Kapitel 10: Falsche Annahmen
Estel war schon durch zahlreiche Gänge des Palastes gelaufen, doch statt seinen Kopf freizubekommen, wie er es eigentlich wollte, hatte er die ganze Zeit nachgedacht.
Gedankenverloren bog er um die nächste Ecke des Ganges und plötzlich kam ihm der Elb entgegen.
„Legolas! Wo warst du?", fragte der Mann und ging auf ihn zu. Legolas war komplett nass, seine Kleidung tropfte und seine Haare klebten schwer an seinem Gesicht.
„Ich war draußen im Wald", antwortete er knapp.
„Im Regen?" Der Elb nickte.
„Legolas, kannst du mir bitte erzählen was dich bedrückt? Es schmerzt mich, dich so niedergeschlagen zu sehen", fragte Estel mit ruhiger Stimme und versuchte dem Blick des Prinzen zu begegnen, der seinen Kopf aber gesenkt hielt.
Kurz war es still. Legolas wusste nicht was er antworten sollte oder ob er überhaupt antworten sollte. In seinem Kopf malte er sich gerade hunderte Szenarien aus, was passieren könnte, wenn er Estel die Wahrheit erzählen würde.
„Estel, ich kann nicht, es tut mir leid...", flüsterte er. Der Mann seufzte. Er wusste nicht, wie er den Elben dazu bringen sollte, sich zu öffnen.
Legolas drehte sich um und wollte in die andere Richtung weiterlaufen, als eine Hand auf seiner Schulter ihn aufhielt.
„Bitte, Legolas, sprich mit mir", sagte er und hoffte darauf, dass er nun eine Antwort bekommen würde.
„Estel, du verstehst nicht, ich kann nicht", gab der Prinz leise von sich, mit den Worten seines Bruders im Kopf.
„Wieso nicht? Legolas, du musst dich öffnen, wenn du weiter alles in dich hineinfrisst wirst du davon erdrückt werden", sprach er ruhig.
„Ich kann einfach nicht, versteh es doch! Lass mich einfach in Ruhe, Estel!", schrie Legolas und rannte von ihm weg. Tränen liefen aus seinen Augen. Er wollte Aragorn nie anschreien. Der Mann kümmerte sich um ihn und wollte ihm helfen, so etwas hatte er nicht verdient. Am liebsten wäre Legolas zurückgelaufen und hätte sich entschuldigt, aber er konnte nicht.
In seinem Zimmer angekommen schlug er die Tür zu und sank an der Wand zu Boden. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen und ließ die Tränen einfach fließen.
Sein Herz fühlte sich an, als ob es brechen würde. Die Worte seines Bruders durchbohrten sein Inneres, aber er wusste, es war die Wahrheit. Jetzt waren es nicht nur sein Vater und Otherion die ihn hassten, sondern auch noch Estel, den der Elb so unendlich liebte.
Er wusste nicht, wie lange er so an der Wand seines Zimmers saß und sich weiter von dieser Last erdrücken ließ. Auch wenn er daran dachte, was sein Bruder sagte, war ihm die Freundschaft zu Aragorn viel zu wichtig, als dass er sie einfach zerstören könnte, er brauchte Estel einfach, also stand er auf und ging aus dem Raum, um sich bei ihm zu entschuldigen.
Der Mann stand immer noch auf dem Flur. Er wusste, dass Legolas es nicht so gemeint hatte, aber warum war er plötzlich so abweisend? Mit der Hand fuhr er sich durch sein kastanienbraunes Haar und seufzte. Er beschloss zurück in sein Zimmer zu gehen und sich wieder den Büchern zu widmen, mit der Hoffnung sich diesmal besser konzentrieren zu können.
Estel setzte sich an den Schreibtisch und griff nach dem obersten Buch des kleinen Stapels. Der Einband war aus weinrot gefärbtem Rehleder gefertigt, die Schrift mit Blattgold geschrieben. Es war ein Buch über die Geschichte Mittelerdes im zweiten Zeitalter, Elrond hatte es geschrieben. Seine charakteristische Handschrift mit elbischen Buchstaben zierte das dicke Pergament.
