kapitel 38 : tod der seele
Libitina kam langsam zu sich, ihr Bewusstsein trieb wie ein Blatt im Wind zwischen Wachsein und Dunkelheit. Ihr Kopf dröhnte, ein dumpfes, hämmerndes Echo, das ihr jeden klaren Gedanken raubte. Kalte Feuchtigkeit drang durch ihre Kleidung, die sich unangenehm an ihre Haut presste. Der metallische Geruch von Feuchtigkeit und Rost lag in der Luft, mischte sich mit einem schwachen Hauch von Verwesung.
Sie trug immer noch das, was sie vor Stunden, vielleicht Tagen angehabt hatte: ein einfaches, helles Kleid mit Spitzenbesatz, das jetzt durch Nässe und Schmutz schwer an ihr hing. Der Saum war zerrissen, die einst cremefarbene Seide durch Schlamm und Blut fleckig geworden. Ihre nackten Füße fühlten den kalten, feuchten Boden, als sie versuchte, sich zu bewegen. Doch etwas hielt sie zurück.
Ein plötzlicher, stechender Schmerz schoss durch ihre Handgelenke. Sie blickte nach unten und erkannte, dass grobe Lederbänder ihre Arme an die Lehnen eines Stuhls banden. Sie war gefesselt – Arme und Beine gleichermaßen.
Ein Schwall von Angst überrollte sie, so stark, dass sie kurz das Atmen vergaß. Ihr Brustkorb zog sich zusammen, ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Wo bin ich? Wie bin ich hierhergekommen? Und wo sind die anderen? Enoch. Jake. Ihre Namen hallten wie ein Mantra in ihrem Kopf wider, doch es gab keine Antwort, nur das bedrückende Schweigen der Dunkelheit.
Libitina zwang sich, ruhig zu bleiben, und atmete flach durch die Nase ein und aus. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Die Panik durfte sie nicht lähmen. Ich bin stark, dachte sie. Ich habe Schlimmeres überstanden. Ich werde auch das überstehen.
Ihre Finger tasteten vorsichtig an den Lederbändern entlang, suchten nach einem losen Ende, während sie sich daran erinnerte, was passiert war. Bruchstücke ihres Gedächtnisses flackerten auf: das Kichern von Kindern auf einem Karussell, das Glitzern von Sonnenlicht auf Wasser – und dann... Dunkelheit. Ein kaltes Gefühl kroch ihren Rücken hinauf, als sie an das stechende Gefühl dachte, das ihren Arm durchzuckt hatte, bevor alles schwarz geworden war.
Plötzlich hallten Schritte durch den Raum. Schwer und bedrohlich klangen sie, durchdrangen die Stille wie ein scharfes Messer. Libitina hielt inne. Ihr Atem stockte, und sie spannte sich an, bereit, zu kämpfen – oder es zumindest zu versuchen.
„Wer ist da?" Ihre Stimme war heiser, kaum mehr als ein Flüstern. Eine Gestalt trat aus den Schatten. Das schwache Licht einer flackernden Glühbirne enthüllte ein hageres Gesicht mit eingefallenen Wangenknochen und Augen, die vor kalter Grausamkeit glühten. Libitina erkannte ihn sofort, und ein Schauer lief ihr über den Rücken.
„Barron." Sein Name entkam ihren Lippen wie ein Fluch, durchtränkt von Verachtung und Schmerz. Barron lächelte, ein grausames, höhnisches Lächeln, das keine Freude kannte. Er trug einen langen, dunklen Mantel, dessen Kanten den Boden streiften, und sein Haar war glatt zurückgekämmt, als hätte er sich Mühe gegeben, eine makellose Fassade aufrechtzuerhalten.
„Libitina", begann er, seine Stimme schmeichelnd, wie Honig, der über rostige Nägel gegossen wurde. „Ich bin so froh, dass du wach bist. Es wäre doch schade, wenn du das alles verpassen würdest." „Das alles?" Libitina funkelte ihn an, ihre Augen voller Trotz. „Ich weiß nicht, was du vorhast, Barron, aber du wirst es bereuen."
Er lachte leise, ein Ton, der Libitina wie Nadeln in die Haut stach. „Bereuen? Oh nein, meine Liebe. Es gibt nichts zu bereuen. Alles läuft genau nach Plan." Er trat näher, langsam, jede Bewegung sorgfältig kalkuliert, wie ein Raubtier, das seine Beute umkreist. Libitina spürte, wie ihr Puls raste, doch sie zwang sich, nicht wegzusehen. Sie würde ihm nicht die Genugtuung geben, ihre Angst zu sehen.
