57 | Regen
Drei Tage vergingen, in denen ich die meiste Zeit im Krankenhaus verbrachte. Zwei Männer meines Vaters standen vor Elios Zimmer und hielten Wache. Beschützt fühlte ich mich durch sie nicht. Würde Serafino mich holen wollen, könnten auch sie mich nicht verteidigen. Die Pistole, die sich in der Innenseite meiner Jeansjacke befand, allerdings schon.
Ayaz hatte ich nur einmal gesehen, seit ich zurück in Palermo war. Er stand mit Yavuz und meiner Mutter in der Einfahrt. Sie unterhielten sich. Worüber wusste ich nicht, aber sicher über die bevorstehenden Vorsichtsmaßnahmen.
"Soll ich für die Blumen eine Vase holen?"
Eine Schwester kam in den Raum. Mit einem freundlichen Lächeln stellte sie sich an Elios Beistelltisch. Dort stand ein Weihnachtsfoto des letzten Jahres unserer Familie und ein Blumenstrauß, den Zita heute Mittag brachte.
"Nicht nötig. Elio mag keine Blumen. Sie können sie wegschmeißen", gab ich ihr zurück und ließ meinen Bruder dabei nicht aus den Augen. Ich hielt seine Hand und strich mit meinen Fingern über seine Wange.
"Aber-"
Ich hob mein Gesicht und blickte ohne Ausdruck zu der Schwester. Sie schluckte und nahm die Blumen an sich, um mit ihnen in den Gang zu verschwinden. Meine Augen schweiften zum Fenster. Es regnete an diesem Nachmittag.
"Bald wirst du aufwachen", flüsterte ich, während ich den Geräuschen der Monitore um mich lauschte. "Und dann wird uns nie wieder etwas trennen. Keine erpresserische Schlampe und auch kein Serafino. Nichts."
Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen. Ich drückte seine Hand ein letztes Mal und erhob mich, um ihm einen Kuss auf die Wange zu hauchen.
"Bis morgen."
Ich lief nur langsam aus dem Zimmer und atmete tief durch. Jedes Mal, wenn ich ihn alleine ließ, überkam mich ein schlechtes Gewissen. Doch meine Familie brauchte mich auch Zuhause. Vor allem meine Mutter.
"Signora." Einer der Männer meines Vaters nickte, als ich nach draußen in den breiten Gang trat. Skeptisch sah ich zu ihm auf. Er wirkte nicht wie ein Killer. Mit der Brille ähnelte er eher einem Steuerberater.
"Wenn ihr auch nur 1 Minute Elio unbewacht lasst, dann schlitze-"
"Na, wer wird denn da ausfallend", unterbrach mich mein Onkel Nunzio, der seinen Arm um meine Hüfte legte und mich zu den Aufzügen führte. Mein Vater schickte immer einen meiner Onkel her um mich abzuholen. Er wollte auf Nummer sicher gehen, dass niemand mir zu nahe kommen konnte. "Wenn du sie bedrohst, werden sie auch nicht besser aufpassen."
"Vielleicht schon", wiedersprach ich ihm und drückte den Aufzugknopf. Flüchtig musterte ich Nunzio. Sein grauer Pullover lag eng an. Die schwarze Jeans locker, trotzdem elegant. Irgendwie ironisch, dass ich auf meinen Baby Fotos immer auf seinem Arm zu sehen war, als Erwachsene aber keinen wirklichen Draht zu ihm besaß. Er hielt sich zurück. Verbrachte mehr Zeit mit meinem Vater als mit jedem anderen.
"Hast du Angst?", fragte ich ihn, als die Aufzugstür sich öffnete. Wir traten ein. Mir entging nicht, wie irritiert er mich anstarrte.
"Wovor?"
"Vor Serafino?" Ich wollte es wissen, da er mir am wenigsten so vorkam, als würde er mich beschützen können. Cecilio und mein Vater benahmen sich dominant und selbstbewusst. Dario machte einem alleine mit seiner Kälte Angst. Adamos aufbrausende Art schüchterte andere ein. Doch Nunzio? Er passte nicht ins Bild eines Mafioso.
"Nein", antwortete er grinsend. "Ich habe seine Familie sterben sehen. Er ist nur ein jämmerliches Überbleibsel."
"Hast du jemanden aus seiner Familie getötet?"
Er wich meinem Blick aus und ignorierte mich. Ich ließ es aber nicht gut sein.
"Ich weiß, dass meine Mutter seinen Vater getötet hat. Was ist mit dem Rest, Zio? Du bist immerhin mit Jennifer verheiratet. Es ist ihre Familie gewesen. Ist sie deswegen kaum noch bei uns? Belastet sie das?"
Die Fragen sprudelten nur so über meine Lippen. Ich erkannte an seinen Schultern, dass er sich anspannte. Er schwieg jedoch weiterhin.
