Du bist mein Lieblingsmensch
„Gab es Streit mit Ginger? Neil, du musst ehrlich sein. Denn du hast scheinbar ein Behandlungsfehler gemacht."
Lim und Melendez saßen in seinem Büro. Als neue Chefärztin der Chirurgie hatte Audrey Lim nun die Verantwortung. Sie kannte Neils Probleme in seinem Privatleben sehr gut. Doch dieser Job hier war lebensgefährlich für andere, wenn man nicht hundert Prozentig bei der Sache war.
„Worauf willst du hinaus, Audrey?"
Melendez strich sich mit dem Handrücken über die Stirn.
„Es kann sein, dass du womöglich den Schnitt zu tief gemacht hast. Murphy hat gesagt du seist sehr offensiv, gar aggressiv, an die OP herangegangen."
„Hör zu, ich habe heute morgen nicht gefrühstückt. Deswegen mag es sein, dass ich vielleicht etwas schlechter drauf bin als sonst. Aber ich habe definitiv nicht...aggressiv geschnitten. Ich meine, seit wann glaubst du Murphy? Du weißt, dass seine Schlussfolgerungen in der Kommunikation und Interaktion nicht gerade herausragend sind. Mir geht es bestens."
„Neil, ich weiß, wer Nero ist."
Neil knickte ein. Er war ertappt. Geschlagen sah er auf das weiße Holz seines Schreibtischs und hielt sich am geriffelten Muster fest. Das würde ihn zwar auch nicht retten, aber er war hilflos. Was sollte er tuen?Ihm war das alles unangenehm. Der Behandlungsfehler, dass er die Fassung während des OPs verloren hatte. Dass er Nero verletzt hatte, Lim ihm den Fall nun abnehmen musste und er einen Menschen enttäuschen würde, den er über alles liebte.
„Ginger weiß, dass Nero hier liegt. Ich habe sie gesehen."
„Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr", sagte Melendez und rückte seinen Kragen zurecht. Er stand auf.
Neil glaubte nicht an Schicksal. Es musste Zufall gewesen sein, dass sein Patient der ehemalige Mitbewohner von Ginger Portmore war. Die beiden waren nicht im Guten auseinander gegangen. Ginger hatte zwar nie etwas von ihr und Nero erzählt, aber immer wenn er nachfragte, wurde sie abgrundtief traurig.Dieser Mann bedeutete Ginger etwas.Er kam am Zimmer des Mannes vorbei. Seine Werte waren im Normbereich. Aber es stand nicht gut um ihn.War das wirklich seine Schuld? Hatte Neil aus Wut einen Behandlungsfehler gemacht?Er kramte in seiner Brusttasche und holte das Bild heraus, welches Lim ihm gegeben hatte. Indem Moment, wo sein Blick das erste Mal dieses Foto erblickt hatte, fühlte er einen Stich in seinem Herzen. Auf einmal wusste er, warum der Name Nero ihm heute Morgen so bekannt vorgekommen war.Neil zog die Lippen ein.Aber es war doch vorbei. Er musste doch keine Angst haben. Ginger war jetzt seine Freundin. Und das mit Nero war doch schon Jahre her. Warum hatte er dieses seltsame Gefühl in seiner Magengegend?War es die Trennungen von Jessica und Audrey, die ihn dazu brachten, an sich selbst zu zweifeln? Er war ein guter Doktor, aber war er auch ein guter Freund? Partner?Neil wurde schon zweimal das Herz gebrochen. Wenn es jetzt ein drittes Mal geschehen würde...ja, das war normal. Das war das Leben. Die Liebe kam und sie ging. Ja, die Liebe kam und sie ging. Bei Ginger war sie sicher gegangen. Neil kam einfach von dem Foto nicht los. Dieses Foto, wo Ginger so glücklich und verliebt aussah.Neil erschrak über sich selbst, als er sah, dass sein Daumen so doll drückte, dass ein Eselsohr an der Fotoecke entstand.