Er blätterte einige Zeit durch die Seiten und überflog die Schrift, bis er plötzlich ein Klopfen an der Tür hörte. Estel stand auf und drückte die eiserne Klinke nach unten. Zu seiner Überraschung stand Legolas vor der Tür. An seinen Wangen waren noch silberne Spuren zu erkennen, er musste geweint haben.
„Estel, ich bin hier, um mich zu entschuldigen", sagte er mit leiser Stimme. Nach einer Geste des Mannes betrat er den Raum und setzte sich auf einen der Sessel, den Blick gesenkt.
Aragorn nahm gegenüber von ihm Platz. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht anschreien, es war falsch von mir", fuhr der Elb fort.
„Es gibt nichts, was dir leid tun müsste, Legolas, auch ich habe mich falsch verhalten, ich hätte dich nicht so bedrängen sollen", antwortete der Mann sanft.
„Nein hast du nicht! Du wolltest mir nur helfen und ich habe dich dafür abgewiesen. Das war mein Fehler, nicht deiner, Estel, gib dir nicht die Schuld! Aber ich muss dir etwas sagen...", begann er und hielt inne.
Der Elb schluckte. Er hatte sich vorgenommen es jetzt zu sagen. Er musste es einfach tun, entweder jetzt oder nie.
Unruhig biss er sich auf die Lippe. Legolas wollte seinen Mund aufmachen und es sagen, doch die Laute wollten seine Lippen erneut nicht verlassen. Estel musterte ihn mit erwartungsvollem Blick.
Wieder spielten sich zu viele Szenarien in seinem Kopf ab. Gerade hatte er sich bei dem Mann entschuldigt und er hatte es ohne Probleme angenommen. Was, wenn er damit alles wieder zerstören würde? Niemals würde er diese Freundschaft auf das Spiel setzen wollten.
Legolas blickte starr auf den Boden. Schließlich brachte er doch ein Wort heraus.
„Estel...", begann er. Nochmals versuchte er tief durchzuatmen. Wieso fiel es ihm so schwer diese Worte auszusprechen? Es war die Angst vor den Konsequenzen, die er hatte. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
„Estel, ich glaube ich...", fügte er hinzu. Der Mann wollte erst etwas antworten, doch ehe er das konnte beendete der Elb seinen Satz.
„liebe dich..." Der Prinz hielt seinen Blick nach unten gerichtet. Einige Sekunden vergingen, in denen er keine Reaktion bekam.
Estel saß da, und fragte sich, ob er das gerade richtig verstanden hatte. Legolas liebte ihn? In diesem Moment war er zu überwältigt, um etwas darauf zu sagen.
Legolas hatte also recht gehabt, natürlich würde der Mann es nie erwidern, wie hätte er auch daran denken können?
„Es tut mir leid, vergiss was ich gesagt habe, es tut mir leid", sagte er schnell und stand auf, um das Zimmer sofort zu verlassen.
Aber Estel packte ihn am Handgelenk. Erstarrt blieb er stehen und schaute weiterhin nach unten. Der Mann stand auf und stellte sich vor den Elben. Jetzt blickte Legolas doch nach oben. Er konnte den Gesichtsausdruck seines Gegenübers nicht deuten, zu viele Emotionen zeigte er gleichzeitig.
Etwas unsicher schaute er zwischen den beiden mondgrau-funkelnden Augen hin und her, bis der Mann sich plötzlich vorbeugte, eine Hand an Legolas' Wange legte und ihre Lippen verband.
Durch den Körper des Elben strömte plötzlich eine wundervoll prickelnde Wärme. Er schlang seine Arme um Estels Hals und schloss seine Augen, um sich nur auf die Empfindungen zu konzentrieren.
Dann löste sich Estel von ihm, ließ seine Hand in das weiche blonde Haar gleiten und blickte in die saphirblauen Augen von Legolas.
Die ganzen Sorgen, die er davor gehabt hatte waren alle weg. Dieser Moment war fast zu schön, um wahr zu sein.
„Estel, ich liebe dich", wiederholte er dann leise, diesmal war kein Funke Unsicherheit mehr in seiner Stimme.
