69 | Neuanfang
Erschöpft wachte ich auf, da ich eine Hand um meine spürte. Blinzelnd öffnete ich meine Augen. Mein Kopf dröhnte. Das Licht blendete. Ich brauchte einen Moment, um klarzukommen.
"Hey", flüsterte mir eine Stimme zu, bei der ich dachte, ich würde sie mir sicher einbilden. Langsam drehte ich meinen Kopf zur Seite und erstarrte für einen Moment beim Anblick meines Bruders.
"Elio?", hauchte ich ungläubig, während erste Tränen meine Sicht trübten. Er lächelte und streichelte mir eine Strähne aus dem Gesicht.
"Nicht sprechen. Du wurdest operiert und solltest dich ausruhen", sprach er leise, doch mir wurde mein Körper egal, jetzt, wo meine Seele wieder bei mir war. Trotz der Schmerzen erhob ich mich, um ihn in meine Arme zu schließen. Er lehnte sich vor, damit es mir leichter fiel. "Ich hatte solche Angst um dich."
"Was denkst du, wie es mir ging", erwiderte ich ihm und atmete dabei seinen vertrauten Geruch ein. Meine Fingernägel krallten sich in seine Jacke. Ich hielt ihn fest und wollte ihn nie wieder loslassen. "Ich war im Glauben, deine Stimme nie wieder hören zu können."
"Ich komme immer zu dir zurück." Er löste sich von mir und nickte zum Bett, um mir zu signalisieren, mich wieder hinzulegen. Trotz der Aufregung ließ ich mich behutsam nach hinten fallen und musterte ihn lächelnd.
"Seit wann bist du wach?", fragte ich. Er erzählte mir daraufhin von seinem Alptraum und auch davon, dass er mit Malino und unseren Eltern auf der Suche nach mir war. Ihnen fiel ein Stein vom Herzen, als Cecilio sie anrief. Sofort kamen alle her und warteten, dass ich die OP überstehen würde. Da nur einer bei mir sein durfte, war es Elio, der an meiner saß und meine Hand hielt.
"Padre ist außer sich", erklärte Elio und lachte mit einem traurigen Ausdruck. "Er wollte Bianca wiederbeleben, um sie mit eigenen Händen nochmal zu töten."
"Ein verführerischer Gedanke." Ich stimmte in sein Lachen ein und verstummte aber, als Ayaz mir in den Sinn kam. Sofort suchte ich Elios Augen und spannte mich an. "Wo ist Ayaz? Geht es ihm gut?"
"Ja." Nur ein Wort, das so vieles in mir auslöste. Erleichtert fasste ich an meinen Brustkorb, während ich meine Augen schloss und mehrere Male tief durch atmete. Wir hatten es geschafft, auch wenn alles gegen uns stand. "Er ist noch nicht wach. Aber es sieht alles gut aus. Yavuz ist bei ihm."
"Ich muss wissen, wenn er wach wird. Du musst mir sofort Bescheid sagen."
"Natürlich." Elio drückte meine Hand und schien kurz gedanklich abwesend. Er sah an mir vorbei zum Fenster. Draußen war es dunkel. "Seit ich aufgewacht bin, habe ich durchgehend einen Gedanken."
Neugierig musterte ich ihn. "Welchen?"
"Was wäre, wenn ich dir von Anfang an die Wahrheit über Madrisa erzählt hätte..." Sein Ausdruck wurde traurig. Er wich mir aus und sah herab aus unsere verschränkten Hände. Mir war klar, worauf er hinauswollte. Ich schüttelte meinen Kopf und hob mit meiner freien Hand sein Kinn an, um ihm tief in seine Augen zu sehen.
"Du hättest das alles nicht verhindern können. Serafino und Orlando wären trotzdem in unser Leben getreten, genau wie Bianca. Wenn ich mit der Kugel in meinem Körper eins gelernt habe, dann das man die Vergangenheit ein für alle mal ruhen lassen muss. Einen Sonnenaufgang ist mehr wert, als ein Sonnenuntergang. Jeder Aufgang gibt dir eine neue Chance, dein Leben zu ändern. Lass uns neu anfangen. Ich bitte dich."
Er schmunzelte und strich mit einem Finger über meine Stirn.
"Wir fangen neu an."
"Das werden wir", ertönte eine Stimme aus Richtung der Tür. Mit großen Augen starrte ich Malino an, der langsam auf mein Bett zukam. "Ich will auch einfach nur vergessen und neu anfangen."
Ich hatte damit gerechnet, dass er mir weiterhin Vorwürfe machen würde. Dass er mich hassen und mir nie verzeihen würde. Zum ersten Mal im Leben überraschte Malino mich. Er kam auf mich zu und legte sich vorsichtig zu mir ins Bett. Sein Arm schob sich unter meinen Nacken, sodass ich ihn als Kissen benutzen konnte. Das Bedürfnis, mich tausend Mal bei ihm zu entschuldigen, kam in mir auf. Doch wir wollten alle drei einen Neuanfang. Ich nahm meine Hand nach vorne und legte meinen Kopf seitlich an Malinos Brust.