„Wo sind Enoch und Jake?" Sie hob ihr Kinn, ihre Stimme fest, obwohl ihre Hände unter den Fesseln zitterten. „Deine kleinen Freunde?" Barron zog eine Augenbraue hoch, als ob er kurz überlegen müsste. „Oh, keine Sorge. Sie leben noch. Fürs Erste." Libitina biss die Zähne zusammen, und eine Welle der Wut durchströmte sie. „Wenn du ihnen etwas antust..."
„Dann was?" Barron beugte sich vor, sodass sein Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt war. Sein Atem war warm, trug jedoch den Geruch von Verderben. „Du bist in meiner Welt, Libitina. Und hier gibt es keinen Retter, der dich beschützen kann." In diesem Moment zog er eine kleine Nadel hervor. Das schummrige Licht spiegelte sich auf dem dünnen Metall, und Libitinas Herz begann schneller zu schlagen.
„Was... was ist das?" fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits ahnte. „Nur ein kleines Mittelchen", sagte Barron, fast sanft. „Ein weiterer Schritt, um dich zu dem zu machen, was du immer sein solltest." „Du bist krank", zischte sie und wand sich in ihren Fesseln, während er näherkam. „Das ist nicht mein Schicksal. Und es wird nie deins sein."
Ein kurzes Zucken ging durch Barrons Gesicht, ein Anflug von Emotion, der schnell wieder verschwand. Für einen winzigen Moment glaubte sie, etwas Menschliches in ihm zu sehen – einen Schatten des Mannes, der er einmal gewesen war.
„Dein Vater ist tot", sagte er leise. „Akzeptiere es."
„Ich glaube nicht an den Tod der Seele", entgegnete Libitina, ihre Stimme trotz der Tränen, die ihr in die Augen traten, ungebrochen. „Und ich werde nicht aufgeben, Barron. Nicht, bis du wieder der Mann bist, der mich geliebt hat." Barrons Blick verhärtete sich, und er ließ die Nadel herab. „Dummes Kind", murmelte er, bevor er zustoßen konnte.
Doch Libitina nutzte die Gelegenheit. Mit einem letzten, verzweifelten Ruck rissen die Lederbänder an ihren Händen. Sie griff nach der Nadel und schubste ihn zurück. Ihre Finger zitterten, als sie sich aufrichtete, doch ihre Entschlossenheit loderte wie ein Feuer in ihrem Inneren.
„Ich werde dich nicht aufgeben", flüsterte sie, ihre Stimme ein leiser Schwur. „Und ich werde dich aufhalten." Barrons Lachen hallte ihr nach, als sie in die Dunkelheit stürzte – doch in ihrem Herzen leuchtete ein Funke der Hoffnung.
~~~
Enochs Schritte hallten durch die kalte, feuchte Dunkelheit des Kellers, als er sich mit festem Entschluss in die Tiefe begab. Der Geruch von modrigem Holz und Staub kroch in seine Lungen, während sich die kühle, stickige Luft wie ein schwerer Mantel um ihn legte. Jeder Atemzug war scharf, schien fast zu beißen, doch er ließ sich nicht entmutigen. Der schwache Schein seiner Lampe flimmerte und warf tanzende Schatten an die Wände, ein fast hoffnungsloser Versuch, die Dunkelheit zu vertreiben, die hier regierte. Doch je weiter er vorwärts schritt, desto dichter wurden die Schatten, als wollten sie ihn erdrücken, ihn in die Umklammerung der Finsternis ziehen. Der Raum schien zu atmen, zu leben, als wäre er selbst ein Teil des Albtraums, den Enoch zu durchbrechen versuchte.
Sein Herz pochte wild, als die Gedanken an Libitina und Jake ihn quälten. Der Gedanke, dass er vielleicht zu spät kommen könnte, dass er nicht schnell genug war, schnürte ihm die Kehle zu. In jedem Schritt lag der scharfe Nagel des Zweifels, der sich tiefer in ihn bohrte. „Was, wenn sie nicht mehr da sind? Was, wenn es zu spät ist?" Die Vorstellung, dass etwas Unaussprechliches mit ihnen geschehen sein könnte, ließ seinen Magen verkrampfen, aber er wusste, dass er keine Zeit zu verlieren hatte.
