Kapitel 7
Es war früher Abend und obwohl dort in den Bergen noch Schnee lag, würde dieser in den nächsten drei Wochen schmelzen. Der Sommer nahte und nicht mal so weit oben in den Bergen konnte man das übersehen.
Vor allem weil es später dunkel wurde. Im Dezember wäre es inzwischen längst dunkel, versicherte ihr Rosalia, doch nun hatten sie noch Zeit etwas weiter weg zu wandern. Man weckt Wölfe nie zu nah an Häusern oder Menschen, es war meist zu unberechenbar. Ivaine konnte das verstehen, wenn auch noch nicht nachvollziehen.
Sie wurde warm angezogen, allerdings auch netter als die Tage zuvor. Statt einer Jeans trug sie eine enganliegende, gebügelte Stoffhose in einem dunkeln Rot, sowie einen hellen Pullover, der in so einen tiefen V-Ausschnitt endete, dass man eindrucksvoll das verzierte, rötliche T-Shirt drunter sehen konnte. "Für uns ist die erste Verwandlung eine große Sache", erklärte ihr Rosalia alles, während sie Ivaines Haare glätte, "Man wird erwachsen gewissermaßen, die Lehrer nennen sie dann zwar meistens Welpen, doch Welpe sein ist besser als gar nichts" Ivaine ließ sie reden, es schien Rosalia zu beruhigen, wenn sie sich um Ivaine kümmern konnte und das Gefühl hatte sie beruhigen zu können.
Doch das einzige, woran sie dachte war die Unterwäsche die man sie angewiesen hat zu tragen, ein Bandaeu-Top und eine weiße, dicke Kurze Hose, die eher an Bikershort erinnerten
"So, das durfte reichen", murmelte Rosalia fast bedauernd. Ihr Lächeln wirkte nur noch aufgesetzt.
"Warum bist du so besorgt?", fragte Ivaine doch noch, "Es kann wehtun, aber ich meine... Danach werde ich ehe ohnmächtig?" Sie legte verwirrt den Kopf schief. Verschweig man ihr ein Teil dieser Verwandlung?
Rosalia musste ihre Sorgen erahnt haben und schüttelte augenblicklich den Kopf. "Du hast natürlich recht, die Schmerzen werden vergehen. Es ist nur so... Immer bei solchen Erweckungen habe ich das Gefühle, dass man Kinder dazu zwingt frühzeitig erwachsen zu werden. Ich meine, du bist 17!, nicht wahr? Auch wenn deine Eltern keine Gestaltwandler sind, lange könnte es sowieso nicht mehr dauern..."
Die Tatsache, dass Ivaine sich schon bei ihren Eltern in einen überdimensionalen Wolf verwandeln hätte können machte ihr ernsthaft Angst. Wie wäre sie damit bitteschön umgegangen? "Ich bin erwachsen und ich befürchte die Zeit haben wir nicht, so wie Rafael klang..."
Rosalia presste nickend die Lippen aufeinander. "Da hast du wohl recht"
Diesmal war es Rosalia, die sie zu der Garderobe neben den Eingangsbereich brachte und wartete bis sie sich anzog. "Pass auch, dass du deine Frisur nicht zerstörst. Wir machen da Fotos. Deine Familie kann natürlich nicht dabei sein und wahrscheinlich realisierst du nicht ganz die Wichtigkeit, aber ich glaube, dass du dich über eine Erinnerung freuen wirst" Ivaine nickte überfordert. Fotos waren auch das Letzte, an was sie gerade dachte.
Es kamen so viel mehr Menschen mit als erwartet. Am erstaunlichsten war es Aarons Gesicht zu sehen. Aaron war der Letze von den Neuen, der immer mit Rafael abhing und als deutlich umgänglicher galt.
So schien es auch Ivaine. Obwohl er sie nicht allzu lange beachtete, grinste er ihr zuversichtlich zu, versicherte, dass der Bluttest in Ordnung ist und unterhielt sich dann kurz mit Rosalia darüber ob sie in der Nähe bleiben wollte.
Am Ende einigten sie sich darauf Rosalia zwischen Ben und Nick zu platzieren.
Wer Ben war wusste Ivaine nicht, doch neben Nick kam sie ihr ziemlich sicher vor. Sie hatte gesehen wie geschickt er auch mit größeren Gegnern umgehen konnte.
"Alles bereit?", fragte Rafael, sobald sich die Gruppe vor der Hütte versammelt hatten.
"Alles soweit in Ordnung", antwortete ein älterer Mann. Er musste über fünfzig sein, doch sein Haar wirkte noch immer gold-blond und er stand aufrecht und stolz da. "Sucht die Umgebung zu allen Zeiten ab, wir wollen keine Menschen in der Nähe haben.
