kapitel 28 : sowieso schon tot
Miss Peregrine saß aufrecht in ihrem Sessel, ihre Hände ruhten ruhig auf der Lehne, während sie Jake ansah. Sie zog nachdenklich an ihrer Pfeife, ein Hauch von Kräutern und Holz breitete sich im Raum aus. "Wir nennen sie Hollowgast," sagte sie schließlich, ihre Stimme ruhig, aber mit einer Schwere, die sich nicht abschütteln ließ. "Kurz gesagt: Hollows."
Jake, der auf dem Sofa saß, lehnte sich vor. Sein Blick wanderte von Miss Peregrine zu den Schatten in den Ecken des Raumes, als ob er dort Antworten finden könnte. "Mein Großvater hat mir von Monstern erzählt," begann er zögernd, "von Kreaturen, die sich in Menschen verwandeln können. Sind das... diese Wesen?"
Miss Peregrine neigte den Kopf leicht, ein feiner Ausdruck von Bedauern huschte über ihre Züge. "Dein Großvater hat dir vieles erzählt," sagte sie leise, "und doch nicht genug. Es ist an der Zeit, dass du die ganze Wahrheit erfährst. Aber wisse, dass ich ein feierliches Versprechen breche."
Bevor sie fortfahren konnte, öffnete sich die Tür, und Libitina trat ein. Ihr Auftreten war leise, fast schattenhaft, aber dennoch unübersehbar. Die schwarzen Locken fielen ihr in losen Wellen über die Schultern, und ihre tiefvioletten Augen – ein unheimliches, aber zugleich faszinierendes Merkmal – blitzten kurz zu Jake hinüber, bevor sie sich auf Miss Peregrine richteten. Sie trug ein einfaches, schwarzes Kleid mit Spitzenbesatz, das ihre zierliche Figur betonte, und ihre bloßen Füße machten keinen Laut auf dem Holzboden.
"Wir wissen es zu schätzen, dass du es uns sagst," sagte Libitina mit sanfter, aber bestimmter Stimme. Ihr Ton war höflich, doch in ihren Augen lag eine Spur von Schmerz, die sich nicht verbergen ließ.
Miss Peregrine hielt inne und betrachtete das schwarzhaarige Mädchen mit einem Ausdruck, der zwischen Fürsorge und Strenge schwankte. "Ich wusste seit deiner Geburt, dass du besonders bist," sagte sie schließlich und legte die Betonung auf das letzte Wort. "Aber du, Beatrix Libitina, bist mehr als das. Du bist einzigartig."
Libitinas Gesicht verzog sich zu einer Mischung aus Zorn und Trauer. Sie senkte den Blick, ihre Hände spielten nervös mit der Spitze ihres Ärmels. "Was ist daran besonders," sagte sie mit leiser, brüchiger Stimme, "wie ein Dämon auszusehen? Für Experimente missbraucht worden zu sein? Meine Art zu sehen, sie... sie stört die anderen." Sie ballte die Fäuste, und ein zittriger Atemzug entkam ihren Lippen.
Miss Peregrine lehnte sich nach vorne, ihre Stimme wurde eindringlich. "Hör auf, dich selbst als den Bringer des Todes zu sehen, Libitina. Du bist kein Monster. Du bist ein Wunder."
Libitina hob langsam den Kopf, ihre Augen glänzten, aber sie ließ die Tränen nicht zu. Sie wandte sich an Jake, setzte sich neben ihn und sprach ihn direkt an. "Dein Großvater..." Sie hielt inne und suchte nach den richtigen Worten. "Er hat mir verboten, dir die Wahrheit zu sagen. Sein innigster Wunsch war es, dass du eine ganz normale Kindheit hast."
Jake runzelte die Stirn, ein Hauch von Trotz in seiner Stimme. "Das hatte ich. Ganz sicher."
Libitina lächelte bitter, aber es war ein Lächeln ohne Freude. "Er hatte vor, es dir zu sagen, wenn du 18 bist," fuhr sie fort. "Er dachte, dass seine Gutenachtgeschichten dich auf die Wahrheit vorbereiten könnten. Dass sie dir helfen würden, zu verstehen, wer du bist... und wer ich bin. Beatrix hat den Körper von Libitina übernommen, um zu überleben. Ich bin beides. Und keines von beiden."