Der Mann lächelte und antwortete mit einem sanften Kuss. „Ich dich auch, Legolas", flüsterte er und fokussierte wieder die liebevoll glitzernden Augen. Schließlich schlang er seine Arme um die Taille des Elben, der seinen Kopf in Estels kastanienbraunem Haar verbarg.
In der Vergangenheit hatten sie schon viele Umarmungen geteilt, aber diese war anders. Sie war viel intensiver, in ihnen breitete sich ein unglaubliches Gefühl aus, das sie nie wieder loslassen wollten.
„Ich wollte es dir schon so lange sagen, aber ich habe nie den richtigen Zeitpunkt gefunden... Nie hätte ich gedacht, dass du genauso fühlst", sprach Aragorn und strich sanft durch die goldenen Haarsträhnen des Prinzen.
„Das tue ich schon seit so langer Zeit... Ich hatte Angst unsere Freundschaft zu zerstören, mit diesen Worten... Ich hätte es nicht über mein Herz gebracht, dich zu verlieren, wahrscheinlich hätte ich es nie offenbart und diese Gefühle mein restliches Leben unterdrückt... Aber offensichtlich lag ich falsch mit meiner Annahme", gab Legolas zurück und lehnte sich nah an den Mann.
„Und wie... Ich hätte dich niemals abgewiesen, Legolas, ich werde immer an deiner Seite sein und wenn du mich brauchst, werde ich dir helfen, immer", antwortete Estel mit liebevoller Stimme, aus der die Wahrheit und Aufrichtigkeit seiner Worte eindeutig zu erkennen war.
Diese Sätze berührten den Elben und er konnte nicht anders, als mit einem weiteren zarten Kuss gleichermaßen zu antworten. „So wie ich auch immer bei dir sein werde, Estel, bis an das Ende der Zeit", flüsterte er und strich mit seinen Händen über die Arme des Mannes, bis sich ihre Finger verschränkten.
„Willst du heute mit bei mir bleiben?", fragte Estel dann vorsichtig. Legolas hob seinen Kopf und nickte mit einem Lächeln. Der Mann erwiderte und legte einen weiteren Kuss auf die rosigen Lippen.
Dann teilten sie sich noch ein kleines Abendessen, was ihnen ein Diener brachte. Nachdem sie die verschiedenen elbischen Spezialitäten aufgegessen hatten, gingen sie ins Bett.
Legolas legte seinen Kopf auf Estels Brust. Sein Ohr lag genau über dem Herzen des Mannes und bei jedem beruhigenden Schlag breitete sich eine neue Welle prickelnder Wärme in seinem Körper aus. Estel schlang seine Arme um seine Taille und hielt den Elben fest an sich. Er strich sanft über seine Wange und das blonde Haar und lockerte die geflochtenen Strähnen leicht mir seinen Fingern. Legolas lächelte und schaute auf. Er legte eine Hand an die bärtige Wange des Mannes und küsste ihn noch einmal sanft.
„Losto mae, meleth nîn (Schlaf gut, meine Liebe)", flüsterte er und schmiegte seinen Kopf wieder an Estels Schulter.
Es dauerte nicht lang, bis er aus Erschöpfung und den sanften Liebkosungen auf seinem Kopf einschlief.
Estel betrachtete den schlafenden Elben noch eine Weile, bis auch er seine Augen schloss. Niemals hätte er erwartet, das so etwas wie heute passieren würde. Es wirkte fast surreal, dass ein Elbenprinz wie Legolas sich in einen einfachen Waldläufer verliebte.
Zugegeben war Estel, oder Aragorn, zukünftiger König Gondors und damit definitiv kein einfacher Waldläufer, aber er wollte diesen Titel nie. Vielmehr liebte er es unabhängig zu sein, herumzureisen und die Natur zu genießen, als stundenlang in ewigen Ratssitzungen zu verbringen.
Besonders lang war es nicht her, seitdem er von seinem Titel wusste. Damals sagte ein Pflegevater auch noch, dass er unsterblich wäre. Elrond hatte es ihm vor etwa fünf Jahren erzählt, damals dachte er zuerst, es wäre ein Scherz. Nur die Tatsache, dass der Lord Bruchtals so gut wie nie Witze machte, ließ es ihn glauben.
