Bereicherung
Ich widme dieses heutige Kapiteln allen Menschen mit Autismus und möchte sie daran erinnern, dass sie nicht besser oder schlechter sind, als "normale" Menschen (was ist schon "normal"?)Anders zu sein ist keine Schande. Anders sein ist inspirierend und eine Bereicherung für diese Welt.So, wie du bist, bist du gut, wie du bist.Du bist genau richtig.Und du hast ein Recht darauf so zu sein, wie du eben bist.
Fühl dich gedrückt,
deine Chibiterasu :*
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„Wirklich eine großartige Bedienung, die sie hier im Kaffee haben"
Der Sarkasmus war nicht zu überhören. Trotzdem lächelte Ginger über beide Ohren.
„Vielen Dank, ich arbeite immer sehr hart daran, einen guten Job zu machen."
Es war Gingers dritter Arbeitstag im St. Bonaventure Hospital. Debbie Wexler hatte sie erfolgreich im Kaffee integriert und eingearbeitet. Sie war sehr geduldig mit Ginger.
Sie machte sich gut. Eigentlich. Bis jetzt. Die Frau, der sie eigentlich einen mittleren Cappuccino mit laktosefreier Milch zum mitnehmen organisieren sollte, war zu ungeduldig und laut gewesen.
Mit Hektik konnte Ginger nicht umgehen. Aber sie gab ihr bestes, alles richtig zu machen. Der Unfall war ein Missgeschick.
Ginger wurde flüchtig am Arm berührt. Das war ein Reiz zu viel.
Sie erschrak und schüttete den heißen Kaffee über die Bluse ihrer Kundin.
Debbie hatte den Vorfall mitbekommen und war sofort herbeigeeilt mit ein paar Servierten.
„Es tut mir so unendlich leid, Miss", stammelte sie.
Aber die Brünette mit dem Kaffeefleck war wütend.
„Dieses Designerstück hat mehr gekostet als ihr ganzes Studium. Wer ist dieser Freak?"
Ginger stand wie vereist da und legte den Kopf schief.
„Ich habe nicht studiert."
„Ginger!"
Debbies Stimme war scharf. Sie witterte, dass die Situation am eskalieren war. Genau in diesem Augenblick kam Neil um die Ecke.
Er hatte Pause und wollte mit Ginger spazieren gehen.
„Guten Tag die Damen, ich denke ich brauche einen starken Espresso. Sonst überstehe ich den Tag-„
Er stoppte, als er realisierte, dass er in eine ungünstige Situation hineingeraten war.
„Oh, soll ich später nochmal wiederkommen?"
„Ich denke, Sie kommen mir sehr gelegen."
Debbie schielte vielsagend zu Ginger. Die stand immer noch da, mit schräg gelegtem Kopf und verständnisloser Miene.
Ihre roten Haare lösten sich aus ihrem Dutt und hingen an ihrem blassen Hals herunter. Die blaue Schürze, die sie trug, waren im perfekten Farbabgleich zu ihren azurblauen Augen.
Neil könnte sich immer wieder neu in sie verlieben. Wäre da doch nur der Autismus nicht, der Ginger ständig in unschöne Situationen brachte.
„Komm, Ginger. Wir gehen ein Stück."
Mit Ginger im Arm wollte er gerade das Kaffee verlassen, als die Brünette mit dem Kaffeefleck aufblickte.
Ihre Mimik war nun anders. Gespielt freundlich und hochnäsig.
„Ich finde es ja ganz reizend, dass ihr Betreuer eure Pflegefälle hier auch arbeiten lasst. Aber das ersetzt immer noch nicht meine Bluse. Ich werde Ihnen die Rechnung für die Reinigung zukommen lassen, Herr."
„Dr. Neil Melendez"
Neil gab ihr die Hand.
„Adressieren Sie die Rechnung einfach an diesen Namen und schicken Sie ihn an die Klinik. Ich und meine Freundin werden selbstverständlich für den Schaden aufkommen."
Er zwinkerte der Frau zu, machte sich dann aber auf. Zusammen, Hand in Hand verließ er mit Ginger das Kaffee. Die Frau schaute ihnen verblüfft und etwas peinlich berührt hinterher.
Ginger liebte es mittlerweile, wenn Neil ihre Hand nahm. Sie war angenehm, sanft und warm. Nicht so kalt und drückend, wie ein Händedruck von Fremden. Oder so schwitzig und glitschig.
Es war schwer für Ginger, Berührungen zuzulassen. Aber es gab Menschen, wo sie dies gewähren lassen konnte.
Neil war einer dieser wenigen Auserwählten.
„Es tut gut, dich hier zu haben, Ginger. Ich muss dir unbedingt etwas erzählen."
Ginger hörte aufmerksam zu. War etwas passiert?
„Ich habe eine Patientin, die Schmerzresistent ist. Die Nerven leiten es nicht an ihr Gehirn weiter. Eine verzwickte Situation. So etwas kann vorkommen, aber ich habe so einen Fall bis jetzt noch nie gehabt."
