Sandkörner (Teil 3)
„Shaulee?", raunte sie ihr zur, als sie zu ihr aufgeschlossen hatte, „wer oder was genau ist der Schwarm?"
Die junge Frau musterte sie einen Moment, dann schlug sie die Augenlider nieder. „Ich vergesse immer, dass du hier nicht aufgewachsen bist." Doch sie sprach nicht weiter, sondern nahm die schmale Treppe rauf, um dem Schwarzmarkt zu entfliehen. Sie wartete, bis Nora bei ihr war und wandte sich dann in die Richtung, in der die Wege zu den gehobenen Ringen der Stadt führten.
„Du weißt ja, dass es im Endeffekt drei große Schwarzmärkte und Elendsviertel gibt – Ismir, Isantos und Isseya."
Nora nickte. Die Geschichten besagten, dass die drei Geschwister die ersten Verbrecher in Arensentia gewesen sind und angefangen hatten, ihre dunkle Kultur aufzubauen. Sie waren schon längst verstorben, doch ihre Namen waren noch in aller Munde und ihnen zu Ehren hatte man die einzelnen Viertel nach ihnen benannt.
„Und der Schwarm, wie ihn jeder nennt, ist eine Gruppe von Menschen, die diese Schwarzmärkte im Endeffekt beherrschen. Sie besitzen viel Geld, unheimlich viel Macht und Talent. Wer dazu gehört, ist ein hohes Tier innerhalb dieser Mauern in unserem Gebiet. Keanu versucht bereits seit Jahren, dort aufgenommen zu werden, aber bisher ist er immer zu ... normal gewesen."
Nora überlegte einen kurzen Moment, dann fragte sie: „Wer gehört denn dazu? Sind es viele?"
Shaulee zuckte mit den Schultern. „Es geht. Soweit ich weiß, ist Nejla ein Mitglied. Dann ein Mann namens Tuan, der wohl ein äußerst guter Giftmischer sein soll. Raissa und Siana, die Besitzer des Samowars. Gibran, der beste Heiler bei uns. Ach, und Klimper natürlich, unser Halb-Elf für alle nur erdenklichen Situationen."
„Klimper ist Mitglied?" Nora wunderte sich darüber; bisher hatte sie geglaubt, der Halb-Elf hielt sich aus allem heraus, was er nicht zu Gold machen konnte.
Shaulee lächelte sie beinahe schon mitleidig an. „Einige behaupten sogar, er sei der Anführer, weil er sie alle einst zusammengebracht hat." Gut, diese Fähigkeit besaß Klimper sehr wohl. Es schien nichts zu geben, wofür der Halb-Elf keinen Kontakt besaß und immer schien er eine Lösung für ihre Probleme parat zu haben. Das machte ihn zu einem unheimlich wertvollen Verbündeten und gefährlichen Gegner.
An Noras Ohren drang das Rauschen des großen Flusses Alaaukiki, der direkt durch Arensentia ging. Wasser war in der Wüste Mangelware, daher war es nicht verwunderlich, dass die Fünfte Große Stadt an genau diesem einzigen Fluss in der Calor-Wüste errichtet worden war. Shaulee stieg eine kleine Treppe hoch und schon kam Alaaukiki in Sicht; die Strömung war schnell und verhieß selten etwas Gutes. Damit verhindert wurde, dass Menschen in seinen dunklen Abgrund gerissen wurden, waren hohe Mauern erbaut worden, die nur durch etliche Brücken unterbrochen wurden. Der große Fluss trennte die ärmeren Viertel von den reicheren und direkt hinter ihm, ungefähr zweihundert Fuß entfernt, konnte Nora bereits die verführerischen Lichter des großen Marktes, der bei ihnen oft einfach nur als Basar bezeichnet wurde, ausmachen.
Die beiden Mädchen betraten die Brücke. Unter ihnen donnerte das Wasser gegen die steinernen Mauern und wie immer stellten sich bei Nora die Nackenhaare auf, während sie einen Fuß vor den anderen setzte, versuchend, nicht dabei zu denken, dass sie von den zerstörerischen Wassermassen nur eine verhältnismäßig dünne Schicht von Steinplatten trennte. Die Brücken selbst waren kleine Kunstwerke; die Brüstung wurde durch etliche, kleine Säulen gestützt, die sich etwa auf Hüfthöhe befanden. Sie alle waren verziert mit einem fein herausgemeißelten Lindwurm, ein Bildnis ihres Hauptgottes, Kreon. Als sie in dieser Stadt angekommen war, hatte Nora sich stundenlang vor die Verzierungen hinsetzen können, um sie zu bewundern, die feinen Reliefs mit den Fingern nachzuzeichnen und sich vorzustellen, wie wundervoll es sein musste, solche Arbeiten fertigen zu können. Zwischen den Säulen waren an dem Geländer etliche bunte Bänder befestigt, die fröhlich im leichten Wind flatterten. Da Arensentia ziemlich farblos anmutete, da die meisten Gebäude aus Lehm- oder Sandsteinen erbaut worden waren, versuchten die Bewohner alles nur Erdenkliche, um sie zu verschönern. Arensentia war farbenprächtig, auch wenn Nora gehört hatte, dass die Erste Große Stadt Amphitrite sie noch übertraf.