Nick, Aaron, Gregor, Maria, Odette, euch möchte ich gerne schon verwandelt sehen"
Dieser Mann hatte hier das Kommando, realisierte Ivaine mit Staunen, sicher nicht Rafael. Dieser wirkte nämlich wenig begeistert, wie er da mit verschränkten Armen und missmutiger Miene neben den Mann stand. Allerdings schien er auch nicht Einspruch erheben zu wollen.
"Das ist Benedict, Liebes. Mein Gefährt und der aktuelle Beta. Zurzeit führt er offiziell das Rudel und bei solchen Anlässen muss das deutlich werden" Rosalia flüsterte so leise, dass Benedict weiterhin Befehl verteilen konnte und die genannten Personen sich schnell bis auf die Ivaine bereits bekannten weißen Hosen und Bandeaus aus.
"Los geht's!", rief Ben sobald die Wölfe wie eine Art Garde um sie herum standen.
Sechs Leute waren nun noch anverwandelt. Sie und Rosalia natürlich, dazu Ben und Rafael und zwei weitere Kriegerinnen. Eine etwa einen Kopf kleiner als Ivaine, mit kurzgeschnittenem, hellem Haar um die zwanzig, daneben eine Frau von vielleicht Mitte zwanzig, muskulös, mit dunkler Haut und hohem Dutt. Ivaine wusste nicht, ob sie vielleicht eine hohe Stellung hier hatten oder einfach als weitere Sicherheitsmaßnahme dabei waren.
Daraus ließ sich auch die Frage schließen, ob Ivaine vor etwas verteidigt werden musste oder der Rest vor Ivaine.
Die Wanderung dauerte lang. Der Himmel verfärbte sich rot, dann lila und schließlich dunkelblau. Die Sonne verschwand hinter dem Horizont, doch noch war es nicht völlig dunkel. In letzter Sekunde, kurz bevor die Dämmerung ein Ende finden konnte, hielt Benedict an.
Sie waren auf verschlungenen Pfanden immer höher auf den Berg gestiegen. Hier war alles Schneebedeckt und würde es wohl auch bleiben, denn es schneite erneut und ein bitterkalter Wind pfiff zwischen den Steinen und der minimalen Vegetation.
Alleine würde Ivaine nie den Weg zurück zu Hütte finden, wahrscheinlich war das auch die Idee. "Sucht die Umgebung ab! Ivaine, wenn du dich umziehen würdest?", er nickte Ivaine freundlich zu und reichte Rosalia den Rucksack, denn er nach oben getragen hatte.
"Da, hinter den Felsvorsprung sieht dich keiner" Rosalia deutete auf einen spitzen Stein, der zwei Meter aus dem Schnee ragte und schob sie darauf hin
"Umziehen...?" "Ach, das Foto!", sofort kramte Rosalia im Rucksack nach einer Kamera und ehe sich Ivaine versah hatte sie wohl ein Bild, mit dem Sonnenuntergang als Hintergrund. Rafael hatte sie dabei beobachtet und schütteltet unverständlich den Kopf.
Ivaine gab ihm recht. "Und jetzt los Liebes"
Da fiel auch bei ihr der Groschen und sie erinnerte sich wieder an die Unterwäsche, die sie tragen musste. Der Zweiteiler war überraschend dick, dementsprechend elastisch und so gemütlich, dass Ivaine ihn völlig vergessen hatte.
"In die Unterwäsche? Aber es ist viel zu kalt hier", jammerte sie Rosalia zu. Es war doch schon zu kalt, um Handschuhe abzunehmen, wie sollte man sich bitte ausziehen? Auch noch in so wenig. Ivaine lief allein beim Gedanken daran rot an, vielleicht in dem Outfit bleiben zu müssen, vor dem Rest zu treten.
Zum Glück war Rosalia eloquenter als das. Entschieden legte sie Ivaine die Hände auf die Schulter, ihr Blick war eindringlich und suchte Ivaines. "Die Kälte wird dich die paar Sekunden nicht umbringen. Das hier gehört zur Tradition. Manchmal müssen sich bestimmten Gestaltwandler früher verwandeln, das war schon immer so. Wie du mussten sie eben frühzeitig einer Pflicht nachgehen und obwohl wir vieles nicht mehr so machen wie zuvor, haben wir doch Prinzipien.
Früher fand dieses Prozedere komplett ausgezogen statt. Es war ein Zeichen von Verletzlichkeit. Verletzlichkeit, die wir mit der Verwandlung in den Wolf ablegen. Heute gestatten wir uns wenigstens noch diese Dinger, doch für dich wird es dieselbe Bedeutung haben. Sei verletzlich, um stärker zurückzukommen" Sie hielt Ivaine den Rucksack hin, damit sie ihre Klamotten dareinräumen konnten und strich ihr dann eine Strähne aus dem Gesicht.
