Prolog
Die Nacht war kalt und windig, als Amelia Evans durch die Gänge von Beauxbatons schlich und sich fröstelnd ihre dünne Jacke zuzog. Der Winter war angebrochen und selbst hinter den Schlossmauern von Süd-Frankreich war es kalt.
Letztes Jahr um diese Zeit hatte Amelia endlich ihren Apparierkurs erfolgreich absolviert und wie sollte es auch anders sein – natürlich mit einem ‚Ohnegleichen'.
Danach war sie mit ihren Freundinnen feiern gegangen und sich überglücklich um den Hals gefallen. Endlich hatte sie das Gefühl erwachsen zu sein – nicht mehr abhängig von diesem Schloss, frei und ungebunden.
Natürlich gab es strenge Regeln hinter den Mauern. Die Beauxbatons war eine reine Mädchenschule – außer männlichen Lehrern gab es rein gar keine männlichen Wesen im Schloss.
Ein paar Geister von vor hundert Jahren irrten durch die Flure, jedoch waren diese nicht sehr gesprächig. Beauxbatons lag irgendwo in der Nähe von Cannes, so genau wusste Amelia das auch nicht.
In dieser Nacht war sie durch eine Briefeule aus dem Schlaf gerissen worden. Es war Sonntagabend und nach dem Abendessen, war sie mit ihren Mitschülerinnen noch ein bisschen spazieren gewesen, als sie schließlich erschöpft in ihre Bett gefallen war. Amelia lernte fast immer – sie war eine fleißige und ehrgeizige Schülerin, unheimlich begabt und in einem Jahr würde sie endlich ihr UTZ absolvieren.
Ihre Wahlfächer waren ‚Alte Runen' und ‚Pflege magischer Geschöpfe', dazu war sie in ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste' noch im Fortgeschrittenen Kurs. Sie würde sich nächstes Jahr im Frühjahr beim Zaubereiministerium bewerben, um Aurorin zu werden – die Zukunft, die sie schon seit Jahren anstrebte.
Die Briefeule, die sie so unsanft mit einem lauten Schrei und einem Klopfen an ihrem Fenster, aus dem Schlaf gerissen hatte, war von ihrer Schulleiterin Madame Maxime gewesen, was Amelia sehr überraschte.
Normal war das für Beauxbatons nicht.
Das unsanfte Erwachen und die Tatsache, dass ihre Schulleiterin sie um diese Zeit aus dem Schlaf riss, machten ihr etwas Angst. Das letzte Mal als so etwas passiert war, hatte Amelia einen der schlimmsten Tage ihres Lebens erlebt.
Vor drei Jahren, da war sie grade fünfzehn Jahre alt geworden, waren ihre Großeltern bei einem schlimmen Unfall ums Leben gekommen.
Daniel und Mary Evans waren Muggel und Amelia lebte in den Ferien bei ihnen. Als sie ein paar Monate alt war, kam sie zu ihren Großeltern und wuchs dort im englischen Cornwall auf dem Land auf. Mit elf Jahren entdeckte Amelia ihre magischen Fähigkeiten und wurde auf die Zauberschule Beauxbatons nach Süd-Frankreich geschickt. Dort wurde sie nun schon sechs Jahre unterrichtet und sprach daher perfekt Französisch und Englisch.
Über die Herkunft ihrer Eltern erfuhr Amelia nie sonderlich viel, ihre Großeltern verschoben jedes Gespräch über deren Leben und Tod immer wieder auf später, bis es irgendwann zu spät war und sie für all ihre Fragen keine Antworten mehr bekommen sollte.
Nach dem Tod von Daniel und Mary – die wie ihre eigenen Eltern für sie waren – verfiel sie damals in große Depressionen, aus denen sie sich nur schwer herauskämpfen konnte.
Nur durch ihren starken Willen und ihren Ehrgeizig, schaffte sie es wieder aus dem dunklen Loch zu entfliehen.
Amelia ging durch die dunklen Gänge, noch ein paar Meter und sie würde vor dem Büro ihrer Schulleiterin stehen.
Natürlich hatten auch sie den Endkampf mitbekommen – die Rettung durch Harry James Potter, der Junge der überlebt hatte. Sie konnte sich noch an ihre Freundin Luna erinnern, die Harry anhimmelte wie sonst keiner und Amelia versicherte, ihn irgendwann einmal persönlich zu treffen. In ihrem Zimmer hingen an jeder freien Wand Zeitungsausschnitte und Poster von dem Jungen mit der Blitznarbe, Harry Potter. Durch den Sieg wurde er nur noch berühmter und wochenlang stand nichts anderes im Tagespropheten, was Amelia irgendwann ziemlich genervt hatte.