Ein plötzlicher Ruck riss ihn aus seinen düsteren Gedanken, als er mit einem Mal über etwas im Dunkeln stolperte. Seine Füße fingen den Widerstand nicht rechtzeitig auf, und er verlor beinahe das Gleichgewicht. Der Moment der Panik war kurz, doch seine Hand schoss instinktiv nach vorn, um sich an der Wand abzustützen. Als er sich wieder aufrichtete, sprang der schreckliche Gedanke, er könnte etwas oder jemanden verletzt haben, in seinen Kopf. Doch als er sich umdrehte, fand er keinen Makel, sondern eine andere Gestalt, die in der Dunkelheit schmerzlich vertraut war.
Emma. Ihre Erscheinung war sowohl unerwartet als auch dringend willkommen. Ihre Augen, groß und voller Angst, trafen die seinen, als sie, sichtlich erschöpft und keuchend, die Stufen des Kellers hinaufstieg. Sie stützte sich auf Enoch, der den Schmerz in ihrer Haltung sofort spürte, als sie sich an ihn klammerte, als wäre er ihre letzte Stütze in einer Welt, die sich gerade zerbrach. Ihre Atmung war laut, erschöpft, jeder Atemzug schien sie noch mehr zu zwingen, langsamer zu werden, doch sie hielt durch. Ihre Angst lag wie ein schwerer Nebel um sie, und Enoch konnte den kalten Schweiß auf ihrer Stirn sehen.
„Enoch, wo sind die anderen?" Ihre Stimme klang brüchig, als würde sie an der Grenze ihrer Kräfte kämpfen, als ob sie sich gleichzeitig an ihn und an die zerbrechliche Hoffnung klammerte, die sie noch hatte.
„In Sicherheit. Olive bringt sie zur Geisterbahn", antwortete Enoch, seine Worte flossen schnell, doch sein Geist wirbelte weiter, unerbittlich. Die Frage, die ihm keine Ruhe ließ, brannte in ihm wie ein unaufhörliches Feuer. „Aber wo sind Jake und Libitina?" Wie ein düsterer Vorbote kam diese Frage zurück, immer wieder. Die Vorstellung, dass sie in Gefahr waren, ließ ihn nicht los. Es war eine Last, die er nicht tragen konnte.
Emma blieb stehen, ihr Blick verschwamm für einen Moment, als sie sich durch die Realität zu zwingen versuchte. „Er braucht uns! Barron ist zu mächtig!"
Die Worte trafen Enoch wie ein Schlag, der den letzten Funken Hoffnung zerschlug. „Barron..." Der Name des Feindes, der sie so lange gejagt hatte, klang in seinen Ohren wie ein finsteres Versprechen. „Dann sollten wir keine Zeit verlieren", murmelte er, die Dunkelheit um sie herum wie ein drückendes Gewicht auf seiner Brust. Ohne zu zögern, griff er nach Emmas Arm und zog sie weiter, tiefer in das Labyrinth des Kellers. Die knarrenden Stufen unter ihren Füßen schienen jedes ihrer hastigen Schritte zu verraten, die in diesem Moment die einzige Antwort auf die drängende Frage „Was passiert als Nächstes?" waren.
Die Luft wurde schwerer, dichter, als sie das Ende der Treppe erreichten und vor der Tür standen, die sie zu dem führen sollte, was sie so verzweifelt suchten. In der Stille des Raumes schien alles noch einmal stillzuhalten, als die Realität der Situation immer mehr auf sie lastete. Was würde sie dort finden? Würden sie überhaupt noch rechtzeitig sein?
„Jake?" Emmas Stimme hallte verzweifelt durch den Raum, als sie die schwere Holztür aufriss. Ihre Worte flogen wie ein Ruf durch die Dunkelheit, als sie mit Enoch zusammen in den Raum stürzte, der sie mit seinem düsteren, unheilvollen Glanz empfing.
Was sie sahen, war ein Bild, das sowohl surreal als auch erschreckend war. Zwei Männer, die sich wie ein und derselbe Mensch begegneten, standen vor ihnen, als wären sie zwei Gesichter derselben dunklen Realität. Ihre Silhouetten, so vertraut und doch verzerrt, ließen Encoh einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Und hinter ihnen, in den Käfigen, die schwach im flimmernden Licht der Fackeln glühten, lag Libitina. Ihr Körper war reglos, ihre Züge ausgemergelt und bleich, als wäre sie selbst nur noch ein Schatten der Hoffnung, die sie einst verkörpert hatte. Ihr Anblick ließ Emmas Herz mit einem Ruck stagnieren. Ein Schreck, ein schmerzlicher Schmerz, der sie zu Boden zu reißen drohte. Ihre Kehle schnürte sich zu, als ihre Augen auf die reglose Gestalt fielen. „Libitina..." Ihre Stimme brach beinahe, während ihre Hände unwillkürlich nach Enoch griffen, als könne er sie vor diesem schrecklichen Bild schützen. Doch das Bild blieb.