"Also, was ist damals-"
"Hör auf", mahnte er und ich riss ungläubig die Augen auf, als ich Schweißperlen auf seiner Stirn bemerkte. Wieso schwitzte er so krass? War es wirklich, weil er keine Geheimnisse für sich behalten konnte? Ich hörte oft davon, hatte es aber nie mit eigenen Augen gesehen. "Deine Eltern warten. Wir sollten uns beeilen."
Kaum ging die Aufzugstür auf, flüchtete er vor mir. In schnellen Schritten folgte ich ihm durch den Eingangsbereich, wobei mir ein Mann auffiel, der mich neugierig musterte. Er stand an der Rezeption der Notaufnahme und heilt ein Klemmbrett in seiner Hand. Ich bekam es kurz mit der Angst zu tun, ehe ich meinen Blick von ihm nahm und Nunzio nach außen folgte.
Sein Mercedes stand nicht weit weg. Wir stiegen gemeinsam ein und fuhren auf direktem Weg zur Villa.
"Damals war es viel schlimmer." Auf seine Worte hin nahm ich Nunzio ins Visier. "Und wir haben es trotzdem überlebt. Also brauchst auch du keine Angst zu haben. Wir schaffen das."
"Nicht alle", gab ich ihm bedrückt zurück. Er sah kurz zu mir, um sich aber gleich wieder auf den Verkehr zu konzentrieren. "Ich weiß, dass Mauro und Teddy nicht so gestorben sind, wie meine Eltern es mir immer weismachen wollen."
Ich konnte an seinem Hals erkennen, dass er fest schluckte. Auch sein Brustkorb hob und sank sich schneller.
"Teddys Tod hatte nichts mit den Bianchis zu tun", erwiderte er mir mit belegter Stimme. "Und Mauro ... Es war unsere Schuld." Sein Ausdruck wurde von Trauer eingenommen. Er umfasste das Lenkrad fester. "Wir waren nicht vorbereitet. Jetzt sind wir es aber. So etwas wird nie wieder passieren."
Ich nickte und hoffte, er würde Recht behalten. Wir kamen an der Villa an, wo ich sofort meine Mutter aufgebracht zu ihrem Auto rennen sah. Irritiert wechselte ich einen Blick mit Nunzio, der direkt vor der Haustür parkte. Eilig stieg ich aus.
"Mama? Was-"
"Toni!", entkam es ihr. Sie kam hektisch auf mich zu und umfasste meine Schultern. Als ich die Tränen in ihren Augen erkannte, lief mir ein eiskalter Schauer den Rücken herab. "Wir finden ihn nicht! Wir haben das ganze Haus auf den Kopf gestellt!"
"Nunzio!" Mein Vater trat aus der Villa und zeigte auf seinen BMW. "Fahr mir hinterher."
Er blieb vor mir und meiner Mutter stehen, hauchte uns beiden einen Kuss auf die Wange und lief anschließend auf seinen Wagen zu. In hohem Tempo raste er sie Einfahrt runter. Nunzio ihm hinterher.
"Nives! Du bleibst in der Villa! Du gehst nicht raus, falls er nach Hause kommt."
Mein Herz klopfte so schnell und stark, dass mir schwindelig wurde. Ich sah ihr nach, wie sie in ihr Auto stieg. Erst da erkannte ich Cecilio, der auf dem Beifahrersitz saß. Nachdem die beiden ebenfalls aus der Einfahrt fuhren, sah ich mich um. Die Wachmänner standen an Ort und Stelle. Ein Griff unter meine Jacke und ich umfasste die Pistole. Mir würde nichts passieren ... Aber Toni ...
Ich suchte aufgebracht die Villa auf und wurde von der Stille erschlagen. Nie zuvor fühlte ich mich so alleine. Sonst war immer jemand da...
____
Drei Stunden vergingen, in denen draußen die Sonne langsam unterging. Ich saß am Esstisch. Ein Glas Wein und die Pistole vor mir auf dem Tisch. Es war bereits mein viertes Glas. Der Alkohol betäubte mein schlechtes Gewissen, doch er konnte nicht die Tränen zurückhalten, die immer wieder über meine Wange liefen.
Serafino hatte mich gewarnt. Oft genug damit gedroht, Toni für meine Fehler zu bestrafen. Ich hatte mich trotzdem gegen ihn aufgelehnt und musste mit den Schuldgefühlen leben.
"So ein Bastard", flüsterte ich und trank mein Glas in einem Zug aus. Der Regen prasselte hinter mir an die Fensterfront. Der süßliche Geschmack des Weines legte sich auf meine Zunge. Ich hörte das Geräusch eines Motors und sofort nahm ich meine Knarre und zielte auf die Haustür. Mein Puls raste, während ich mich vom Stuhl erhob und zum Türrahmen tapste. Ich versteckte mich hinter der Ecke und spähte durch den dunklen Flur zur Tür.
Ein breiter Schatten tauchte auf. Meine Stirn runzelte sich. Sollten die Wachmänner ihn nicht erledigen, falls es Serafino oder einer seiner Angestellten wäre?