"Auf einen Neuanfang", sprach ich, woraufhin die beiden ihre Hände auf meine Hand legen und meine Worte wiederholten. Kaum trennten sich unsere Hände, sah ich meine Brüder abwechselnd an. "Und keine Geheimnisse mehr."
"Keine Geheimnisse mehr. Du kannst mir sogar von deinen Perioden Schmerzen erzählen", kam es von Malino. Elio verdrehte seine Augen, während ich anfing zu lachen.
"Und du mir davon, keinen hochzukriegen."
______
Tage verstrichen, in denen ich die meiste Zeit mit Malino und Elio verbrachte. Auch meine Eltern und Stella besuchten mich, wovon letztere ein langes Gespräch mit mir geführt hatte. Ich entschuldigte mich bei ihr, falsch gehandelt zu haben und sie sich dafür, mich auf Abstand gehalten zu haben. Alles schien wieder gut zu werden. Meine Mutter weinte nicht mehr. Mein Vater schien wieder Herr seiner Sinne, auch wenn er darauf bestand, dass ich mir ganz genau überlegen sollte, ob ich Ayaz noch eine Chance geben wollte. Er sorgte sogar dafür, dass ich nicht in Ayaz Nähe kam. Wenn ich ihm drohte, es doch zu tun, meinte er, ich solle bitte warten, bis ich aus dem Krankenhaus entlassen werde und wieder fit bin.
Ich wusste, was er vorhatte. Hier im Krankenhaus konnte er Ayaz schlecht verprügeln, aufgrund seiner Verletzung und den vielen Zeugen.
Ich schüttelte meinen Kopf über seine Gedanken und hörte aber trotzdem darauf, denn ich merkte selbst, dass ich Ruhe brauchte. Der Abstand wurde uns guttun, uns über einige Dinge klarzuwerden. Außerdem hatte ich noch etwas zu tun, das ich abschließen musste, bevor es für mich weitergehen würde.
____
Der Tag meiner Entlassung war da. Ich stand in einem schwarzen Kleid vor meinem Krankenhausbett und packte den Rest meiner Unterwäsche in den Koffer. Ich bestand darauf, alleine nach Hause zurückkehren zu wollen. Ich wollte nicht schwach wirken erklärte ich meiner Familie. Sie waren anfangs dagegen, ließen es dann aber zu, dass ich ein Taxi nehmen würde. Sie hatten genug um die Ohren und es drehte sich lange genug um mich.
"Danke", sprach ich dem Taxifahrer zu, der meinen Koffer nahm. Ich folgte ihm durch das Krankenhaus bis zu seinem Wagen vor der Tür. Die frische Luft unwehte meine Haare und ließ sie verspielt in meinem Gesicht tanzen. Erleichtert sah ich mich um. Alles schien so friedlich nach dem Sturm, der mich beinahe mein Leben gekostet hätte. Ein letztes Mal drehte ich mich zum Krankenhaus um. Ayaz würde noch ein paar Tage hier verbringen und heilen müssen. Ich freute mich auf den Tag, an dem wir beide endlich ein klärendes Gespräch führen könnten.
Der Taxifahrer hielt mir zuvorkommend die Tür auf. Ich danke ihm und nahm hinten Platz, während er nach vorne lief und sich auf den Fahrersitz fallen ließ. Er gab die Adresse der Villa ins Navi ein, doch ich hielt ihn auf, indem ich meine Hand auf seine Schulter legte.
"Wir müssen noch kurz woanders hin", wies ich ihn an und nahm mein Handy zur Hand, auf dem ich eine Adresse ablas. Er gab diese ein und wir kamen nach einer ruhigen Fahrt etwa nach 20 Minuten vor einem kleinen Motel an.
Ich stieg aus und schon kam mir der Wachmann entgegen, der mich ein einziges Mal im Krankenhaus besucht hatte. Er nickte zur Begrüßung und gab mir einen Schlüssel.
"Zimmer 8", sagte er. Ich drehte mich zum Kofferraum und öffnete diesen, um einen Bündel Geld aus der Seite zu ziehen. Elio brachte es mir, da ich ihm erzählte, ich würde Geschenke für alle kaufen wollen. Sicher wusste er, dass ich ihn etwas verheimlichte. Er war jedoch so erleichtert, dass es mir gut ging, dass er nicht weiter nachfragte.