In regelmäßigen Abständen waren auf kleinen, steinernen Erhöhungen Öllampen aufgestellt worden, die ihren Weg in ein sanftes, flackerndes Licht hüllten. Außer ihnen waren nur wenige Menschen auf der Brücke unterwegs – Menschen, die sich langsam auf den Weg zum Basar machten, um sich dort zu vergnügen, ihr hart verdientes Gold auszugeben und sich prächtig zu amüsieren
Shaulee und Nora verließen die Brücke und ließen Alaaukiki hinter sich. Doch vor ihnen breitete sich der beleuchtete Basar aus, so prächtig, dass Nora das Gefühl hatte, sich niemals an diesen Anblick gewöhnen zu können. Überall standen kleine Häuser, dicht aneinander gedrängt, nur schmale Gassen trennten sie voneinander. Vorhänge waren über die Eingänge gehängt worden, um einen direkten Einblick zu verhindern, doch jeder konnte eintreten. Nora atmete tief ein und erschnupperte die verschiedensten Gerüche, die von brennbaren, in wertvolle Duftöle getränkte Hölzer kamen, von dem süßen Gebäck, den dünnen Teigfladen sowie die Fleischpfannen, die zubereitet und anschließend an hungrige Gäste verkauft wurden. Überall an den verschiedenen Ecken standen hohe, in sich gewundene und mit bunten Seidentüchern geschmückte Steinsäulen, auf deren Ende ein buntes Feuer flackerte, beschützt von einer wertvollen Glocke aus Glas. Sie tauchten den Basar in unterschiedliche Farben, ließen die Schatten fröhlich tanzten und spendeten ihnen genug Licht, als dass es die tausend Sterne und der Mond jemals schafften. Verschiedene Tänzerinnen hatten sich ihren Platz zum Auftreten gesucht, bekamen Unterstützung von verschiedenen Menschen, die trommelten, Flöte spielten oder auf einer Laute klimperten. Glöckchen und Fingerzimbeln rasselten und klirrten gegeneinander, erfüllten die parfümierte Luft um sie herum und brachten Nora dazu, sich wie in einer anderen Welt zu fühlen.
Abgesehen von den kleinen Geschäften waren etliche Holzstände aufgebaut; ihre Dächer stellten bunte Tücher dar und es wurde alles verkauft, was das Herz nur begehrte: Kräuter, Stoffe, Talismane und Amulette, Schmuck, Decken, Kleider, Süßigkeiten, Brot, vorbereitetes Fleisch, verschiedenste Früchte... Der Basar war jeden Abend der zentrale Punkt in Arensentia, der Ort, wo wirklich alle zusammen kamen, glücklich, dass die brütende Hitze des Mittags vorbei war und sich nun die Kühle des Abends und der Nacht zu ihnen schlich.
Nora wusste, dass jede andere Große Stadt in der Nacht schlief und tagsüber ihre Geschäfte erledigte, doch in Arensentia konnte sich das kaum jemand vorstellen. Sie alle liebten die Nacht und machten sie daher zum Tage.
Shaulee bedeutete Nora, ihr zu folgen. Das Gedränge auf dem Basar war immer groß und man konnte sich leicht aus den Augen verlieren. Und obwohl Nora Shaulees Glöckchen bei dem ganzen Lärm sowieso nicht hören konnte, war sie sich sicher, dass sie dennoch keinen Laut von sich gaben. Sie selbst versuchte auch, sich so elegant zu bewegen, schaffte es aber nur mäßig; Shaulee trainierte schon viel länger als sie und schien genau zu wissen, wie sie sich zu bewegen hatte, damit sie vollkommen lautlos durch die Menge glitt.