Seitdem hatte sich viel verändert – die Schülerinnen aus Beauxbatons hatten viel mehr Ausgang, sie durften sogar am Wochenende Frankreich verlassen und nach Hause apparieren, was im Krieg nicht erlaubt war.
Amelia jedoch hatte nun niemanden mehr und gab sich seit drei Jahren damit ab.
Ihre ständige Einsamkeit tat oft weh, doch sie war froh über ihre beste Freundin Luna, die sie oft mit nach Hause nahm. Ihre Eltern gaben sich große Mühe und empfingen Amelia wie eine zweite Tochter. Dort fühlte sie sich heimisch und geborgen.
Vorsichtig klopfte sie nun an der Holztür an, die dunkel angestrichen war. Dreimal und zweimal kurz – das Klopfzeichen, dass die Schülerinnen in diesem Schloss als „Insider" wissen ließen, wer draußen vor der Tür stand.
Ein tiefes „Herein" von Madame Maxime ertönte und zögerlich drückte sie die Klinke herunter und trat in den großen Büroraum.
Zuerst sah sie Madame Maxime an ihrem großen, breiten Schreibtisch sitzen – die Hände auf dem Tisch verschränkt und ihre Lippen zu einem dünnen Strich gezogen. Als sie Amelia sah, nickte sie kühl in ihre Richtung und ihre Mundwinkel zogen sich für eine Millisekunde zu einem Lächeln zusammen.
Dann erschien dort wieder ein dünner Strich.
Der Raum war in ein düsteres Licht getaucht, lediglich ein paar Kerzen und Fackeln erhellten die Steinmauern des Büros. Ein dunkelroter und großer Webteppich lag auf dem Boden und füllte fast den ganzen Raum aus.
An den Wänden hingen Gemälde von Picasso und anderen großen Künstlern, die selbst Zauberer gewesen waren und auch in der Muggelwelt gelebt hatten.
Auf der rechten Seite erstreckte sich ein endloses Bücherregal über die ganze Wand und auf der linken Seite stand noch ein Tisch, auf dem Pergamentrollen und Federn lagen.
Erst als Amelia die Tür hinter sich schloss, merkte sie eine zweite Gestalt auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch sitzen. Diese hatte ihr den Rücken zugedreht, doch man konnte deutlich erkennen, dass es sich um eine Frau handelte.
„Amelia – schön, das du hier bist. Bitte setz dich doch.", sagte Madame Maxime auf Englisch – was Amelia sehr verwunderte.
Normalerweise sprachen sie in Beauxbatons ausschließlich Französisch, es sei denn, sie bekamen Englischunterricht von Professor Quinn, einem alten, weißhaarigen Engländer, der schon seit Jahrzehnten in Beauxbatons unterrichtete.
„Madame Maxime – guten Abend.", erwiderte Amelia höflich – ebenfalls auf Englisch.
Sie setzte sich einen Meter weiter auf einen zweiten Stuhl, direkt neben die Frau, die ihr bis jetzt noch unbekannt war.
Diese drehte sich nun zu ihr um und Amelia erschrak über die tiefen Falten, die sich über ihr Gesicht zogen. Sie trug einen Hut und darunter konnte man deutlich die grau-melierten Haare sehen, die sie streng zu einem Dutt zusammengebunden hatte. Ihre Kleidung war ein langes Gewand, welches dunkelbraun war.
„Guten Abend, Amelia.", sagte die unbekannte Frau und nickte ihr mit einem freundlichen Lächeln zu. Man hörte deutlich den englischen Akzent.
Sie erwiderte das Lächeln der alten Frau und überkreuzte zögerlich ihre Beine.
„Amelia.", begann Madame Maxime. „Darf ich vorstellen – das ist Professor McGonagall, Schulleiterin von Hogwarts."
Amelia schnappte nach Luft. Hogwarts? Das Schloss, das berüchtigte Schloss, in dem Lord Voldemort seinen letzten Atemzug tat?
Anscheinend bemerkte Professor McGonagall ihre Überraschung und lächelte ihr nochmals freundlich zu.
Verwirrte blickte sie nun zwischen den beiden Schulleiterinnen hin und her – wieso hatte Madame Maxime sie nun hierher bestellt und dazu auch noch Professor McGonagall eingeladen, die normalerweise in England hauste?
„Wie du weißt, beginnt nächste Woche das letzte Schuljahr für dich und Professor McGonagall hat mich gebeten, dir einen Vorschlag zu unterbreiten.", fuhr Madame Maxime fort und schaute die Hogwarts Schulleiterin mit einem intensiven Blick in die Augen. „Vielleicht sprechen Sie weiter, Minerva?"
Diese zuckte kurz zusammen und nickte.