Ginger hörte aufmerksam zu.
„Ihr Ehemann ist davon sehr stark getroffen. Denn er glaubt, dass sie ihn vielleicht nicht wirklich liebt."
„Ich denke, jeder Mensch liebt auf seine eigene Weise."
Ginger war sich da ganz sicher.
„Ich wünsche mir manchmal auch, dass ich keine Schmerzen spüre. Dann hätte ich heute keinen Kaffee verschüttet."
Neil lachte.
„Wirklich, es tut so gut, dich zu sehen, Baby. Komm her."
Neil stoppte Ginger, nahm vorsichtig ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie zärtlich. Ginger floss ein angenehmer Schauer über den Rücken.
Eine angenehme Wärme breitete sich in ihr aus und ihre Beine und Arme wurden weich und zitterten vor Empfindungen.
Als sie ihren Weg wieder fortsetzten, legte Neil liebevoll einen Arm um Gingers Hüfte und zog sie so näher an sich heran.
„Ich musste vorhin daran denken, wie wir uns kennengelernt haben. Ich dachte anfangs, du seist ein eiskalter Roboter, der keine Gefühle hat."
Oh, wie könnte Ginger das vergessen. Sie hatte ihn im Fitnessstudio kennengelernt. Beim Gewichte heben.
Es war ein verregneter Tag gewesen, das Fitnessstudio war voller als sonst (es war kurz nach Neujahr) und Ginger war vom Laufband geflogen.
Weil sie sich den Clipper nicht an ihr T-Shirt gemacht hatte. Den, der davor schützte, dass eben das nicht passierte, was Ginger passiert war.
Er hatte sie noch vor Ort verarztet. Weder Neil noch sie wussten zu der Zeit von ihrer Autismus Diagnose. Wie jeder normale Mensch hat er versucht, mit Ginger Smalltalk zu halten. Was natürlich gründlich schief gegangen war.
Sie kamen an der Terrasse vorbei. Draußen saßen Park und Murphy.
Shaun stand vom Stuhl auf, als das Pärchen nur wenige Meter entfernt war.
Schleunig stakste er steif auf Ginger und Neil zu.
„Warum haltet ihr eure Hand? Ist das wichtig für eine Beziehung?"
Ginger fühlte, wie Neil die Situation unangenehm war. Wie immer, wenn Shaun private Fragen stellte, die er ungern beantwortete.
„Neils Hand gibt mir Sicherheit", antwortete Ginger und lächelte.
„Also fühlst du dich hier im Krankenhaus unsicher? Aber es ist ein Krankenhaus. Du bist hier sehr sicher."
„Shaun, das meinte Ginger nicht damit. Es ist-„
„Die Menschen machen mich unsicher."
Shaun sah man genau an, wie es in seinem Kopf ratterte. Er überlegte, kombinierte.
„Du bist Autistin wie ich. Ist dir diese Berührung schon mal unangenehm gewesen? Hast du es gelernt? Kann ich das auch lernen?"
„Mir ist es immer dann unangenehm, wenn es Hände von Fremden sind, sie kräftig zudrücken und ihre Hände schwitzig sind. Neil aber fasst mich vorsichtig an. Und seine Hand ist der zärtlich. Ich denke, du solltest kommunizieren, wie du gerne angefasst werden möchtest. Es gibt viele verschiedene Arten, wie ein Mensch deine Hand nehmen kann."
Es war nicht das erste Mal, dass Shaun Ginger solche Fragen stellte. Sie verstand Shaun, dass er diese Fragen stellte. Und sie freute sich sehr dafür, dass die Menschen um Shaun herum ihm das nicht übel nahmen und ihm auch brauchbare Antworten gaben. Hätte das früher jemand auch bei ihr gemacht...doch all die Erfahrungen haben Ginger ängstlicher und vorsichtiger gemacht. Sie beobachtete und fragte nur noch selten.
Was sie nicht wusste, googelte sie. Und wenn sie gar nicht mehr weiter wusste, erst dann fragte sie jemand anderes um Rat.
„Ginger hat Recht, Shaun. Falls es um Carly geht, rede offen darüber mit ihr."
Er zwinkerte Shaun zu.
„Manchmal hast du Hornhaut an deinen Handflächen", sagte Ginger dann und sah zu Neil hoch.
„Macht der Job, Baby", gab dieser nur zurück.
„Hornhaut kratzt. Wenn du Hornhaut hast, mag ich es nicht, wenn du mich anfasst."
Stille. Neil wirkte bedröppelt.
„Danke für die Information."
Ginger war sehr müde und freute sich schon darauf, nach Hause zu gehen und sich mit einer Wärmflasche ins Bett zu kuscheln. Doch davor musste sie Neil abholen.
Die Schwestern kannten Ginger. Manche begrüßten sie freundlich, als sie an ihnen vorbeilief. Manche wiederum fanden Ginger immer noch befremdlich und taten so, als sei sie gar nicht da.
