70. Kapitel
Es kommt mir schon fast ungewohnt vor, allein aufzuwachen. Ich schaue an die Decke und bewege mich nicht. Ich bin zuhause, allein. Harry ist im Hotel, nur sein Hoodie ist hier. Ich greife neben mich und taste nach dem weichen Stoff des Kleidungsstücks. Es anzuziehen, war zu warm, also liegt es neben mir. Ich drücke es an meine Nase und sofort flattert mein Herz zufrieden und glücklich. Heute habe ich frei, morgen habe ich wieder Training. Wir haben nicht einmal neun Uhr. Ich bin nicht müde, habe aber auch nicht sonderlich viel geschlafen. Allerdings habe ich verdammt gut geschlafen.
„Was ist denn mit dir los?", fragt Neo mich skeptisch als ich runter in die Küche komme. Er schiebt mir meine Tasse Tee zu und mustert mich. „Wieso fragst du?" – „Du grinst wie ein verliebtes Schulmädchen." Ich zucke mit den Schultern. Gestern bin ich noch eine ganze Weile bei Harry geblieben. Neo hat schon gepennt, als ich wieder hier war. „Scheiße, Harry, oder?", fragt er mich. Ich antworte nicht, sondern nehme mir Frühstück. „Wie lange warst du noch bei ihm?" – „Eine Weile", weiche ich aus und sehe meinen besten Freund an. „Er hat es mir erklärt. Er hat mir alles erklärt."
„Das klingt, als hättest du ihm verziehen." – „Irgendwie... vielleicht", gebe ich zu. „Ich habe ihn geküsst." Er nickt verstehend. „Und?" – „Nichts und. Ich habe hier allein in meinem Bett gepennt." – „Mhm." – „Ich weiß jetzt, wieso er gegangen ist, Neo. Und ich weiß, wieso er es mir nicht sagen konnte." Er ist immer noch skeptisch, doch wie könnte ich es ihm verübeln. „Du wirst ihm noch eine Chance geben", stellt er fest. Ich lächle unbeholfen. „Ich schätze schon." – „Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich das dumm finden soll oder nicht." – „Kannst du dich für mich freuen?" – „Ich versuche es", erwidert er.
„Alle werden mich für irre halten", bemerke ich und denke an mein Team. Sie werden mich definitiv für vollkommen verrückt erklären. „Vermutlich", antwortet Neo mit trockenem Tonfall. „Und sie werden die Wahrheit wissen wollen", fügt er hinzu. Ich weiß, dass er auch neugierig ist, wie könnte er es nicht sein. „Ich werde dir die Wahrheit sagen, sobald es geht, okay?" – „Es ist deine Entscheidung." – „Danke, Neo."
Wenig später bin ich allein. Er ist auf dem Weg zur Arbeit. Ohne weiter darüber nachzudenken, gehe ich in den Keller. Ich krame eine Kiste hervor und nehme sie mit nach oben. Mir fallen die Polaroids in die Finger. Fuck, wie gerne wäre ich jetzt wieder in Paris. Die Bilder liegen ausgebreitet auf dem Wohnzimmertisch. Wie lange habe ich sie nicht mehr angesehen? 18 Monate mindestens. Vielleicht auch 20. An einem Bild bleibt mein Blick hängen. Es gibt zwei davon. Es sind zwei Bilder, auf denen wir uns küssen. Eins hat er noch. Er hatte es im Portemonnaie. Ob er es wohl immer noch dort hat? Das andere war in meinem, bis ich es rausgeräumt habe, als ich seine Sachen verbannt hab. Ich war kurz davor, es einfach zu zerreißen. Fuck, wie gut, dass ich das nicht getan habe.
Gedankenverloren sehe ich mir die Bilder erneut an. Sofort brennt der Ring an meinem Finger wie Feuer. Ich versuche es, zu ignorieren, aber es geht nicht. Es tut höllisch weh. Ich atme tief durch und sammle die Bilder wieder zusammen. Sie liegen fein säuberlich aufeinander auf seinem Stapel. Ganz oben liegt das Bild, auf dem man unsere Ringe sieht. Natürlich. Ich fasse an den Siegelring, der sich in meine Haut brennt.
Harry wollte die Bilder haben. Ob ich sie ihm geben sollte? Kurzerhand nehme ich mir mein Handy und rufe ihn an.
„Hi Louis." Er klingt überrascht. „Äh, störe ich gerade?" – „Ich kann dir fünf Minuten anbieten", erwidert er. „Was machst du gerade?" – „Rufst du deswegen an?", fragt er verwundert. Nein, natürlich nicht, ich bin nur ein Idiot. „Ich bin gerade bei Lightning in einer Besprechung", fügt er hinzu. „Wir machen jetzt fünf Minuten Pause." – „Weil ich angerufen habe?" – „Ich habe darum gebeten. Außerdem haben alle eine kleine Pause gebraucht", antwortet er mir. „Also? Was gibt's?" Ach ja.
„Willst du die Polaroids?"
Für einen Moment ist es stumm in der Leitung. „Uhm..." – „Ich habe sie gerade hier, ich hab die Kiste aus dem Keller geholt", erkläre ich ihm. „Ob ich..." Er zögert. „Ich bin gerade nicht sicher, wie ich diese Frage verstehen soll", sagt er dann. „Was?" – „Willst du die Bilder nicht mehr?" – „Wieso sollte ich sie nicht mehr wollen?", will ich irritiert wissen. Er seufzt. „Ich weiß, dass ich gesagt habe, dass ich sie gerne haben möchte, aber da saßen wir vor Scheidungspapieren, Louis. Ich dachte, ich sehe dich nach diesem Tag nie wieder. Oder zumindest nach dieser Saison. Und jetzt willst du wissen, ob ich sie haben will?" Oh fuck.