Die junge Tänzerin wandte ihren Blick dem Herz zu, dem Palast von Arensentia. Dort in der Mitte der Stadt erhob er sich über sie alle; ein prächtiges Bauwerk, erbaut aus strahlendem, weißen Marmor, der in der Nachmittagssonne perlmuttfarben schimmerte, unterstützt durch den beigefarbenen Sandstein; die beiden Farben harmonierten perfekt miteinander und wirkten wie die Dünen der Wüste. Der Palast bestand aus vielen, unterschiedlich hohen Türmen mit spitzen, zwiebelförmigen Dächern. Sie alle waren verbunden durch lange Gänge, die allesamt an den Seiten offen waren, nur unterbrochen von gewaltigen, drachenähnlichen Statuen, die mit ihren großen Klauen die Decken vor dem Herabstürzen hinderten. An den Türmen und den Gängen waren lange, weintraubenrote, feuerorangene und sonnengelbe Seidenbahnen gehängt worden, die im Wind träge vor sich hin flatterten und dem gesamten Palast ein noch viel erhabeneres Aussehen verliehen. Etliche Edelsteine zierten die Mauern und funkelten gemeinsam im Abendlicht um die Wette, erinnerten an das Glitzern des Sandes in der Mittagssonne. Am Haupttor war der weiße Marmor mit edlen Farben bemalt worden, zeigte ein riesiges Bild von Kreon, ihrem Gott, in seiner Lindwurmgestalt: Ein mächtiges, bronzefarbenes Wesen mit weinroten Bauchschuppen, die Flügel ledern und dick, zum Losfliegen ausgebreitet. Sein riesiges Maul war geschlossen und seine Augen wurden durch zwei große, glänzende Topase dargestellt, die, wie es aussah, jeden in der Stadt musterten und beobachteten. Nora war noch nie im Innern des Palastes gewesen, doch sie war sich sicher, dass er noch viel schöner aussehen musste, als von außen.
Eine Hand berührte sie an der Schulter.
Nora zuckte zusammen und sah sich um, blickte in Shaulees vorwurfsvolle Augen. Sittsam senkte die junge Schleiertänzerin den Blick und meinte: „Entschuldige, Shaulee. Ich bin nur immer so überwältigt von alledem!"
Shaulees Miene wurde ein wenig weicher doch ihre Stimme klang immer noch hart: „Wenn wir zu spät kommen, dann wirst du das Keanu erklären. Und jetzt komm!" Nora nickte und folgte der älteren Frau durch die Menschenmenge hindurch.
Vor einem kleinen Haus blieb sie dennoch stehen. Der Eingang war behangen mit etlichen Ketten und Amuletten, aus den Fenstern drang ein sanftes, gelb-leuchtendes Licht. Nora steckte den Kopf durch den Perlenvorhang hinein und erkannte Shirin an einem runden Tisch sitzen, die gerade darin vertieft war, in der Hand einer jungen Frau mit geröteten Wangen zu lesen. Shirin, deren feuerrotes Haar in ganz Arensentia bekannt war, hob den Kopf und ihre grünen Augen blitzten Nora freundlich zu. Auch sie stammte von zwei verschiedenen Völkern ab, was ihre erstaunlich helle Hautfarbe erklärte, doch geboren und aufgewachsen war sie hier in der Fünften Großen Stadt. Nora und Shirin hatten sich vor kurzem bei Klimper kennen gelernt und trafen sich hin und wieder im Samowar, um einen kalten Fruchttee zu genießen. Die beiden konnte man als Freundinnen bezeichnen und Nora war froh zu sehen, dass es Shirin an Kundschaft nicht mangelte.
Da Shaulee jedoch ungeduldig war, zog sie sich schnell wieder zurück und eilte der Älteren hinterher, um den Anschluss nicht zu verlieren. Sie zogen über den Basar und stiegen anschließend eine kleine Treppe weiter hinauf, um in den Ring zu gelangen, in dem sich die vermögenderen Familien und niederen Adeligen niedergelassen hatten. Mit einem Mal schien sich ihre Welt erneut zu verändern; Nora und Shaulee ließen die Lichter, Düfte und Lieder hinter sich, und tauchten stattdessen in dunklere, stillere Gassen ein. Es war ein Unterschied wie Tag und Nacht und machte nur noch viel mehr deutlich, dass sich das Leben auf dem Basar, und nur auf dem Basar, abspielte.
Baron Khasib von Kleora hatte ein kleines Haus recht nahe am Basar gemietet. Die beiden jungen Frauen gingen nur wenige Fuß weit, ehe Shaulee stehen blieb und die rot angemalten Lehmsteine betrachtete, aus denen das Gebäude errichtet war. Hier besaßen die Fenster richtige Scheiben, die die Hitze des Tages davon abhielten, in das Haus zu gelangen und Nora betrachtete die filigranen Zeichnungen auf dem Glas, die mit akkurater Genauigkeit angefertigt waren und verschiedenste Landschaften der Sonnenlichtwüste zeigten.