Unsicher hielt ich den Lauf der Waffe weiterhin vor mich gerichtet. Die Tür ging auf. Meine Atmung stockte. Als ich jedoch Ayaz erkannte, der seine nasse Kapuze nach hinten streifte, glitt mein Atem erleichtert über meine Lippen.
"Dio Mio." Ich ließ die Waffe sinken und wandte mich wieder zum Esstisch. "Was suchst du hier?"
Ein Blick über meine Schulter verriet mir, dass er zu mir ins Wohnzimmer kam. Er trug eine schwarze Jacke. Dazu helle Jeans. Sein Bart war ausgeprägter. Irgendwie gefiel es mir, auch wenn ich mich zwang, meine Augen von ihm zu nehmen.
"Deine Mutter hat mich angerufen. Sie sind noch auf der Suche."
Ich nickte und ließ mich auf dem Stuhl nieder, auf dem ich zuvor schon stundenlangen verharrte. Ayaz Blicke brannten sich unter meine Haut, als ich mir erneut Wein einschenkte.
"Was ist, wenn sie ihn nicht finden?", murmelte ich und trank einen Schluck. Ayaz nahm mir gegenüber Platz. Er faltete seine tattoovierten Hände auf dem Tisch.
"Sie finden ihn", sprach er mir Mit zu, doch auf meine Lippen legte sich ein aufgesetztes Lächeln. Entweder war er sich wirklich nicht bewusst, wie gefährlich Serafino war, oder er wollte mich aufmuntern.
Unsere Blicke kreuzten sich. Wir sahen uns für einen Moment an. Keiner sagte etwas. Ich fühlte mich überfordert und schluckte schwer. Tränen sammelten sich in meinen Augen.
"Prinzessin...", flüsterte er und fasste über den Tisch. Er wollte nach meiner Hand greifen, doch ich zog sie zurück und erhob mich vom Stuhl.
"Hör auf mich so zu nennen", mahnte ich ihn und lief um den Tisch zum Türbogen des Wohnzimmers. "Und jetzt geh!"
Ich zeigte zur Tür, als er sich zu mir drehte. Seine Nähe machte es mir schwer zu atmen. Ich wusste, ich verhielt mich falsch, doch ich konnte nicht anders. Wenn ich ihn ansah, sah ich Elif und ich hasste es.
"Es tut mir leid." Er stand auf und kam auf mich zu. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, um weiterhin zu ihm aufsehen zu können. "Hör zu. Du brauchst Zeit, ich lasse sie dir, aber ich gehe nicht, solange du alleine hier bist."
"O mein Gott", regte ich mich. "Ich kann ganz gut alleine auf mich aufpassen! Falls es dir entgangen ist - ich bin sogar alleine von einer Psycho Insel geflüchtet! Ich hab den scheiß Ozean alleine überquert! Und jetzt raus!"
"Nein!", widersprach er mir. "Weißt du, wie gefährlich es für dich ist?! Du willst von mir nichts mehr wissen, nachdem du mich gefickt und ausgenutzt hast? Gut! Ich bleibe trotzdem, bis deine Eltern zu Hause sind."
"Ich habe dich ausgenutzt?" Meine laute Stimme donnerte durch das gesamte Erdgeschoss. "Dir hat es doch gefallen! Also beschwer dich nicht, alter Mann! Sei dankbar, dass du so junge Haut überhaupt anfassen durftest! Ich hoffe du erinnerst dich dran, denn es war definitiv das letzte Mal!"
Wütend verschränkte ich meine Arme, da grinste er frech und strich mir plötzlich mit seinen Fingern über meine Wange. Sofort hob ich meinen Arm und schlug seine Hand weg.
"Fass - mich - nicht - an!"
"Wollte mich nur erinnern", meinte er und nickte zur Haustür, während seine Augen weiterhin auf meinen lagen. "Ich bin draußen und warte, bis deine Eltern wieder da sind. Falls du also jemanden zum Reden brauchst-"
"Brauche ich nicht."
Mein Herz stolperte und ich wich seinem Anblick aus. Ich beobachtete den Regen, der immer heftiger an die Fensterfront prasselte, während Ayaz zur Haustür lief.
Bevor er diese erreichte, hörte ich schlagartig von oben ein lautes Geräusch. Mit großen Augen starrte ich zu Ayaz, der an der Treppe stehenblieb und nach oben sah. Nur zögerlich wandte er sich an mich und deutete mir, unten zu bleiben. Er holte eine Waffe unter seiner Lederjacke hervor und ging bereits einige Stufen hoch, da ertönte ein neuer Schlag.
Mit Herzrasen rannte ich zum Tisch, um meine Pistole an mich zu nehmen.
"Du bleibst hier!", warnte Ayaz mich, doch ich schüttelte den Kopf.
"Wage es nicht, mich zu bevormunden!"
"Gut, dann bleibst du aber hinter mir."
Bevor er zu Ende gesprochen hatte, stürmte ich schon an ihm vorbei die Treppe hinauf.
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