"Gute Arbeit." Ich schmiss ihm das Geld zu, sah ihm nach und machte mich schließlich auf den Weg zu Zimmer Nummer 8. Tief durchatmend, steckte ich den Schlüssel ins Schloss und trat ein. Der Raum roch nach billiger Bettwäsche. Ein Zimmer für kurze Nächte. Mehr konnte man von diesem billigen Motel nicht erwarten.
Ich schloss die Tür und sah zum Bett, auf dessen Kante Serafino saß und zu mir aufsah.
"Ist es Ironie, dass die 8 auch als Zeichen für die Unendlichkeit gesehen werden kann, wenn man sie umkippt?", fragte ich und setzte mich neben ihn. "Ein ewiger Kreislauf."
Er lächelte und ich erinnerte mich an den Tag in der Villa zurück. Ich wusste, dass Cecilio zuhörte. Mir war klar, dass er ihn töten würde. Wenn nicht, mein Vater. So oder so hätte Serafino keine Chance gehabt, seinem Schicksal zu entkommen. Ich wusste aber auch, dass der ewige Kreislauf unterbrochen werden musste. Die Zukunft durfte nicht weiterhin nur aus Ereignissen der Vergangenheit bestehen. Er hatte mir Schlimmes angetan. Doch auch meine Familie hatte schlimme Dinge getan. Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken, wer der böse in der Geschichte war. Ich wollte nur noch, dass die Sonne unterging und dieses Kapitel abschließen würde. Deswegen nickte ich dem Wachmann zu und deutete ihm gleichzeitig mit einem kaum merklichen Nicken, ihn nicht zu töten. Ich drückte seine Hand beim Rauslaufen und hoffte, er verstand, was ich ihm sagen wollte. Als ich dann einige Stunden allein im Krankenhaus war, besuchte mich der Wachmann. Ich erklärte ihm, er solle mir seine Nummer geben und so lange bei Serafino bleiben, bis ich ihm das Geld bringe. Er willigte ein und so landete ich hier.
"Ein ewiger Kreislauf", wiederholte mich Serafino. Er hob seinen Blick und sah zu mir herüber. "Zeit dem ein Ende zu machen."
Ich nickte und wusste nicht, was ich sagen sollte. So vieles schwirrte in meinem Verstand herum. So vieles bleib unausgesprochen. Doch wir mussten nichts mehr klären. Wir beide mussten nur noch Abschied nehmen.
"Obwohl du mir mein Leben gerettet hast, hoffe ich aus ganzem Herzen, dass wir uns nie wieder sehen", sprach ich ihm zu. Er grinste und legte zeitgleich einen traurigem Ausdruck auf.
"Ich verspreche dir, dass es nicht dazu kommen wird. Sobald du mir die Adresse von dem Kinderheim gibst, hole ich meine Tochter und verschwinde von hier."
"Amerika soll schön sein."
"Ich hatte eher an Irland gedacht." Nach einem kurzen Blickwechsel, erhob ich mich wieder und nahm ein Blatt Papier von der Kommode, um im die Adresse des Kinderheims aufzuschreiben. Dazu legte ich etwas Geld, dass für zwei Tickets reichen würde.
"Ich hoffe, du weißt, dass ich dir auf ewig dankbar sein werde", hörte ich ihn hinter mir. Ich drehte mich zu ihm.
"Das ist das Mindeste", erwiderte ich ihm. "Du bist am Leben, weil ich bei meinem eigenen Bruder gesehen habe, zu was Menschen im Stande sind, wenn sie erpresst werden. Er hätte alles für mich getan, genau wie du alles für deine Tochter getan hättest."
"Ich würde alles für sie tun", stimmte er mir zu und erhob sich ebenfalls. "Wirklich alles."
"Tue es", erwiderte ich ihm. "Schenk ihr ein neues Leben. Abseits all dieser Dunkelheit."
Er nahm das Blatt und das Geld zur Hand und steckte alles in einen schwarzen Rucksack, den er sich auf den Rücken zog. Bevor er zur Tür hinaus verschwand, hielt er plötzlich inne und umarmte mich kurz.
"Du bist nicht dein Vater", flüsterte er mir zu. "Du bist viel stärker als er und hast es nicht nötig, dich unterdrücken zu lassen." Er löste sich von mir. "Genau wie ich nicht mein Vater bin."
"Mach's gut, Serafino." Ich sah ihm nach und setzte mich anschließend auf die Bettkante, um mich zu sammeln. Es war das Richtige. Der Kreislauf war beendet und er hatte Recht.
Ich musste nicht wie mein Vater werden, um stark zu sein. Ich musste nicht wie er entscheiden, wenn ich eine andere Meinung hatte. Ich war ich und genau das, war gut so.
____
😭 Ich hatte eine Schreibblockade, weil ich mich nicht entscheiden konnte, wie Serafinos Ende aussehen soll . Hasst mich nicht, weil ich mich dazu entschieden habe, ihm am Leben zu lassen.
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