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Es war menschlich, dass Gefühle auch die Arbeit beeinflussten. Hier in der Chirurgie, da war ein kalter Kopf das wichtigste. Denn hier standen Leben auf dem Spiel.Ginger hingegen war nur als Teilzeit Aushilfe im Restaurant zuständig. Als sie Neil einen Kaffee bringen wollte und am Zimmer vorbeikam, erschrak sie.Sie musste zweimal hinsehen. Erst dachte sie, ihr Kopf würde ihr einen Streich spielen. Aber dieses Gesicht würde sie überall heraus erkennen. Nero.
„Guten Abend Ginger."
„Guten Abend Dr. Glassman."
Ginger lächelte dem älteren Herren freundlich zu, als er das Restaurant betrat. Hier war auch das Kaffee, wo Debbie Wexler arbeitete. Ginger wusste von Shaun, dass die beiden sich gern hatten.Glassman war auch wieder Neils Vorgesetzter, seit Andrews gekündigt wurde und Lim nun Chefärztin der Chirurgie war.Glassman lehnte sich an den Tresen.
„Wollen Sie Kaffee?"
„Ja, das wäre sehr lieb. Meine Schicht dauert heute etwas länger, da muss ich wach bleiben", raunte er mit einem väterlichem Lächeln.
Ginger machte sich gleich an die Arbeit. Der Geruch des mahlenden Kaffees beruhigte ihre Gemüter. Gleichzeitig erinnerte er sie auch wieder an Nero und dass er in diesem Krankenhaus lag und womöglich um sein Überleben kämpfte.
„Ginger, ist alles in Ordnung bei dir?"
Glassman hatte bemerkt, dass Gingers Hände zitterten.
„Ja", sagte Ginger klar und deutlich, um klar zu machen, dass sie darüber nicht reden wollte. Keine Schwäche zeigen! Dabei war sie wieder viel zu forsch.
„Komm her, Ginger"
Ginger fühlte sich unwohl, aber sie gehorchte. Mit Glassman hatte sie wenig zutun. Auch, wenn er nett war und sie ihn respektierte, sie wollte trotzdem nicht mit ihm reden.Die Vergangenheit holte sie wieder ein. Sie wollte weglaufen. Doch sie konnte nicht weglaufen.Die Kunden vorne am Tresen wurden ungeduldig. Sie wurden laut. Alles um herum war plötzlich unerträglich laut. Die Kaffeemaschine, die Musik aus dem Radio, die brummenden Lampen, Stühle, die gerückt wurden, Stimmengewirr, Geschirrgeklapper. Alles prasselte auf Ginger ein.Zum Glück kam in diesem Moment Debbie, um ihre Schicht anzutreten. Sie sah Ginger und Aaron und wusste sofort Bescheid.„Beruhigen Sie sich, entschuldigen Sie den Zwischenfall. Ich kümmere mich um Ihre Bestellung."Debbies Freundlichkeit und ihr Lächeln zeigte Wirkung und beruhigte die Kunden. Ginger ärgerte sich über sich selbst.Wieder war es ihr nicht gelungen, zu funktionieren. Wieder übernahmen die Schwächen ihres Autismus ihren Körper. Wieder bewies sie, wie behindert sie wirklich war.
„Warum kann ich nicht einfach normal sein? Normal wie alle anderen? Normal wie Debbie?"
Sie bewunderte Debbie. Glassman hatte sich neben Ginger gesetzt. Sie saßen etwas abseits vom Geschehen, aber immer noch nahe genug, um alles zu sehen.
„Anders zu sein heißt nicht falsch zu sein", meinte Glassman.
Ginger ballte ihre Faust zusammen, löste die Spannung wieder, ballte sie wieder. Immer so weiter, nur um dem Druck um ihr herum standhalten zu können.
„Ein Freund hat mir das gleiche gesagt. Dann hat er sich von mir abgewendet, weil ich anders war."
„Haben du und Melendez gestritten?"
Durch Shaun wusste Glassman genau, dass man die meisten Autisten lieber mit direkten Fragen konfrontieren sollte.
Ginger schüttelte den Kopf.
„Kann nicht....drüber....sprechen...."
Glassman brummte nur als Antwort.
