6 Lieblingsort
Kapitel 6
Bei Julia angekommen berichten wir ihr über die vergangen Stunden bei meinen Eltern. Sie ist fassungslos über die Verhaltensweisen meiner Mutter und schüttelt bei jedem Wort, das ich über sie verliere den Kopf.
„Weißt du es, ist die eine Sache, wenn sie dich nicht verlieren will und Angst hat, dich in die Welt hinaus ziehen zu lassen, aber die andere Sache ist nicht in Ordnung. Was fällt ihr ein, beim Kennenlerntreffen deines neuen Freundes, sich über den Ex zu erkundigen?", entgegnt sie mir fassungslos und starrt mich mit leicht geöffneten Mund an.
„So ist sie eben, skrupellos."
„Nein, oh nein! Sophia, dieses Benehmen ihrerseits ist keinesfalls zu erdulden."
„So war sie schon immer", spiele ich das Verhalten meiner Mutter herunter.
„Na und Sophia, du hast dich verändert, sag ihr die Meinung", protestiert Julia und sieht mich mit erhobener Augenbraue an.
„Hab ich." Schweratmend lasse ich mich auf dem Sofa in ihrer Wohnung fallen.
„Das hoffe ich."
„Ja Julia", lache ich. „Was hast du in unserer Abwesenheit getrieben?"
„Aufgeräumt und Netflix geschaut", antwortet sie auf meine Frage und ich freue mich innerlich darüber, dass mein Ablenkungsmanöver funktioniert hat.
„Wir hätten dir beim Aufräumen geholfen, stimmts Liam?"
„Natürlich", antwortet er und legt seinen Arm um meine Schulter.
„Ach nein, das ist nicht nötig."
„Doch Julia, schließlich haben wir auch den Dreck verursacht", sage ich ernst.
„Mach dir keine Sorgen, es ist alles sauber."
Es wäre nicht nötig gewesen, dass sie alles alleine sauber macht. So war sie aber schon immer. Sie saugte und wischte die Wohnung, als ich bei ihr wohnte, derweil ich kellnern war. Irgendwann fing ich an, dasselbe zu tun, wenn sie zur Uni ging und erst am Nachmittag wieder nach Hause kam.
„Danke", bedanke ich mich und schenke ihr ein Lächeln.
„Liam, ich habe mich auf der Fahrt zu Julia gefragt, ob wir nicht zu meinen Eltern in mein altes Kinderzimmer einziehen sollen? Es ist beengt und klein, aber ich denke es, wäre eine gute Chance dich mit meinen Eltern anzufreunden."
Liam sieht mich mit gerunzelter Stirn an, doch mit jeder Sekunde, die vergeht, verschwindet eine Falte auf ihr.
„Ihr könnt auch hierbleiben", wirft Julia ein und sieht hektisch zwischen uns hin und her.
„Danke Julia, dass weiß ich zu schätzen, aber ich denke es, ist die perfekte Gelegenheit, Mutter von Liam zu überzeugen."
„Glaubst du wirklich?", hakt er nach. „Wir könnten auch in ein Hotel." „Nein, du musst dein Geld nicht aus dem Fenster werfen. Das ist nicht nötig, wir kommen bei Julia und bei meinen Eltern unter."
„Genau!", stimmt Julia mir zu.
„Ach Babe, du weißt, dass Geld für mich keine Rolle spielt."
„Ich weiß, aber für mich schon. Ich musste schon immer auf das Geld achten und konnte es nicht einfach ausgeben."
„Bald schon."
„Liam!"
„Mein Geld ist, dein Geld. Ich werde dir das College in New York finanzieren. Mach dir über die anderen Kosten auch keine Sorgen."
„Liam ...", schluchze ich und gebe ihm ein Kuss auf die Wange. „Das kann ich nicht annehmen."
„Oh Sophia-"
„Nein", unterbreche ich ihn, lege meine Hand auf seinen Mund, damit er kein weiteres Wort über die Lippen bringen kann. Es ist süß von ihm, mich dermaßen zu unterstützen, ganz ohne sein Geld und ohne seine Hilfe werde ich nicht in den USA auskommen. Das muss ich mir eingestehen. Aber ich werde mir neben dem College ein Job suchen, damit ich auf meinen eigenen Beinen stehe, ebenfalls Geld zusteuern kann, auch wenn es nicht nötig ist. Dann gehts mir gut, es muss keine große Menge sein, es reicht ein Minijob, um mein Gewissen zu beruhigen, aber es führt kein Weg vorbei. Jedoch erzähle ich Liam noch nichts über dieses vorhaben, ansonsten wird er es mir sofort versuchen auszureden.
„Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen!", merkt Liam an, nachdem ich meine Hand von seinem Mund nehme.
„Also, was hältst du von der Idee vorübergehend bei meinen Eltern einzuziehen?"
Liam sucht hilflos Augenkontakt zu Julia, die aber in eine andere Richtung schaut. Danach sieht er mich wieder an. „Wenn du es für richtig hältst, werden wir es tun."
„Danke", sage ich und drücke ihm ein Kuss auf den Mund. „Ich werde morgen mit ihnen Reden."
Am nächsten Morgen zeige ich Liam das Dorf, mein Zuhause, dass ich in wenigen Monaten schmerzlichst vermissen werde. Das Dorfleben hat mir in den USA gefehlt. Hier kennt jeder jeden, man grüßt sich auf den Straßen und kennt jeden kleinen Winkel des Ortes. Es ist alles anders und nicht mit einer Großstadt zu vergleichen. Miami ist eine Metropole, in der man die Anonymität wahren kann, die man ohne Auto nicht verlassen kann. Das Ausmaß ist zu groß, und ohne einen Stadtführer wird man sich, auch wenn man länger dort lebt verirren. Selbst Liam, der seit Geburt in Miami lebt, kennt nicht jeden Winkel der Stadt.
„Wir sind da", berichte ich und breite meine Arme aus. Wir liefen einmal quer durch das Dorf, um an mein Lieblingsort zu gelangen. Liam und ich stehen mitten im Wald an einem großen Weiher, vor einer Bank, die sich unter einem großen Laubbaum befindet. Die Blätter an ihm erstrahlen in einem satten Grün und lenkt so von dem dumpfen Braun der Rinde ab.
„Ich verstehe, wieso es dein Lieblingsort ist", sagt er und setzt sich auf die Bank.
Lächelnd sehe zu ihm hinab. Liam ergreift meine Hand, zieht mich zu sich, zwischen seine Beine und umfasst meine Taille mit der anderen Hand.
„Es ist schön hier und vor allem ruhig."
„Ja, hier her habe ich mich immer zurückgezogen, wenn ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten habe, oder um zu lesen. Mit diesem Ort verbinde ich Sicherheit und Geborgenheit", erkläre ich ihm und merke, wie mir Tränen in die Augen aufsteigen. Diesen Platz werde ich vermissen.
Liam nickt und liebkost meine Hand mit seinen Lippen. „Babe, wir werden in New York zusammen neue Lieblingsorte finden, okay?"
Seine Worte bringen mich zum Strahlen und die aufkommenden Tränen unterdrücke ich, verdränge ich durch mein Glück.
Wegen ihm, wegen der Liebe werde ich alles aufgeben. Dieser Gedanke spukt mir im Kopf herum und lässt mich nicht mehr los. Aber es fühlt sich verdammt richtig an und deshalb werde ich mich voll und ganz darauf einlassen.
„Das ist eine schöne Vorstellung!"
„Und sie wird Realität, das verspreche ich dir!"
„Okay", bringe ich hervor und lasse mir das Ungleichgewicht meiner Emotionen nicht anmerken. In die Zukunft blicke ich mit einem Lachenden, fröhlichen Augen, während ein trauriges in die Vergangenheit sieht.
„Erzähl mir, deine schönste Erinnerung, die du mit diesem Ort verbindest", fordert Liam und setzt ein schiefes Lächeln auf.
Was ist meine schönste Erinnerung an diesen Ort? Mit seiner Frage bringt er mich ins Grübeln und es dauert einige Sekunden, bis ich die Antwort gefunden habe.
„Schwierige Frage, an diesem Ort suchte ich Zuflucht, las Bücher, wenn ich alleine sein wollte."
„Aber irgendwann hast du etwas hier erlebt, was es zu deinem Lieblingsort gemacht hat", sagt er und lässt mich nicht aus den Augen. Sein Blick fesselt mich, mir ist es noch nie so schwergefallen, mich aus seinem Blick mit den eisblauen Augen zu befreien, wie in diesem Moment.
„Ich glaube, es ist, die Aura, die mich an diesen Ort fesselt. Sie strahlt etwas Beruhigendes aus und hier kann ich immer Ruhe finden, egal wie stressig der Tag war oder wie traurig ich bin. Hier las ich als Kind mein erstes Buch zu Ende, vielleicht lässt mich dieser Ort unbewusst an diese Erinnerung zurückdenken."