Ginger entdeckte Neil am anderen Ende in einem der Patientenzimmern. Er redete mit einem Mann und einer Frau.
Unsicher, ob sie dazu treten konnte oder nicht, blieb sie tänzelnd im Flur stehen, machte immer wieder Anstalten, hineinzugehen, schaffte es aber nicht, sich dazu zu überwinden.
Situationen, die Ginger überhaupt nicht mochte. Denn hier konnte sie keine „Maske" aufsetzen. Hier sah man nun deutlich, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Dass sie anders war. Ihre Beine wurden weich, ihr Herz schlug schneller und in ihrem Brustkorb machte sich der allbekannte Kloß breit.
Ihre Atmung wurde schwerer und ihr Kopf brummte.
Bis Neil sie schließlich bemerkte und zu sich winkte.
Die Erleichterung!
Und allmählich verließ Gingers Panik Attacke wieder ihre Glieder und zog sich zurück. Die vertraute Hand ihres Partners an ihrer Schulter war eine Beruhigung. Fast so, als hätte Neil Superkräfte, die sich durch Gingers Jacke und Haut fraßen, um ihre Stresshormone zu bekämpfen.
Meine Güte! Dieser Mann war wirklich ein guter Arzt. Und was für einer!
„Ah, dann sind sie Mrs. Portmore, richtig?"
Der fremde Mann sah Ginger freudestrahlend an. Er hatte eine Frau im Arm, die offensichtlich vor kurzem noch geweint hatte.
„Kennen wir uns?....Oh, Entschuldigung! Ich meine....."
Ginger suchte nach Worten, um sich zu retten. Nein! „Kennen wir uns?" war eine unhöfliche Frage.
Denn wenn sie sich kennen würden und Ginger sich nicht an sie erinnern konnte, dann würden sie sehr sauer sein.
„Ginger, das sind meine beiden Patienten, von denen ich dir heute Mittag erzählt habe. Lily und Jonas Barstow. Mr. Und Mrs. Barstow, das ist meine Freundin Ginger Portmore."
„Sehr erfreut", sagte Lily und lächelte Ginger an. „Dr. Melendez hat von Ihnen erzählt. Nach seinen Erzählungen her scheinen Sie eine unglaublich kluge, junge Frau zu sein. Und dazu noch ausgesprochen hübsch."
„Danke", sagte Ginger, konnte ihren verdatterten Gesichtsausdruck nicht verbergen.
Neil hatte mit einem seiner Patienten über sie gesprochen? Was hatte er ihnen erzählt? Gerade heute, wo wieder ein Tag war, wo der Rotschopf an sich gezweifelt hatte, war dies Balsam für die Seele.
Neil nahm Gingers Hand und sie verabschiedeten sich von dem Pärchen.
Ginger blieb still, doch als sie aus dem Krankenhaus getreten waren, konnte sie nicht anders, als zu fragen. Sie platzte vor Neugier.
„Was hast du Ihnen von mir erzählt? Und warum?"
„Du sagtest vorhin etwas, was mich zutiefst berührt hat. Ich habe es den beiden erzählt während ihrer Krise. Es hat sie zum nachdenken angeregt und ihre Beziehung am Ende sogar vielleicht gerettet."
„Ach ja? ....ok, wow."
Draußen war es bereits dunkel. Nur die Laternen, Schilder und die vorbeifahrenden Autos spendeten etwas Licht.
Sie schlenderten gemütlich zum Parkplatz.
„Gerade weil du so anders denkst, bist du eine Bereicherung für diese Welt. Für diese Klinik, auch für meine Patienten und besonders für mich."
Er küsste Ginger zärtlich im Mondschein. Das rote Haar wehte im sachten Wind, wie auch ihr brauner Mantel, der wild um ihre Knie flatterte.
Jeder Atemzug der beiden war sichtbar und formte kleine Wölkchen vor ihren Lippen, wenn sie sich lösten, um Luft zu schnappen.
Ginger hatte sich lange nicht mehr so geliebt gefühlt. Ihre Hände lagen vorsichtig auf Neils Brust, während er selbst vorsichtig ihre Wangen mit seinen Fingern streichelte und mit seinen Mund immer noch ihre weichen Lippen liebkoste.
Jeder Mensch liebt auf seine eigene Weise
Es gab kein richtig oder falsch in der Liebe. Gefühle waren immer richtig. Und jeder hatte seine eigene Weise, seine Zuneigung zum Ausdruck zu bringen.
Etwas, was die meisten vergaßen im Laufe der schnelllebigen modernen Zeit.
Gingers Sicht auf viele Dinge mochten anders sein. Aber nicht schlechter oder besser.
Sie waren interessant, inspirierend und wer versuchte, sie zu verstehen und die Welt durch ihre Augen zu sehen, der konnte Neil Melendez mit vollem Herzen zustimmen.
Ginger war eine Bereicherung für diese Welt
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