„So meine ich das nicht!", entgegne ich sofort und schüttle den Kopf. Scheiße. „Nein, wirklich nicht, ich dachte nur... keine Ahnung, du hast mich gebeten, dass du sie bekommst." – „Nein." – „Nein?" – „Nein. Ich will die Bilder nicht mehr, zumindest im Moment nicht", antwortet er mir. „Im Moment können sie gerne bei dir bleiben. Es sei denn, du willst sie nicht mehr. Wehe du schmeißt sie weg oder zerreißt sie oder so. Vorher gibst du sie mir!" Ich schmunzle und lege sie vorsichtig zurück in die Kiste. „Dafür hätte ich genug Zeit gehabt, meinst du nicht?" – „Da habe ich aber Glück." Ich kann aus seinem Tonfall hören, dass er grinst. Mein Herz flattert glücklich.
„Harry? Du trägst die Ringe im Moment nicht, oder?", platzt es plötzlich aus mir heraus, ohne, dass ich selbst weiß, woher diese Frage kommt. „Uhm, nein, wieso?" – „Es... nur so." – „Du lügst", stellt er mit Leichtigkeit fest. Ich seufze. „Louis?" – „Vergiss es." – „Ganz bestimmt nicht", entgegnet er sofort. Ich seufze. „Fühlt es sich seltsam an, sie nicht mehr zu tragen?", möchte ich dann mit etwas ruhigerer, leiserer Stimme wissen. „Und wie", erwidert er ehrlich. „Ich hasse es, aber ich nehme es in Kauf, um nichts zu überstürzen." – „Mhm." – „Bei dir?" – „Ich habe mir die Fotos gerade angesehen", erwidere ich nur und lache leise. „Was denkst du denn?"
Harry schweigt einen Moment und ich weiß nicht, was ich sagen könnte, um die Stille zu durchbrechen. Dann räuspert er sich. „Ist es zu schnell, wenn wir uns treffen?" – „Keine Ahnung." – „Darf ich dich abholen und zum Essen ausführen?" – „Zum Essen?" – „Ein ganz klassisches Date in einem Restaurant", bestätigt er mir. „Heute?", frage ich unüberlegt. „Sehr spontan, aber wenn du Zeit hast, gerne." – „Äh... ja. Habe ich." – „Gut, dann hole ich dich ab. Ich schreibe dir, wenn ich auf dem Weg bin, okay? Ich kann nicht genau sagen, wie lange ich noch hier bin." – „Ja, sicher." Was passiert hier gerade?
„Ich muss wieder rein." – „Ja, natürlich. Sorry." – „Du musst dich nicht entschuldigen." – „Okay." – „Und Louis?" – „Mhm?" – „Danke." Bevor ich antworten kann, hat er aufgelegt. Perplex sehe ich auf mein Handy. Er führt mich zum Essen aus. Heute Abend. Oh Gott. Ich springe auf. Ich habe noch ein paar Stunden, bis er hier sein wird. Vermutlich. Ich atme tief ein und wieder aus. Alles wird gut, es ist nur ein Treffen. Verdammte Scheiße! Ich muss mich definitiv abregen.
Ich verziehe mich in den Fitnessraum. Ich reize meinen Körper bis zum Äußersten. Fix und fertig liege ich etwas später auf der Sportmatte, nachdem ich die Dehnübungen gemacht habe, die Drew uns die letzten zwei Jahre so oft hat machen lassen, dass ich sie mir vermutlich für immer merken werde.
Ich stehe auf und räume zufrieden alles wieder an seinen ursprünglichen Platz. Danach gehe ich duschen. Ich will nicht stinken, wenn er mich abholt. Es ist inzwischen früher Nachmittag und nach der Dusche stehe ich unschlüssig vor meinem Kleiderschrank. Ich habe keine Ahnung, wo wir hingehen werden und dementsprechend kann ich absolut nicht einschätzen, ob ein Shirt reicht, oder ob ich doch lieber einen Anzug tragen sollte. Ich zögere. Was wird er wohl tragen? Mein Handy piept.
Harry: Ich bin auf dem Weg. Ich brauche etwa 20 Minuten.
Na super. Er sitzt mit Sicherheit hinterm Steuer, ich brauche ihn also gar nicht erst zu fragen, wo wir hingehen werden. Kurzerhand schnappe ich mir eine schwarze Anzughose. Besser overdressed, als underdressed. Zumindest hat Lottie das mal gesagt. Ich nehme ein helles Hemd dazu und einen Blazer. Meine Haare sind inzwischen trocken, aber gerade, als ich ins Bad gehen möchte, klingelt es an der Tür. „Scheiße", fluche ich und laufe die Treppen nach unten.
„Hi." – „Hey", lächelt Harry. Er trägt ebenfalls einen seiner (perfekt sitzenden) Anzüge. „Äh... ich bin noch nicht fertig. Komm rein. Ich brauche nur fünf Minuten", sage ich sofort und verschwinde wieder nach oben.
Als ich wieder nach unten komme, sehe ich, dass er sich auf das Sofa gesetzt hat. Erst, als ich zu ihm gehe, bemerke ich, dass er die Polaroids ansieht. Sofort werde ich nervös. Ob es an den Polaroids liegt, oder daran, dass nicht bedacht habe, dass er in meinem Wohnzimmer sein wird, weiß ich nicht. „Ich hab vergessen, die Kiste wieder wegzubringen", sage ich nur. Er legt die Polaroids wieder hinein und steht auf.
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Was haltet ihr davon? Was meint ihr, wird bei dem Date/ Treffen passieren?
Love, L
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