Am Glas festhalten
„Das geht jetzt schon seid einer Stunde so.", stöhnte Melendez, als Lim eintrat, um ihn und Ginger abzuholen.
Das Bild, auf welches Melendez anspielte, war folgendes: eine junge Frau mit blasser Haut und fuchsrotem Haar lief wie wild durch die Wohnung, hob Kissen hoch, kroch unter Schränke und Betten, riss unwillkürlich irgendwelche Türen auf und durchwühlte dessen Inhalt. Als sie dem Mülleimer gefährlich nahe kam (Melendez kannte mittlerweile seine Freundin ziemlich gut), schritt der Herz Chirurg ein.
„Im Müll sind sie GANZ SICHER nicht.", sagte er nicht laut, aber in einem bestimmendem Tonfall.
Ginger ging zwei Schritte zurück. Sie sah auf den Boden, dann wieder zum Mülleimer und wieder zurück zum Boden. Nervös knetete sie ihre Finger.
„Aber vielleicht lagen sie auf einem Stück Haushaltsrolle, und vielleicht hast du gedacht, es sei Plastik und hast sie in den Müll geworfen."
„Nein, Liebling. Ich bin mir ganz sicher, dass ich das nicht gemacht habe. Komm, wir müssen jetzt los. Dr. Lim wartet und Dr. Andrews Eröffnungsrede beginnt in einer halben Stunde."
Ginger nickte als Antwort.
„Ok. Dann bleib ich hier und warte, bis du zurück bist."
„Was? Nein!"
Melendez hob seine Hände.
„Ginger, bitte reiß dich zusammen. Es sind doch nur ein paar Ohrenstöpsel."
Ginger ignorierte ihren Freund. In ihrem roten Kleid und ihren schwarzen Ballerinas begann sie, in der Wohnung auf und ab zu gehen.
„Auf einer Feier wird es laut sein. Dort sind viele Menschen, viele Geräusche, ich kann die Geräusche nicht filtern. Ich kann nicht mit. Ich kann NICHT MIT!"
Melendez atmete tief ein, schloss die Augen und zog die untere Lippe ein.
„Ein kleines bisschen erinnert sie mich schon an Dr. Murphy.", grinste Lim.
„Ach was, darauf bin ich ja noch gar nicht gekommen...", grummelte Melendez sakastisch, „in einem Moment ist sie so reif und erwachsen, so intelligent. Und dann ist sie wieder so kindisch."
„Niemand hat gesagt, dass die Beziehung mit einem Autisten einfach wird."
Lim grinste ihn immer noch an. Melendez erinnerte sich an letztes Jahr. Da war er noch mit Dr. Lim zusammen gewesen, ehe sie die Beziehung beendet hatte. Am Anfang hatte ihm das noch sehr weh getan.
Doch dann hatte er SIE getroffen. Ginger.
Ja, Melendez hatte sich oft überfordert gefühlt mit Shaun Murphy in seinem OP Team. Autismus. Ein schwieriges Thema. Ja, Neil hatte anfangs Vorurteile, bis er Shaun Murphy richtig kennengelernt hatte. Trotzdem...eine Beziehung mit einer Autistin? Das hätte Neil Melendez sich in seinen schlimmsten Träumen nicht ausgemalt. Er wollte sich nicht aufregen. Aber er war gestresst. Neil massierte sich die Schläfen.
Warum musste sie ausgerechnet Autistin sein? Melendez hasste sich dafür. Er wollte nicht so denken. Aber manchmal wünschte er sich Gingers Autismus einfach weg.
„Wir haben in der Klinik bestimmt noch irgendwo Wattepads, die Ginger sich in die Ohren stecken kann.", erinnerte ihn Lim.
„Das habe ich ihr auch schon angeboten, Audrey. Aber Ginger kann keine normalen Wattepads benutzen. Es tut ihr weh. Diese Ohrenstöpsel sind eine Spezialanfertigung ihrer Ohrmuschel mit Filter. Sie geht ohne diese Ohrenstöpsel nie aus dem Haus."
Melendez schaute auf seine Uhr.
„Schon zehn nach acht. Verdammt, Ginger! Warte....Ginger?"
„Wir können los."
Melendez und Lim kippte beinahe die Kinnlade runter. Aber sie hatten keine andere Möglichkeit. Die Zeit drängte und wenn es nicht anders ging, dann musste es wohl so ein.
„Die Cosplay Veranstaltung ist aber da drüben, direkt neben dem Comicgeschäft in der Einbahnstraße gegenüber."
Ein paar Männer im Anzug standen vor der Tür und rauchten, als Melendez mit Ginger vor der Klinik ankam.