„Emma! Bitte, hört mir zu! Ich bin es wirklich nicht, das ist Barron!" Die Worte des einen Jake stürzten hastig aus seinem Mund, als hätte er die Kontrolle über seinen eigenen Atem verloren. Die Panik in seinen Augen war unübersehbar – ein wildes Funkeln, das zu widersprechen schien, was seine Lippen sprachen. Doch kaum hatte er ausgesprochen, wurde er von dem anderen Jake unterbrochen. Seine Stimme schneidete durch den Raum, messerscharf, voller Ungeduld. „Glaubt ihm nicht! Er ist Barron!"
Enochs Gedanken überschlugen sich. Ein chaotisches Durcheinander aus Zweifeln und Ängsten tobte in ihm. Er kannte die beiden, hatte sie so gut gekannt, und doch schien jetzt alles so fremd, so falsch. Es fühlte sich an, als würde der Boden unter ihm erbeben, als könne er sich nicht auf etwas festhalten. „Warum? Warum jetzt?" Der Gedanke, dass er vielleicht in diesem Moment den falschen Jake unterstützen könnte, dass er möglicherweise den entscheidenden Fehler machen würde, nagte an ihm, zerriss ihn beinahe.
„Jake?" Der Name kam ihm über die Lippen, als er einen Schritt nach vorn machte, als würde er nach einem Strohhalm greifen. „Was geht hier vor?" Die Worte waren fast ein Flüstern, ein verzweifelter Versuch, Klarheit zu finden, bevor alles zu einem endlosen Albtraum wurde.
„Nein, ich bin Jake! Das ist Barron!", rief der andere Jake mit drängender, fast verzweifelter Energie. Er drängte sich zwischen Enoch und den ersten Jake, als wollte er beweisen, dass er die Wahrheit sagte. Die Spannung im Raum war greifbar, beinahe elektrisch, als die beiden Männer einander mit Blicken angriffen. Es war, als könnten sie sich nicht entscheiden, ob sie sich aneinander festhalten oder sich gegenseitig vernichten sollten.
Enoch spürte das Gewicht der Armbrust in seiner Hand. Der vertraute Griff, der ihn sonst beruhigte, schien nun schwerer als je zuvor. „Was, wenn ich mich irre? Was, wenn alles, was wir glauben, falsch ist?" Die Gedanken stürmten auf ihn ein, und obwohl er wusste, dass er jetzt keine Zeit hatte zu zögern, war da diese unerschütterliche Unsicherheit, die wie ein kalter, klammerndes Gefühl in seiner Brust lag.
„Enoch, nein!", rief Emma, ihre Stimme klang durchdringend und besorgt, doch Enoch konnte sich nicht auf sie konzentrieren. Ihre Worte waren nur ein Rauschen, das in den Hintergrund trat, als der Kampf zwischen den beiden Jake's weiterging. „Ich muss jetzt richtig handeln. Ich muss alles richtig machen." Sein Blick blieb auf den beiden Männer haften, seine Finger drückten sich fester um den Bogen, als wollten sie sich festhalten an dem, was er zu wissen glaubte. Doch das Zittern in seiner Hand verriet ihn. „Was, wenn ich einen Fehler mache?"
„Ich kann besser schießen als Jake!", rief Enoch schließlich, seine Stimme so fest, dass sie selbst ihn überraschte. „Keiner von euch bewegt sich, bis wir das geklärt haben!" Er versuchte, sich an seine Entschlossenheit zu klammern, doch die Wahrheit war, dass er sich längst nicht mehr sicher war. Die Worte hallten in seinem Kopf wider, wie ein Echo von Zweifeln, die sich festklammerten und nicht loslassen wollten.
„Hört mir zu, bitte! Ich bin Jake. Ich bin in Florida aufgewachsen, und ich träumte immer davon, ein Entdecker zu werden." Der erste Jake sprach wieder, und obwohl seine Stimme fest klang, schwang ein merkwürdiges Zittern mit. „Ich dachte, meine Taten wären bedeutungslos, weil ich nie etwas Besonderes war..." Er brach für einen Moment ab, als würde er über seine eigenen Worte nachdenken, als würde das Geständnis seiner Schwächen ihn angreifen. Enoch konnte nicht anders, als zu blinzeln, als die Worte so fremd, so abwegig klangen. Er kannte Jake, hatte ihn nie so sprechen hören. „Das war nicht er. Das war nie er", dachte Enoch verzweifelt, doch das Unbehagen blieb.
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