„Shaun hat mir gesagt, dass du den Patienten, den Dr. Melendez gerade behandelt, kennst. Ist das so?"
„Ja"
„Standet ihr euch nahe? Ist das der Grund, warum ihr euch gestritten habt?"
Ginger hatte das alles verdrängt, als es zu Ende ging. Es würde wehtuen. Immer noch. Sie durfte nicht darüber reden.
„Wir haben uns nicht gestritten. Ich habe Neil nie davon erzählt. Ich muss jetzt weiter arbeiten."
Ginger stand auf. Sie wollte Debbie helfen. Sie war hier, um zu lernen, wie Menschen miteinander kommunizieren. Das war ihr wichtig. Sie musste nach vorne schauen.
„Ginger, eins noch. Ich will mich nicht in eure Beziehung einmischen aber ich denke, es wäre besser, wenn du mit Melendez darüber sprichst. Es würde ihm gut tuen. Und eurer Beziehung auch."
Ginger antwortete nicht darauf. Doch zu Herzen nahm sie es sich trotzdem.Im Auto später herrschte eine unangenehme Stille. Ginger und Neil wechselten kein Wort miteinander. Ginger war immer kurz davor, etwas zu sagen, traute sich dann aber doch nicht und schaute dann stattdessen wieder auf ihre Hände. Das Auto bog um eine scharfe Kurve. Gingers Körper schaukelte in der Bewegung. Das Brummen des Motors war angenehm in ihren Ohren. Sie übermannte die Müdigkeit. Dieser Tag war sehr anstrengend gewesen.
„Du?"
„Hm?"
Neils „Hmmm" war ein ziemlich gereiztes Brummen. Ginger zuckte zusammen. Sie zögerte, doch es gab kein zurück. Jetzt musste sie fragen.
„Bist du sauer auf mich?"
„Sauer? Ginger, du hast mir verschwiegen, dass mein Patient dein Ex Freund war."Die Aussage kam so abrupt und plötzlich. Rechts aus der Ausfahrt kam ein Fahrradfahrer rausgeschossen. Neil musste bremsen. Die Reifen quietschten.
„Verdammt"
Er schlug voller Wucht gegen das Lenkrad. Der Fahrradfahrer interessierte sich gar nicht dafür. Der Junge fuhr einfach weiter. Ginger fühlte sich verantwortlich für Neils Wut und Unachtsamkeit. Sie rieb sich an den Oberarmen und überlegte angestrengt, wie sie ihrem Freund das alles nur erklären sollte.
„Er ist nicht mein Ex Freund. Er ist schwul. Er hat mich nie geliebt. Zumindest nicht so, wie ich ihn."
„Liebst du ihn immer noch?"
„Ich weiß es nicht. Ich liebe viele Menschen. Ich liebe dich, ich liebe meine Freunde, ich liebe meine Geschwister, ich liebe-„
„Ich spreche von der anderen Liebe, Ginger. Die Liebe, die Menschen in einer Beziehung zueinander haben."
„Aber Nero und ich hatten nie eine Beziehung. Er hat mich manipuliert."
"Er hat was?"
Neil wurde so laut, dass Ginger zusammenzuckte.
„Seine Freundin hat gesagt, er hat mich manipuliert, weil er krank war. Ich dachte, er mag mich. Ich war sehr traurig und sehr verletzt, deswegen habe ich alles mit einem Abschiedsbrief beendet und bin ausgezogen."
Stille. Lediglich unterbrochen durch Neils Stöhnen. Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen.
„Ich bin so ein Idiot. Es....es tut mir leid Ginger. Ich denke, die Eifersucht hat mich einfach übermannt."
"Ist schon ok", sagte Ginger. „Menschen sind emotional und unlogisch. Aber ich liebe dich trotzdem. Sehr sogar. Du bist der beste Mann, den es gibt."
Das war für Neil wie Musik in den Ohren. Er griff Gingers Hand und strich zart über ihren Handrücken.
„Du bist mein Lieblingsmensch Ginger. Du kleines Alien. Und ich hoffe, wo immer du auch herkommst, dass man dich dort nicht vermisst. Denn ich geb dich nicht mehr so schnell wieder her."
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