Gingers Diagnose (Ihre Vorgeschichte)
Warum mussten die Menschen immer ihre Sprachnachrichten schicken?
Ginger mochte das nicht.
Zu den ungünstigsten Zeitpunkten wurden ihr welche zugesandt, von ihrer Mutter, von ihren Freunden, ihren Kollegen, ihrer Schwester.
Sie sah den Sinn dahinter nicht. Es war einfach nur ätzend. Weil Ginger jedes Mal warten musste, bis sie irgendwo alleine war, um sie abhören zu können.
Meistens war ihr Handy auf so laut gestellt, dass sie sich beim abhorchen erst erschreckte, den Anfang nicht mitbekam und dann nochmal zurückspulen musste.
Denn das einzige, wozu sie ihr Handy wirklich nutzte, war Musik hören. Moment....Musik. Sie hatte doch ihre Kopfhörer hier irgendwo.
„Oh Entschuldigung."
Ginger wurde angerempelt und gegen die Glastür geschubst.
Dr. Murphy sah an ihr vorbei, mit verschränkten Händen und einem überaus interessiertem Gesichtsausdruck.
„Warum entschuldigst du dich? Ich habe dich doch angerempelt."
Ginger blinzelte.
„Weil ich....das macht man doch so. Oder war das unhöflich von mir?"
„Nein", sagte Shaun knapp.
Ginger blickte ihn kurz an. Sie kannte Shaun Murphy aus den Erzählungen von Melendez. Er war ein überaus begabter Chirurg, der Autismus hatte.
„Ok"
Ginger wandte sich von Shaun ab und ging weiter. Jedoch kam sie nicht weit. Vor ihr schob eine der Pflegerinnen ein Bett vor sich her. Die Reifen quietschten und dann passierte es - eine Schwester kam um die Ecke, kollidierte mit dem Bett und der große Glasbehälter, den sie auf dem Tablet trug, fiel auf den Boden und zersprang.
Die Scherben und die Flüssigkeit trafen Ginger. Sie fiel nach hinten auf ihren Rücken. Die beiden Frauen erschraken.
„Oh Gott, Miss. Geht es Ihnen gut?"
Ginger krallte ihre Hände an ihre Ohren, zog sich in eine Hocke und wippte hin und her. Das Zerspringen des Glases war ein Geräusch, was sich wie ein Messer durch ihren Körper bohrte. Die hellen Stimmen der Frauen machten es schlimmer, als sie Ginger anfassten, war es ihr zu viel. Sie schlug ihre Hände weg.
„Fassen Sie mich nicht an", fiepte sie ängstlich.
Indem Moment kam Dr. Melendez um die Ecke. Als er seine Freundin dort mitten in den Scherben sitzen sah, rannte er sofort zu ihr.
Besorgt setzte er sich neben Ginger.
„Ginger, was ist passiert? Geht es dir gut? Bist du verletzt?"
Doch Ginger war nicht ansprechbar. Sie zitterte. Niemand, nicht einmal Neil wusste, was er tuen konnte.
Dann kam Murphy um die Ecke.
„Sie ist nicht verletzt, sie hat einen Overload. Ihr dürft sie nicht anfassen oder mit ihr sprechen, sonst überfordert sie das."
Neil sah Murphy fragend an.
„Was reden Sie da Dr. Murphy? Bitte halten Sie sich daraus, das geht Sie nichts an."
Neil startete erneut einen Versuch, Ginger aufzuhelfen.
„Es ist alles gut, Baby. Komm, das sind nur Glassplitter."
„Fass mich nicht an! Fass mich nicht AN!"
Ginger schlug Melendez die Hand weg. Ihre Augen waren starr und apathisch. Neil sah sich ratlos um. Er wusste nicht, was er tuen sollte.
„Hier, die haben Sie vorhin verloren. Sie sollten sich die in ihre Ohren stecken."
Shaun gab Ginger ein rotes Kabel mit Headphones. Ginger hob ihre Hand langsam in Zeitlupe und nahm ihre Kopfhörer entgegen.
Neil sah dabei zu und verstand kein Wort.Ginger war nun ruhiger. Irgendwie passte ihm hier etwas nicht an der Situation, aber er konnte nicht sagen, was.
„Räumen sie dieses Chaos auf der Stelle auf", herrschte er die Schwestern an. Sein barscher Tonfall zeigte Wirkung, jedoch bereute Melendez ihn kurz danach. Was war nur in ihn gefahren?
„Ginger hat Asperger. Das ist eine leichte Form des Autismus."
Neil und Shaun bogen um die Ecke. Und Neil war sichtlich gereizt.
„Murphy, was soll das? Hast du Psychologie studiert?"
Er herrschte seinen Assistenzarzt an. Shaun ließ nicht locker. Immer dann, wenn er eine Diagnose vermutete, blieb er hartnäckig. Stur, wie ein Esel und nichts konnte ihn davon abbringen.
Jetzt war einer dieser Momente
„Nein, Dr. Melendez, aber ich..."
„Dann hör auf irgendwelche Diagnosen aufzustellen in Bereichen, für welche du nicht qualifiziert bist", fuhr er Murphy ins Wort.
Er konnte sich nicht erklären, warum er heute so gereizt war. Es war das zweite Mal, dass er bei Ginger so einen Vorfall erlebt hatte.
Beim ersten hatte er sie beruhigen können. Jetzt war es ihm nicht gelungen, stattdessen aber Murphy.
„Aber Ginger - hat - Symptome. Symptome, die ich kenne."
„Ginger ist nicht wie du, Shaun."