Sie griff nach einem schweren Buch, das sie mitgebracht hatte, und hielt es Miss Peregrine hin. "Den Rest sollten Sie erklären," sagte sie mit fester Stimme. "Für mich ist es zu... emotional."
Miss Peregrine nahm das Buch entgegen, schlug es auf und setzte sich neben Jake. Auf der aufgeschlagenen Seite stand in großen Lettern: "Besondere Wissenschaftler." Ein vergilbtes Foto zeigte eine Gruppe von Menschen mit weißen Augen. In der Mitte stand ein Mann, dessen Gesicht Jake seltsam vertraut vorkam.
Miss Peregrine legte eine Hand auf die Seite des Buches und sprach leise, aber mit Nachdruck. "Das, Jake, ist Mr. Barron. Beatrix' Vater. Dein Großvater wusste, dass diese Wahrheit dich verändern würde. Aber jetzt bist du stark genug, sie zu tragen."
Jake starrte auf das Bild, und in seinen Gedanken wirbelten Erinnerungen und Gefühle durcheinander. Libitina, die noch immer auf der Sofalehne saß, beobachtete ihn. Ihre Augen suchten seine, als ob sie nach einem Funken Verständnis suchte. Sie wusste, dass dies der Moment war, in dem alles, was sie war – Beatrix, Libitina, ihre Vergangenheit und Gegenwart – nicht mehr allein ihr Geheimnis war.
Die Sonne tauchte den Raum in ein goldenes Licht, das durch die hohen Fenster fiel, als Miss Peregrine zu sprechen begann. Der Duft von altem Holz und die Wärme des Nachmittags schufen eine trügerisch friedliche Atmosphäre, während die Worte der Ymbrine eine düstere Geschichte enthüllten. Jeder im Raum spürte die Schwere ihrer Stimme, und die Stille wurde nur durch das entfernte Zwitschern eines Vogels unterbrochen.
"Vor vielen, vielen Jahren," begann Miss Peregrine, ihre Stimme ruhig, aber voller Nachhall, "spaltete sich eine Gruppe von unseren besonderen Leuten ab. Es waren jene, die sich nach Freiheit sehnten – nach einem Leben jenseits der Grenzen unserer Zeitschleifen. Sie nannten sich die Ungebundenen." Sie legte eine kurze Pause ein, ihre Augen wanderten über ihre Zuhörer, bevor sie fortfuhr. "Doch ihre Sehnsucht nach Freiheit führte sie auf einen gefährlichen, dunklen Weg."
Libitina stand am Fenster, das Licht der Sonne zeichnete scharfe Kontraste auf ihre Gestalt. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, ihre Haltung wirkte äußerlich ruhig, doch innerlich brodelte es in ihr. Sie erinnerte sich an die Nacht, die ihr Leben für immer verändert hatte. Ihre violetten Augen, ein unheimlicher Spiegel ihrer besonderen Herkunft, schienen fast zu leuchten, als sie plötzlich sprach. "Das ist der Mann," sagte sie leise, aber mit Nachdruck. "Der Mann, den ich in jener Nacht sah, als Abe starb. Mr. Barron." Ihre schlanken Finger wiesen auf das vergilbte Foto im Buch, auf einen Mann mit scharfen Gesichtszügen und einem kalten Lächeln.
Miss Peregrine hielt kurz inne, ihre Lippen umspielte ein Hauch von Bedauern. "Ja," bestätigte sie schließlich, "Mr. Barron. Er war einer der Anführer dieser Abtrünnigen. Sein Ehrgeiz kannte keine Grenzen. Er glaubte, dass er durch die Essenz der Kräfte einer Ymbrine nicht nur unsterblich werden, sondern auch die Schleifen überwinden könnte. Doch sein Plan war gefährlich, düster und egoistisch."
Jake, der bisher still zugehört hatte, lehnte sich nach vorne. "Und... hat er es geschafft? Warum ist er dann nicht... unsterblich oder frei?"
Miss Peregrine ließ ein leises Seufzen hören, während sie die Seite des Buches umblätterte. "Er hat es versucht. Er und seine Gefolgsleute entführten eine Ymbrine und führten grausame Experimente durch. Doch ihre Hybris führte sie ins Verderben. Statt unsterblicher Götter wurden sie zu Monstern – Hollowgasts. Unsichtbare, gefräßige Kreaturen, die durch ihre Gier nach mehr verzehrt wurden."