Ivaine erkannte sofort was das auch bedeutete. Zog sie sich jetzt nicht aus, würde sie keinen Wolf bekommen. Unschlüssig blickte sie an sich herunter.
Es war fast lächerlich, dass ihr Scham sie so einnehmen konnte und noch lächerlicher war, dass ihr Instinkt ihn überwinden konnte.
"Schwach sein, um stärker zurück zu kommen",
murmelte sie sich selbst zu, biss die Zähne zusammen und zog nacheinander Jacke, Pullover, T-Shirt und schließlich die Hose aus.
Gerade als sie diese auch in den Rucksack verstaute, schritt ein Wolf um den Vorsprung herum. An der Statur und dem dunklen Fell erkannte Ivaine Nick - oder eben Nicks Wolf - der seine Mutter eindringlich anblickte. "Es wird Zeit", verkündete sie daraufhin leise. Sorgsam ordnete sie die Klamotten in der Tasche und zog den Reißverschluss zu.
"Ich lasse sie dir in der Garderobe, damit du sie wieder anziehen kannst", versprach sie und nickte Ivaine gewissenhaft zu. "Hab keine Angst, schreite selbstbewusst raus, sobald dich das Mondlicht trifft. Verletzlich, aber mutig" Mit einem letzten Lächeln folgte sie ihrem Sohn um den Vorsprung herum und Ivaine fragte sich unweigerlich, wann der Mond endlich auf sie scheinen würde.
Es war kalt, so kalt, dass es erneut brannte. Die Haare, die sie sich vor die Schultern schob, boten nicht viel Wärme und Ivaine war sicher, ja geradezu entschlossen, dass sie sich hier draußen etwas abfrieren würde.
Es konnte nicht sein, nicht so normal sein, freiwillig in der bittern Kälte zu stehen. Sie war vielleicht doch bloß ein dummes, naives Mädchen. Dazu verrückt und völlig durcheinander, ein Idiot, der am Ende in einer Psychiatrie landen muss, weil sie an all das hier glauben wollten, an all das...
Und dann ging der Mond auf.
Es war ein seltsamer Mondaufgang, Ivaine kam es so vor, als würde er einfach hinter einem Berggipfel hervortreten, viel heller und plötzlicher, als gewohnt.
Das silberne Licht des Mondes traf auf sie und unerfindlicher Weise war ihr nicht mehr kalt. Plötzlich war es mitten auf diesen Schneebedeckten Berg gerade zu warm und all ihre Zweifel, sogar ihre Scham waren wie weggewaschen.
Erfühlt von dieser Wärme, die kein Schnee schmelzen zu können schien, aber eben Ivaine aufmuntern, erinnerte sie sich an Rosalias Wort.
Hinter den Vorsprung treffen. Verletzlich, aber entschlossen?
Unwichtig, beschloss Ivaine, sprich sich die Haare aus dem Gesicht und hob das Kinn. Das Mondlicht erhellte sie wie ein Scheinwerfer einen Künstler der die Bühne betritt.
Dieses Hochgefühl war wunderschön, doch auf jedes Hoch folgte ein Tief.
Die Wölfe warteten auf sie, auf den kleinen Pfand, den sie bereits hier hin gefolgt waren.
Felle und glühende Augen überall um sie herum, allesamt angespannt und kampfbereit.
Bloß Roaslia und die dunkelhäutige Frau war noch unverwandelt, allerdings nahm Ivaine diese kaum wahr.
Sie nahm nur ihn wahr, diesen großen, riesigen Wolf. Silbergrau, die selbe Farbe wie das Mondlicht, welches ihn anschien, und glühende, grüne Augen, die, so glaubte Ivaine, bis in ihre Seele blicken konnten.
Plötzlich fühlte sie sich alles andere als mutig. Sie fühlte sich nackt. Nackt und klein. Völlig verletzlich, auf die schäumendste Art die ihr einfiel und sie wollte schnell die Arme vor der Brust verschränken.
Da knurrte der graue Wolf plötzlich, ganz so als habe er ihre Gedanken gelesen und wollte sie nun warnen.
Gebeugt schlich er auf Ivaine zu, knurrte und zeigte seine spitzen Eckzähne, doch Ivaine rührte sich nicht. Sie trat nicht zurück, sie verschränkte die Arme nicht mehr.
Dieser Wolf war es, er kam in ihrer Vision vor und unerfindlicher Weise glaubte – nein, Ivaine wusste, dass er sie nicht verletzen wollte.
Und dann hechte er nach vorne und grub seine Zähne in Ivaines Oberarm.
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