, bevor ich mich umdrehte und den mir anderen möglichen Weg einschlug. Nach Hause. Die Prüfung hatte sowieso schon angefangen. Auch, wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich das erklären sollte. Doch, eigentlich hatte ich die. Ich wäre fast entführt worden. Also würde ich es erzählen müssen. Aber nicht jetzt. Nicht heute.
Ich kann dir sagen, was in letzter Zeit passiert ist. Ich blieb stehen und zuckte zusammen. Der Gedanke war nicht von mir gekommen. Es war auch nicht meine Stimme, die das gedacht hatte. Es war eine andere, vertraute. Aus dem Traum, wie ich begriff. Das konnte nicht sein. Auch die Worte kannte ich zu gut, als hätte ich sie schonmal gehört.
Während wir liefen, achtete ich darauf, ihn nicht aus meinem Blickfeld verschwinden zu lassen. Ich traute mich nicht. Und ich wollte es nicht. Fast rechnete ich damit, dass jemand von hinten kommen und mich aufhalten, mich wieder zurückschicken würde, um meine Prüfung zu schreiben. Es geschah nicht.
Welche Wendung hatte ich meinem Leben mit dieser Entscheidung verpasst? Meine Freunde würden ihren Abschluss bekommen und ich ... Ich konnte hoffen, dass ich vom Arzt ein Attest bekam, um nachschreiben zu können. Doch dafür müsste ich mich am Morgen in der Schule melden. Was ich nicht getan hatte.
„Danke übrigens“, sagte ich irgendwann zögerlich. „Was ist da gerade passiert?“
„Mein Bruder wollte dich zurückholen lassen. Er traut es sich wohl nicht zu, das selbst zu tun.“ Mir war, als würden die Worte von einem Gewicht der Trauer beschwert.
Ich schüttelte den Kopf, schweigend setzten wir den Weg fort. Das, was er gesagt hatte, ergab keinen Sinn. Auch wenn ich den Mann immer noch nicht kannte, hatte ich das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben. Hatte er etwas mit dem Traum zu tun, an den ich mich nicht mehr erinnern konnte? Das Gefühl verfestigte sich mit jedem Schritt, den wir in die Richtung meines Wohnhauses machten. Wie ein Nagel, der zunächst wackelig in einem Holzbrett steckte, bevor er nach und nach weiter hineingetrieben wurde, bis er feststeckte.
Was brachte mich dazu, zuzulassen, dass mich jemand Fremdes bis nach Hause begleitete? Nur die schwache Erinnerung an einen Traum, die ich nichtmal fassen konnte.
Nachdem man mich fast verschleppt hatte.
Es war leichtsinnig. Und doch richtig.
***
„Weißt du wirklich nicht mehr, wer ich bin?“, fragte er, als ich die Haustür aufschloss. Er war am Gartentor stehengeblieben und sah mich an. Neugier sprach aus der Art, wie er die Frage stellte. Und noch etwas anderes, von dem ich nicht wusste, was es war.
„Auch wenn das komisch klingt, weiß ich, dass ich dich schonmal gesehen habe. Ich weiß nur nicht, wo …“ Ich drückte die Haustür auf, ohne zurückzublicken. „Danke, aber du kannst jetzt gehen." Ich wusste seine Hilfe wirklich zu schätzen, denn auf dem Weg hierher war mir die Bedeutung dessen, was passiert war, erst richtig klar geworden. Man hatte mich entführen wollen. Ich war froh, auf dem Heimweg eine Begleitung gehabt zu haben. Es kam mir nicht seltsam vor, dass er mir seinen Namen nicht genannt hatte.
Mikey kam mir mit wedelndem Schwanz entgegen. Ich bückte mich und wuschelte durch sein Fell. Es war weich unter meinen Händen. Sein Blick blieb dabei kurz an dem Fremden hängen. Dabei unterbrach er sein Schwanzwedeln nicht.