Libitina, die sich vom Fenster gelöst hatte, trat näher an das Sofa heran, ihre Finger zitterten leicht, als sie sich an der Sofalehne festhielt. "Das erklärt, warum er auf der Suche nach Kindern ist. Warum sie Schleifen angreifen." Ihre Stimme klang bitter, und ein Hauch von Schmerz lag in ihren Worten. "Aber es gibt etwas Schlimmeres."
Miss Peregrine blickte sie an, ihre Augen wurden weicher. "Libitina..." begann sie, aber das Mädchen hob die Hand, um sie zu stoppen.
"Nein, ich werde es sagen," entgegnete Libitina. Ihre Stimme bebte, und ihre Augen waren mit einem tiefen, inneren Konflikt erfüllt. "Mr. Barron... er hat nicht nur andere Kinder gejagt, um sich zu verändern. Er hat es auch an mir versucht." Ihre Worte trafen wie ein Donnerhall, und die Luft schien schwerer zu werden. "Ich war sein Experiment. Seine Tochter. Und er hat mich benutzt, als wäre ich nichts weiter als ein Werkzeug."
Jake starrte sie an, unfähig, etwas zu sagen. Libitina presste die Lippen zusammen, bevor sie fortfuhr. "Ich weiß, wie es sich anfühlt, von innen heraus zu zerbrechen. Ich weiß, wie es ist, wenn deine eigene Seele sich anfühlt, als würde sie in tausend Stücke gerissen. Und jetzt... glauben sie, dass ich etwas Gefährliches bin. Ein Dämon, der in menschlicher Gestalt wandelt."
Sie wandte sich ab, ihr Atem zitterte, während sie versuchte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. "Das Hollow, das Abe tötete... es hielt mich gefangen. Es wusste, wer ich bin. Und ich habe geschworen, Barron zu finden und ihn zu töten. Aber das bedeutet auch, dass sie jetzt wissen, dass ich hier bin."
Miss Peregrine legte sanft eine Hand auf Libitinas Schulter. "Du bist kein Dämon," sagte sie mit leiser, aber fester Stimme. "Du bist stärker, als du glaubst. Und du bist nicht allein."
Libitina sah zu Jake hinüber, der noch immer auf das Bild im Buch starrte. In seinen Augen spiegelte sich Verwirrung, Trauer und ein Funke Entschlossenheit wider. "Wir werden das durchstehen," sagte er schließlich leise. "Zusammen."
Libitina senkte den Blick, ein schwaches, aber echtes Lächeln spielte auf ihren Lippen. "Zusammen," wiederholte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
Jake saß auf dem Sofa, die Hände verkrampft ineinander verschlungen. Sein Herz schlug schwer in seiner Brust, ein unkontrollierbarer Mix aus Entsetzen und Mitgefühl durchströmte ihn. Seine Stimme klang unsicher, fast zögernd, als er fragte: "Aber... wieso haben sie dich dann nicht getötet? Wieso haben sie nicht... deine Augen genommen?"
Libitina, die am Fenster stand, drehte sich langsam zu ihm um. Ihr Gesicht war ein Porträt widersprüchlicher Emotionen – Schmerz, Wut und eine beinahe erdrückende Traurigkeit. Ihre Hände zitterten leicht, als sie sie an ihren Seiten ballte. Ihre Stimme, zunächst leise und bebend, gewann an Stärke, als sie antwortete: "Weil meine Augen für immer verloren sind."
Für einen Moment schloss sie ihre Lider, und eine fast greifbare Dunkelheit schien sich um sie zu legen. In ihrer Stille lag eine Welle unausgesprochener Schrecken, ein Echo der Qualen, die sie ertragen hatte. Als sie ihre Augen wieder öffnete, wich Jake unwillkürlich zurück. Was er sah, war keine Reflexion von Licht und Leben – nur zwei dunkle, leere Höhlen, die einst die Fenster zu ihrer Seele gewesen waren. Es war, als ob die Zeit selbst in diesen Augen Halt gemacht hatte, um ihnen jegliches Leben zu entreißen.