„Nun gut. Ich komme im Auftrag von Professor Dumbledore, der leider letztes Jahr verstorben ist. Er hat mir jedoch einen Brief hinterlassen, den ich dir nun überreichen soll. Diesen erhielt ich letzte Nacht von einem Hauselfen, beauftragt und geschickt von ihm.", erklärte McGonagall. „Vielleicht möchtest du ihn lesen?"
Amelia nickte und ihr Magen zog sich zusammen. Was war hier los? Wieso taten die beiden Frauen so geheimnisvoll? Und was stand in dem Brief, den sie von einem Toten bekommen sollte?
Angst bereitete sich in ihre aus. Diese Situation war ihr mehr als unangenehm und sie hasste es, im Mittelpunkt zu stehen.
McGonagall bemerkte ihren wechselnden Gemütszustand nicht und griff in ihre Jackentasche. Ein abgewetzter, alter Umschlag kam hervor – mit einem Siegel von Hogwarts.
„Dieser Brief ist drei Jahre alt und sehr wichtig für dich und deine Zukunft. Ich hoffe du kannst damit etwas anfangen und entscheidest dich richtig.", sagte sie nun ruhig und geheimnisvoll und überreichte Amelia den Briefumschlag.
Madame Maxime beobachtete das Geschehen mit einem skeptischen Blick und verschränkte zurückgelehnt ihre Arme vor der Brust.
Amelia schaute verunsichert in ihre Richtung.
„Ouvrez-déjà!", sagte sie barsch auf Französisch und McGonagall bedachte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
Amelia riss vorsichtig den Umschlag auf und zog einen Zettel heraus, der auf Englisch geschrieben war.
„Liebste Amelia Lily Evans,
ich hoffe du bist wohlauf, wenn du diesen Brief liest. Vermutlich wird dich die Situation verwirren, dennoch bin ich froh dir endlich ein paar Fragen beantworten zu können. Letzten Monat habe ich von dem Tod deiner Großeltern erfahren und es tut mir sehr leid für dich. Die damalige Entscheidung, dich nach dem Tod von deiner Mutter und deinem Vater zu deinen Großeltern zu geben, ist mir nicht leicht gefallen. Dennoch war es die wohl Einzige Möglichkeit, dir ein halbwegs normales Leben zu schenken. Bis zu diesem Tage an.
Du wirst dich sicher fragen, wer deine Eltern sind und woher du kommst.
In diesem Punkt, kann ich dir eine kleine Kerze schenken, die Licht in deine Dunkelheit bringen sollte.
Deine Eltern sind Lily Evans und James Potter. Beide sind vor fünfzehn Jahren – also ein paar Monate nach deiner Geburt – eigenhändig von Lord Voldemort getötet worden, als sie im Auftrag vom ‚Orden des Phönix' Undercover arbeiteten.
Wenn du diesen Brief liest, wird mit sicherer Wahrscheinlichkeit, kein Krieg mehr herrschen und Lord Voldemort wurde hoffentlich ein für alle Mal besiegt.
Nun bist du vermutlich geschockt und hast tausend andere Fragen, die dir meine verehrte Kollegin und Freundin Minerva hoffentlich alle beantworten kann.
Der Grund, weshalb ich dir diesen Brief schreibe, ist die Tatsache, dass ich dich bitte ab nun in Hogwarts zu wohnen. Dort kannst du deinen Abschluss machen und auch deinen Bruder, Harry, kennen lernen. Dieser wird in den nächsten Tagen, nach deiner Entscheidung, ebenfalls einen Brief bekommen – das hängt aber von dir ab.
Ich stelle dich nun vor die Wahl und entschuldige mich, dich so lange im Unwissen gelassen zu haben. Wenn du dem Umzug nach Hogwarts zustimmst, wirst du ein komplett neues Leben beginnen können und deiner Herkunft auf den Grund gehen dürfen. Du wirst erfahren, wie es dazu gekommen ist, dass du zu deinen Großeltern gezogen bist und Harry bei deiner Tante Petunia aufwuchs. Dir werden hoffentlich all deine Fragen beantwortet werden, da Professor McGonagall in die Entscheidung ebenfalls miteingeweiht wurde und deine Eltern kannte.
Du hast aber auch die Entscheidung alles zu vergessen und weiterhin dein Leben in Frankreich zu leben – das liegt alleine in deinem Ermessen.
Dies ist wohl eine der wenigen Situationen in deinem Leben, in denen nun du entscheiden darfst, welchen Weg du für die Zukunft gehen möchtest.
Da du diesen Brief nun liest, nehme ich stark an, dass ich nicht mehr lebe, weshalb ich dir nun Alles Gute wünsche und hoffe, dass du dich richtig entscheiden wirst.