Kurz dachte ich daran, Lina eine Nachricht zu schreiben, sie würde sich bestimmt Sorgen machen. Obwohl es ihr jetzt nicht helfen würde, könnte ich sie so später beruhigen. Aber was sollte ich schreiben? Hey, ich wurde fast entführt, aber es geht mir gut. Ach ja, und irgend so ein Typ hat mich gerettet, und mich nach Hause gebracht. Aber ich glaube, ich kenne ihn von irgendwo. Nein, das ging nicht. Ich musste meinen Freunden etwas sagen, aber nicht so. Immerhin dafür blieb mir noch ein wenig Zeit. Sie würden mehrere Stunden zum Schreiben brauchen. Zeit, in der ich mich sortieren konnte.
„Das wäre nicht klug."
Im nächsten Moment spürte ich, wie mir das Fell unter meinen Fingern entglitt. Der Fremde hatte es tatsächlich gewagt, in den Vorgarten zu kommen. Mikey sprang auf ihn zu. Nicht aggressiv, sondern so, als würde er sich freuen, ihn zu sehen. Verdutzt sah ich, wie er in die Knie ging und meinen Hund grinsend streichelte. Mikey ging so nie auf Leute zu, die er nicht kannte.
Dabei kam der Hauch einer Erinnerung wieder. Das hier war der Mann, der eines Tages plötzlich auf meinem Balkon gestanden hatte. Wirklich helfen tat mir das nicht, da ich noch immer nicht wusste, wer er war. Immerhin wusste ich nun, woher ich ihn kannte. Es war real gewesen.
„Schluss jetzt damit! Was hat das alles zu bedeuten und wer sind Sie?“, fragte ich drängend und hob meine Stimme. Warum siezte ich ihn auf einmal? Vielleicht, weil ich so eine Distanz zu dem aufzubauen versuchte, was passiert war. Zu der ganzen Verwirrung.
Er hockte noch immer vor meinem Hund und streichelte ihn. Bei meinen Worten hielt er inne. „Das du das nicht mehr zu wissen scheinst, würde mich fast zutiefst verletzen. Wenn ich nicht wüsste, warum du dich nicht mehr erinnerst. Und übrigens waren wir schon längst beim Du.“ Er hob den Kopf und sah mich an, ignorierte meinen Hund völlig. Seine blitzenden grünen Augen fingen meine ein. Es war mir unmöglich, ihnen auszuweichen. Ich wollte es auch nicht. Wie hatte ich es bisher geschafft, sie zu ignorieren? Es war das erste Mal seit dieser ganzen Zeit, die er mit mir gegangen war, dass ich ihn richtig ansah. Jetzt war es das Natürlichste der Welt.
„Das hilft mir nicht weiter!“ Das erste Wort verließ meine Lippen laut und kräftig, doch mit jedem weiteren wurde ich leiser und zögerlicher, bis kaum mehr ein stockendes Flüstern blieb. Worte waren nicht mehr wichtig.
Sein Blick fuhr in meine Seele, hakte sich dort ein. An einem Ort, an dem er schon einmal gewesen war. Es fühlte sich vertraut an, richtig. Er passte perfekt hierher. Ich wusste nicht warum, aber das hier war das Puzzle, zu dem ich gehörte, oder mindestens ein weiteres Teil davon. Unsere Blicke hielten sich fest, während ich eine alte Verbindung spürte, die neu aufflammte. Zunächst als kleiner Funke. Doch es dauerte keine Sekunde, bis dieser Funke zu einem Lauffeuer wurde, das zwischen uns brannte. Das in mir brannte. In ihm sah ich dasselbe.
Es erhellte die Dunkelheit, verschlang den hölzernen Damm, der meine Erinnerungen zurückhielt.
Eine kam wieder. Und dieser Erinnerung folgte eine ganze Flut aus weiteren Erinnerungen.
Ich war schockiert. Nicht mehr über das, was mir seit dem Aufwachen widerfahren war, sondern über mich selbst.
Wie hatte ich all das, wie hatte ich ihn, einfach so vergessen können?
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