„Doch, ist sie. Sie -"
„SHAUN!!!"
Neil platzte der Kragen. Er hatte so laut gesprochen, dass Murphy tatsächlich stehen blieb und verstummte. Der Herzchirurg holte tief Luft.
„Ginger und ich sind ZUSAMMEN. Sie ist meine FREUNDIN. Ich kenne sie besser, als du. Wenn wir zusammen sind, dann schaut sie mir in die Augen. Sie redet, ist aufgeschlossen."
All das sagte er leise, sodass nur Shaun das hören konnte. Er wollte nicht, dass die anderen mitbekamen, dass hier jemand war, der vermutlich seiner Freundin hier eine Behinderung vorwarf.
Oh, er könnte Shaun auf der Stelle erwürgen für dieses Gespräch.
„Weil sie dich kennt. Du bist ein gewohntes Umfeld. Da besteht für sie kein Risiko. Autisten können sich leichter öffnen, wenn sie einem Menschen vertrauen."
„Ginger ist einfach nur schüchtern, Shaun!"
Ein Argument, welches Neil wieder die Oberhand gab. Schüchternheit könnte man vermutlich mit Autismus gut verwechseln. Er hoffte es zumindest, in Wirklichkeit war Neil vor Murphy noch keinem Autisten begegnet. Es schien ihm aber schlüssig aus dem, was er wusste.
„Dr. Brown ist für unsere Patienten da und versucht mit allen Mitteln, ihnen zu helfen. Trotzdem leidet sie noch lange nicht an pathologischem Altruismus. Genauso wenig wie Dr. Park an ADHS leidet, nur weil er nicht still sitzen kann. Murphy, um solche Diagnosen zu stellen, muss man jahrelang studieren. Sie sind ein guter Chirurg aber das macht sie noch lange nicht zu einem-„
„96,5% der Frauen werden vom Phsychologen falsch diagnostiziert. Frauen können ihren Autismus oft besser verbergen, als Männer. Für viele Frauen ist eine Spätdiagnose normal und eine Erleichterung. Ich will Ginger nur helfen."
„Ginger braucht deine Hilfe nicht, Shaun. Halt dich da raus, ihr Leben geht dich nichts an. Sie ist so gut wie sie ist. Sie ist Ginger. Sie braucht keinen Stempel, der die Leute dazu veranlasst, sie zu diskriminieren. Sie hat es schon ohnehin schwer genug."
Neil wusste alles von Gingers Vorgeschichte. Er wusste, was sie als Kind durchmachen musste. Wie es um ihre Familie stand.
Aber er liebte sie. Sie war so anders und unglaublich stark. Für das, was sie erreicht hatte, musste sie kämpften. Immer.
Es hatte keinen Sinn mehr, mit Shaun darüber zu diskutieren. Deswegen drehte er sich um und wollte so das Gespräch für beendet erklären.
„Hätten sie mich am Anfang auch anders behandelt, wenn ich keine Diagnose gehabt hätte?"
Neil blieb stehen. Er ließ die Frage auf sich wirken. Er erinnerte sich daran, was Shaun meinte. Ja, er hatte Vorurteile gegenüber Shaun gehabt. Er hatte ihn für unfähig gehalten, an ihm gezweifelt. Oft genug. Und das nur anhand einer Diagnose.
„Wenn ich Recht habe, würden sie Ginger dann nicht mehr lieben?"
Neil antwortete nicht. Er zog die Lippen ein und stützte seine Fäuste in die Seite.
Würde er sie noch lieben? Natürlich, so ein Schwachsinn. Ginger war keine Autistin. Das konnte nicht sein.
Murphy lag falsch. Nun gut, Murphy lag allerdings selten falsch. Was, wenn er dieses Mal....?
Nein, nein, nein.
Ginger war keine Autistin.
Auf dem Gang des Flures konnte Neil jedoch seinen Kopf nicht ausschalten. Er dachte über Ginger nach.
Gingers empfindliches Gehör und ihre extreme Schreckhaftigkeit, ihr Rückzug vor fremden Menschen, ihre permanenten Gedankenwechsel und Gesprächseinwürfe, die meistens völlig aus dem Kontext gerissen waren.
Und dann war da noch ihre starke gestellte Gesichtsmimik, wenn sie nachdachte oder etwas verstand. Wie kopiert. Als hätte sie das aus einem Bilderbuch abgeguckt und würde es versuchen, zu kopieren.
Das wirkte immer seltsam auf die meisten.
Neils Freunde und Familie hatten Ginger schon immer als arrogant und desinteressiert beschrieben. Sie verstanden nicht, dass sie in seiner Gegenwart anders war. Ginger war nicht unhöflich, sie war schüchtern...oder wusste sie einfach nicht, wie man sich richtig verhielt?
Neil traf es wie ein Blitz. Da war ihr Zeichentalent. Ihr fotografisches Gedächtnis. Und Gingers Vorliebe für Achten. Weil die Acht laut ihrer Aussage durch vier und zwei teilbar war, sechs z.b. jedoch halbiert nur drei ergaben und somit dann ungerade Ziffern enthielten, die dann wiederum nicht durch zwei teilbar waren.
War doch etwas dran? War Ginger vielleicht wirklich Autistin? Wie sicher konnte er sich wirklich sein? Und was würde es für sie beide bedeuten?
Würde Neil sie noch lieben können? Was würde es mit ihm machen? Wie würde es ihn verändern. Und vor allem: wie würde es Ginger verändern?
Wäre es ein Gefallen oder würde es sie ins Verderben stürzen?
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