„Das kann sein", sagt er und ich befreie mich aus seinem liebevollen Griff und setze mich neben ihn auf die Bank.
Minuten vergehen, in denen wir die Aussicht auf den Weiher genießen, die von ihm ausgehende Stille und reden. Es ist so still im Wald und nur ab und an kommt jemand mit seinem Hund an uns vorbei.
„CHARLES!", kreischt jemand durch den ganzen Wald. Oh nein, diese Stimme kommt mir nur allzu bekannt vor und eigentlich wollte ich dieser Person nie wieder begegnen.
Eine große Bulldogge läuft auf mich zu, bremst vor mir ab und schnüffelnd an mir. Der Hund meines Ex Freundes Ben freut sich, mich zu sehen, und legt bellend den Kopf auf meine Beine ab.
Auf der Bank sitzend streichle ich die Dogge und suche hilflos zu Liam Augenkontakt.
„Kennst du den Hund?", fragt er mich, als er meinen Blick bemerkt, er beobachtet mich dabei, wie ich den Hund streichele.
„Sophia, hi", sagt Ben verwundert, außer Puste und bleibt vor mir stehen. Mein Ex steht in Fleisch und Blut vor mir. „Charles hat dich vermisst!", lacht er und sieht zu seinem Hund rüber. Die Dogge wedelt unaufhörlich mit ihrem Schwanz, hechelt bei meiner Streicheleinheit.
„Hi Ben", betone ich. Ich sehe Liam erneut an, in der Hoffnung er versteht, wer vor uns steht.
Dieser weitet schlagartig die Augen und bleibt wie eingefroren neben mir sitzen.
„Ben, das ist mein Verlobter Liam", erkläre ich und deute mit der Hand auf ihn.
„Du bist verlobt?", fragt er ungläubig und legt Charles die Leine an.
„Hi, ich bin Liam", gibt er von sich, steht auf und stellt sich aufbauend vor Ben.
„Englisch? Ein Amerikaner?", fragt er spottend und sieht zu mir rüber, als er merkt, dass Liam kein Deutsch spricht. „Hast du ihn etwa in deinem Auslandsjahr kennengelernt?"
„Woher weißt du davon?", frage ich mit bebender Stimme, während ich ihn wütend anfunkele.
Aber warum frage ich ihn überhaupt? Ich lebe hier in einem Dorf, es spricht sich schnell herum, wenn jemand für eine längere Zeit nicht hier ist und im Ausland lebt.
„Ja und weißt du, was das Beste daran ist?"
Ben zieht fragend skeptisch die Braue nach oben.
„Ich werde demnächst auswandern, also werde ich dich nie wieder sehen."
Er schluckt und ich sehe in seinen Augen etwas verdächtig aufschimmern. „Viel Glück", wünscht er uns und zieht Charles von mir weg.
„Das ist mein Ex", erkläre ich ihm, als Ben außer Sichtweite ist.
„Habt ihr euch gestritten?", fragt Liam mich besorgt. „Hat er dich beleidigt?" Seine Stimme fängt bei der letzten Frage an zu beben, derweil der markante Kiefer zuckt.
„Nein, er war nur verwundert, dass ich mich im Ausland verlobt habe. Ich glaube, dass er noch nicht ganz über unsere Beziehung hinweg ist."
„Okay."
„Ich hätte es wissen müssen, dass wir ihm früher oder später begegnen. Weißt du, wenn man in einem Dorf lebt, trifft man sich früher oder später. Ben lebt auch hier, also-"
„Sophia!", unterbricht mich Liam und bringt mich durch einen Kuss zum Schweigen. „Schon gut, soll er uns doch noch tausend Mal über den Weg laufen, soll er uns anstarren, dass alles ist mir egal. Es wird mich vielleicht zur Weißglut bringen und mich innerlich kochen lassen, aber genau das will er, aber ich weiß, dass du mich liebst. Alles andere interessiert mich nicht."
„Oh ja, Liam Parker, ich liebe dich so sehr!", entgegne ich ihm auf seine rührenden Worte, drücke ihm einen Kuss auf den Mund, den er augenblicklich vertieft.
„Komm, lass uns zurückgehen, wir könnten etwas bei Julia essen und danach breche ich zu meinen Eltern auf, um ihnen meinen Vorschlag mit dir bei ihnen vorübergehend einzuziehen", sage ich mit gesicherter Stimme und erhebe mich von der Bank.
„Gute Idee."
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Ich wünsche euch allen einen guten Rutsch ins neue Jahr!✨♥️
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