Seine Mutter war, anders als es viele dachten, eine Elbin und sein Vater einer der Dúnedain, damit war er ein Halbelb. Als Estel noch ein Kind war, war sich Elrond in Hinsicht auf die Unsterblichkeit nicht sicher, jedoch besaß er einige Gaben, wie die überragende Kampfkunst, die ein Sterblicher niemals erreichen könnte. Nur seine Alterung verlief anders, als die der Elben: Er wurde schneller Erwachsen, etwa doppelt so schnell wie es Elben normalerweise werden, was auf das Dúnedain-Blut zurückzuführen war, aber sein Geist ist dennoch ewig.
Seit diesem Tag hatte unterrichtete Elrond ihn in weiteren Bereichen und gab ihm dutzende Bücher, darunter viele über die Geschichte Mittelerdes in den verschiedenen Zeitaltern oder Wissenschaften wie Heilung. Kämpfen konnte er auch vorher schon außerordentlich gut, mit dem Schwert konnte ihn kaum jemand schlagen. Seine Brüder Elladan und Elrohir, die Söhne Elronds, brachten ihm die Kunst des Schwertes bei, er lernte schnell, was die beiden Elben sehr faszinierte.
Legolas war es, der ihm das Bogenschießen zeigte. Estel beherrschte es einigermaßen, war aber bei weitem nicht so gut wie der Elbenprinz des Düsterwaldes. Legolas war der erste außerhalb Bruchtals, dem er von seinem Titel und der Unsterblichkeit erzählte und er war anfangs genauso überrascht davon.
Er fand immer, dass Estel ein wirklich guter König sein würde. Er war stark, sowohl im Kampf als auch mental, unglaublich intelligent und besaß ein großes Herz – alles Eigenschaften, die man sich von einem König nur wünschen konnte. Zudem war er nicht nur nach der Hoffnung benannt, sondern machte diesem Namen auch alle Ehre.
Und jetzt lag er da, mit dem Elbenprinzen in seinen Armen und war glücklicher, als an allen Tagen zuvor. Er konnte nicht beschreiben, wie viel Liebe er für Legolas empfand.
Estel war froh, das der Elb seine Hilfe annahm. Er würde alles in seiner Macht stehende tun, um dem, der ihm das angetan hat, ausfindig zu machen und ihn für seine grausamen Taten zu bestrafen. Er wusste zwar, dass Legolas ein Krieger war und es hasste Tränen zu vergießen, doch egal wie sehr er sich dagegen zu sträuben versuchte, auch der stärkste musste manchmal weinen.
Niemals könnte Aragorn den Elben dafür verachten, für ihn waren Tränen kein Zeichen für Schwäche, sondern im Gegenteil. Und Legolas war alles andere als schwach.
Er kämpfte mit Entschlossenheit und Stärke und hatte ein großes Herz. Schon das ein oder andere Mal hatte er sein Leben für andere auf das Spiel gesetzt, um sie zu retten. Einige Male auch das von Estel. Ohne den Elbenprinzen wäre er nicht mehr am Leben.
Er hielt den Elben fest gegen seinen Körper und schlief dann ebenfalls ein. Seine Wange hatte er an den goldenen Kopf gelehnt und seine Arme umschlossen Legolas an der Taille.
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Zur Information: Ich habe hier in der Geschichte Aragorn von Anfang an das Geschenk der Unsterblichkeit gegeben, somit ist er, wie Elrond, ein Halbelb (seine Mutter ist in meiner Geschichte eine Elbin, deshalb hat sie Aragorn als er klein war auch nach Bruchtal gebracht).
Die Valar ließen Elrond und seinen Bruder Elros (sowie auch seine Kinder Arwen, Elladan und Elrohir) zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit wählen, weil sie sowohl elbisches und menschliches Blut besitzen.
Man kann es also so sehen, dass Aragorn wegen seines großen und bedeutenden Schicksals in dieser Geschichte ebenfalls vor diese Wahl gestellt wurde, und er sich, gleich wie Elrond, für das ewige Leben entschloss. Ich habe das in den Text nicht mit hineingeschrieben, aber dafür hier versucht, es zu erklären.
Ich hoffe, dass das jetzt nicht zu verwirrend war 🙃😂
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