Shaulee zog an einer Schnur, die neben der Tür befestigt war und im Innern erscholl eine Glocke. Nora hielt den Atem an und binnen weniger Wimpernschläge wurde die Tür geöffnet und ein hagerer Diener stand vor ihnen. Er trug eine traditionelle, samtweiße Robe und nur ein Symbol auf seiner Brust – eine Echse mit geöffnetem Maul – offenbarte seine Zugehörigkeit zum Baron von Kleora.
„Ihr müsst die Schleiertänzerinnen sein", meinte der Diener und musterte sie von oben bis unten, ehe er einen Schritt zurücktrat, um sie einzulassen. Seine Stimme klang höflich, jedoch schon beinahe empörend desinteressiert und Nora fragte sich, ob er wohl irgendetwas zu sich nahm, dass er so auf sie beide reagierte.
Das Innere des Hauses war angenehm kühl und Nora genoss das sanfte Prickeln auf ihrer Haut. Shaulee erschauderte ebenfalls wohlig und sah sich in dem Haus aufmerksam um. Es war klein, schon beinahe zu klein für einen Baron, besaß nur zwei Etagen und schien recht einfach aufgebaut zu sein. Sie standen in einem kleinen Raum, von dem aus gesehen drei Flure abgingen. Der Diener deutete in den rechten Gang und meinte: „Dort könnt Ihr euch fertig machen und ankleiden. Ich werde später wieder nach euch sehen kommen." Damit drehte er ihnen den Rücken zu und verschwand mit gestelzten Schritten. Shaulee verschränkte die Arme vor der Brust und schnalzte unzufrieden mit der Zunge; sie hasste solche Behandlungen doch sie wusste auch, dass sie sich nicht beschweren durfte, wenn sie wollte, dass Keanu weiterhin Aufträge für sie bekam.
„Dann komm", forderte sie Nora schließlich auf und schlich den Flur entlang. Die Böden waren mit dicken, weichen Teppichen ausgelegt und selbst Nora schaffte es, ohne einen Laut von sich zu geben, Shaulee zu folgen. In die Wände waren einzigartige Reliefs eingemeißelt worden, Bilder von Drachen, Rittern, Zwergen und Elfen, die anscheinend eine ganze Geschichte erzählten. Nora war versucht stehenzubleiben und sie genauestens zu studieren, doch Shaulee packte sie am Handgelenk und zerrte sie weiter. Dennoch entging der Schleiertänzerin nicht, dass sich ihre ältere Freundin forschend umsah, bis sie zu der Tür am Ende gelangten.
Shaulee trat als Erste hinein und meinte dann mit Wohlwollen in der Stimme: „Nun, das ist nach meinem Geschmack."
Nora linste über ihre Schulter und bekam große Augen.
Der Raum vor ihr war geschmückt mit etlichen Kissen und Divanen, auf denen man sich gemütlich ausstrecken konnte. Von der Decke hing ein riesiger Kronleuchter, dessen Kerzen ein sanftes, warmes Licht auf sie warf. In einer Ecke stand ein großer Tisch mit einem Spiegel, der auf Hochglanz poliert war und das Licht zu ihnen reflektierte.
Aber am besten war die in den Boden eingelassene Badewanne, in der heißes Wasser dampfte und verführerisch nach Rosen duftete, sie regelrecht dazu einlud, sich zu entkleiden und in die sanft spielenden Wellen einzutauchen. Auf einem kleinen Tisch neben dem Beckenrand standen Schalen mit Nüssen, Früchten und aufgeschnittenem Brot, sowie ein paar kugelrunde Schokoladenpralinen, bei denen Nora sich fragte, ob er sie wohl aus Collis hatte liefern lassen, denn solche Köstlichkeiten waren in dem immerheißen Arensentia kaum zu finden. Langsam und vorsichtig trat Nora ein, schob ein paar Decken und Kissen beiseite und freute sich endlich über diesen Auftrag. Sie hatte schon von schlimmeren Umständen gehört und war erleichtert, dass bei ihrem ersten Tanz wohl für ihr Wohlergehen gesorgt wurde.
Shaulee war bereits dabei, sich ihre Kleidung auszuziehen und in die dampfende Wanne zu steigen. Nora tat es ihr nur wenige Wimpernschläge später nach und während sie im Wasser lag und sich den Staub und den Sand von ihrer Haut schrubbte, meinte Shaulee: „Ich kenne diesen Khasib nicht, aber er scheint mir recht ordentlich zu sein."
„Und wohlhabend", fügte Nora hinzu. „Wieso lebt er dann in diesem verhältnismäßig schlechtem Viertel?"
Shaulee griff nach einer Praline und ließ sie sich genüsslich auf der Zunge zergehen.
„Er ist neu in Arensentia und darf noch nicht in den Ring des Hochadels einziehen", erklärte sie, als wäre das selbstverständlich. „Komm her, ich kämme dir deine Haare durch."
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