Ginger hatte auf ihrem roten Haar ein riesiges paar rosa Kopfhörer mit Katzenohren. Sie nahm natürlich wahr, dass die Männer sich über sie lustig machten, doch Melendez zog sie einfach weiter.
„Hör nicht auf die, Liebling. Du siehst wunderschön aus."
Er gab Ginger einen Kuss auf die Schläfe. Melendez wusste, dass Ginger das beruhigte.
Zusammen gingen sie hinein.
Der große Saal im St. Bonaventure Hospital hatte sich zu einer traumhaften Kulisse umgewandelt. Man hatte Tische überall platziert mit weißen Decken. Servierten waren kunstvoll in all mögliche Figuren gefaltet. Die blauen Lichter spendeten Sicht auf die tausenden Gäste, welche prunkvoll in den teuersten Kleidern und Anzügen steckten.
Neil Melendez wurde sogleich von ein paar Kollegen in Empfang genommen, die ihm brüderlich auf die Schulter klopften.
„Wir haben von dem Eingriff gehört, Dr. Melendez. Das war unglaublich."
Neil bedankte sich bei allen für ihren Zuspruch. Aber er hielt Gingers Hand fest umschlossen.
„Wer ist denn die Frau an Ihrer Seite, Dr?", fragte eine Frau mit blonden Haaren und einem grünen Kleid.
Melendez lächelte stolz und zog Ginger ganz vorsichtig näher an sich heran.
„Das ist meine Freundin Ginger. Sie ist eine sehr begabte Künstlerin."
Ginger sah die unbekannten Partygäste nur stumm an. Sie stellten sich vor und gaben Ginger die Hand, Ginger sagte sie nichts. Sie wich zurück und drückte sich näher an Melendez. Sie wollte die Hände der anderen nicht berühren.
Als sie allesamt wieder in der Menge verschwunden waren, wandte Neil sich an seine Freundin.
„Du machst das einfach wie bei einer Familienfeier. Du sagst Hallo, schaust ihnen kurz in die Augen und schüttelst ihre Hand. Das ist ganz einfach, du schaffst das."
„Hände schütteln, in die Augen gucken, hallo sagen!", wiederholte Ginger monoton und nickte bei jeder Aufzählung.
Neil lächelte aufmunternd.
„Richtig!"
Und sie starteten einen neuen Versuch. Diesmal bei ein paar Krankenschwestern. Neil lächelte zufrieden, als er Ginger dabei beobachtete, sie sie zwar unsicher auf die anderen zuschritt, es aber dennoch schaffte, sich zu überwinden.
Gingers Arme waren verkrampft und sie schüttelte die Hände der Krankenschwestern viel zu kräftig.
Darüber sah Melendez hinweg, ein wenig amüsierte er sich darüber schon. Das war etwas, was er an Ginger unter anderem liebte. Ihren Mut. Ihre Neugierde, neue Dinge zu entdecken. Alltägliche Dinge, die für ihn als neurotypischer Mensch als selbstverständlich galten. Sie war wie ein Außerirdischer, der die Welt der Menschen erforschen wollte.
Und als Ginger zurückkam, konnte er sich ein warmes und verliebtes Lächeln nicht verkneifen. Ginger strahlte über das ganze Gesicht. Sie hatte ihre Fäuste vor ihrem Mund geballt und sah ihn aus ihren meerblauen Augen an.
Gingers Art, zu zeigen, wenn sie stolz auf sich war.
Melendez gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Und in diesem Moment erinnerte er sich wieder daran, dass der Autismus ein Teil von Ginger war.
Ginger wäre nicht Ginger ohne ihren Autismus. Er hatte sich aber genau in DIESE Ginger verliebt.
Ginger mit ihren Stärken, mit ihren Schwächen, mit ihren Macken und ihren Vorzügen.
Es war nicht immer einfach. Doch was war schon einfach? Keine Beziehung war einfach. Die Beziehungen mit Jessica und Audrey hatten auch ihre Höhen und Tiefen.
Melendez wusste, zusammen würden sie es schaffen.
Diesmal würde es anders sein.
„Ah, junge Dame. Hier, nehmen sie das Glas, da können sie sich dran festhalten."
„Ich soll mich an einem Glas festhalten? Das ergibt keinen Sinn."
Der Kellner mit dem Weißwein sah Ginger nur verwirrt an, sah dann zu Melendez und ging dann mit dem Tablett seines Weges.
Ginger sah ihm hinterher, blinzelnd und mit leicht schräg gelegtem Kopf.
Melendez seufzte.
Ach du grüne Neune! Ja, da war ja noch was. Gingers Schwächen waren Redewendungen und Sprichwörter. Nun musste er sich einfallen lassen, wie er seine Freundin am besten aufklärte, was es mit dem „Glas festhalten" auf sich hatte.
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