Draco dormiens nunquam titillandus.
Alles Liebe
Albus Dumbledore
Amelia starrte auf das Pergament und schluckte. Sie faltete es vorsichtig wieder zusammen und bemerkte erst jetzt, dass sie am ganzen Körper zitterte.
„Wie kann das sein?", hauchte sie trocken und ihr Blick war immer noch auf den Boden gesenkt.
Madame Maxime beobachtete sie mit einem neugierigen Blick und streckte ihr nun die Hand entgegen, die besagte, ihr das Dokument auszuhändigen.
Amelia hob den Kopf und starrte auf die Hand, die fordernd wissen wollte, was in dem besagten Brief von dem toten Ex-Schulleiter von Hogwarts stand.
Sie schaute in die neugierigen Augen von Madame Maxime. Eigentlich wollte sie dieses Dokument mit niemandem teilen – niemand sollte diesen Brief lesen. Dieser Brief - veränderte ihre komplette Sicht auf ihr bisheriges Leben und über diese Erkenntnis war sie so geschockt, dass ihr Tränen in die Augen traten.
Sie war also die Schwester von dem berühmten Held Harry Potter? Von Harry James Potter, der vor ein paar Monaten in der Schlacht von Hogwarts Lord Voldemort getötet hatte? Der Junge, den ihre Freundin Luna so anhimmelte?
Sie schüttelte den Kopf - den Brief immer noch festumklammert.
„Ich kann mir vorstellen, wie schwer das für dich sein muss.", sagte McGonagall neben ihr plötzlich sanft und legte beruhigend eine Hand auf ihre Schulter. „Aber ich hoffe, du entscheidest dich richtig. Ich kann dich schon heute Abend mitnehmen wenn du das willst."
Amelia schreckte hoch.
„W-was?", stotterte sie und schüttelte den Kopf. „Nein. Wie viel Zeit habe ich denn?"
Ihre Augen huschten über Madame Maxime, die nun nur noch Bahnhof verstand und ziemlich wütend Professor McGonagall anschaute, die wiederum ihre Reaktion ignorierte und sich ganz Amelia widmete.
„Am besten wäre es, wenn du dich heute entscheiden würdest. Dann könntest du dich – falls du dich für England entscheidest – in Hogwarts noch etwas einleben und wärst vor den Erstklässlern nächste Woche schon einem Haus zugeteilt. Die Formalitäten werde ich klären und natürlich werde ich auch ein Treffen mit Mister Potter arrangieren – falls das dein Wille ist.", erklärte McGonagall ruhig und schaute sie an.
Sie schluckte nochmals. Das alles war für sie wie ein Traum. Endlich würde sie die Chance bekommen, ihrer Herkunft auf den Grund zu gehen. Endlich würde sie die Chance bekommen, ihre Fragen beantwortet zu bekommen. Endlich würde sie frei sein und eine Chance haben, ihren noch lebenden Bruder kennenzulernen. Die einzige Familie die sie noch hatte.
Doch dafür müsste sie alles aufgeben – Frankreich, Beauxbatons und vor allem ihre Freundinnen. Der Gedanke daran war schrecklich – was würde nur Luna sagen, wenn sie von heute auf morgen verschwunden wäre? Sie wollten doch in den Weihnachtsferien dieses Jahr nach Spanien reisen und dort Urlaub machen – würde das alles ins Wasser fallen?
„Was ist mit meinen Freunden?", fragte sie deshalb direkt an McGonagall gewandt und diese runzelte die Stirn.
„Nun – ich weiß, dass diese dir viel bedeuten. Du darfst natürlich den Kontakt aufrechterhalten, aber könntest sie nur in den Ferien besuchen. In Hogwarts gelten etwas andere Regeln, als hier in Beauxbatons. Du würdest sie aber nicht gänzlich verlieren.", entschied sie und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Und schließlich wäre es ja sowieso nur noch ein Jahr, bis zu deinem Abschluss."
Amelia schloss für einen kurzen Moment die Augen, um ihre Gedanken zu ordnen.
Das war eine einmalige Chance. Die Chance, ihre Leben zu verändern. Den Schritt zu wagen.
„Okay.", flüsterte sie nach einer ganzen Weile des Schweigens.
Die schnelle Entscheidung war ein starkes Bauchgefühl - alles in ihr schrie danach diesen Weg zu gehen und ihrer Herkunft auf den Grund zu gehen – von ihren Eltern bis hin zu ihrer Tante und ihrem Bruder und allem anderen.
„Okay?", fragten McGonagall und Madame Maxime gleichzeitig und Amelia nickte.
„Okay. Ich werde nach Hogwarts gehen."
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