Jakes Atem stockte, und ein kaltes Grauen kroch ihm den Rücken hinauf. "Das..." flüsterte er, unfähig, den Satz zu beenden. Seine Gedanken überschlugen sich, und er erinnerte sich an die flüchtige Vision im Rückspiegel – die Leere, die er damals nicht begreifen konnte. Nun sah er die Wahrheit vor sich, und sie brannte sich unauslöschlich in sein Bewusstsein ein.
Libitina schloss für einen Moment die Augen, als wolle sie sich vor seiner Reaktion schützen. Doch dann setzte sie eine entschlossene Miene auf. "Doch ich schweife ab," sagte sie mit gezwungener Ruhe, während sie tief durchatmete. Miss Peregrine, die die aufgeladene Spannung im Raum spürte, übernahm das Wort.
"Ein Hollow kann seine menschliche Gestalt wiedererlangen," erklärte sie, ihre Stimme war ernst, aber sanft, "wenn er genügend Augen besonderer Kinder verschlingt. Genau das haben Barron und einige seiner Gefährten getan."
Libitina nickte langsam und fuhr mit fester Stimme fort: "Doch die meisten blieben Hollows. Verlorene Kreaturen, die nichts anderes sind als geisterhafte Bestien." Sie hielt inne, bevor sie mit bebender Stimme gestand: "Und ich... ich brauche Blut, wenn ich nicht in einer Schleife bin. Abe... war mein Blutspender."
Die Worte trafen Jake wie ein Schlag in die Magengrube. Ein kalter Schauer durchlief ihn, und er starrte sie mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu an. "Du... du trinkst Blut?" flüsterte er. "Wie... ein Vampir?"
Libitina wandte den Blick ab, ihre Schultern sackten herab, als ob die Last ihrer Schuld sie zu erdrücken drohte. "Nenn es, wie du willst," sagte sie leise, mit einer Bitterkeit, die durch ihre Worte sickerte. "Aber das bin ich. Ein Monster. Genau wie sie."
Jake suchte verzweifelt nach einer Antwort, nach etwas, das Sinn ergab. "Bedeutet das," fragte er vorsichtig, "dass Barron... die Augen meines Großvaters gegessen hat? Und du... du hast ihn ausgesaugt wie... wie eine Glühbirne den Strom?"
Miss Peregrine unterbrach ihn, bevor Libitina antworten konnte. "Nein, Jake," sagte sie ernst. "Barron selbst benötigt keine Augen mehr. Aber er führte einen Hollow zu deinem Großvater. Es war diese Kreatur, die ihn getötet hat."
Libitina atmete scharf ein, und plötzlich flammte eine wilde Wut in ihren Augen auf. Sie sprang auf, und ihre Stimme war ein zorniges Zischen, das durch den Raum schnitt: "Ich schwöre bei allem, was mir geblieben ist, ich werde diesen verdammten Kerl umbringen! Selbst wenn ich dabei in Stücke gerissen werde, ist mir das egal! Ich bin sowieso schon tot!" Ihre Worte hallten wie ein Echo, während Tränen ihre Wangen hinabrollten, doch sie wischte sie hastig weg.
Miss Peregrine, deren Blick von Verständnis und Sorge durchzogen war, stand auf und legte ihre Hand sanft, aber bestimmt auf Libitinas Schulter. "Genug," sagte sie leise, aber mit Nachdruck. "Hass wird dir nicht helfen. Du bist nicht tot, Libitina. Du lebst, und das bedeutet, dass du noch eine Wahl hast." Sie drückte Libitinas Hand fester, um ihre Worte zu untermauern, und setzte fort: "Nach den ersten Angriffen auf unsere Schleifen haben wir gelernt, uns besser zu schützen. Wir haben neue Schleifen geschaffen, uns verborgen und uns gegenseitig geholfen zu überleben."
Libitina wandte den Blick ab, doch Miss Peregrine ließ nicht locker. "Barron und seine Gefährten mögen uns jagen," fuhr sie fort, "aber es ist auch dir zu verdanken, Beatrix, dass wir noch hier sind. Du hast dich ihm entgegengestellt, immer wieder. Und das zeigt, dass du nicht das Monster bist, für das du dich hältst."
Jake beobachtete die Szene mit einer Mischung aus Bewunderung und Furcht. In diesem Moment sah er, wie viel Kraft und Schmerz Libitina in sich trug – und wie sehr sie bereit war, für diejenigen zu kämpfen, die sie liebte. Ein Funke von Respekt und Entschlossenheit entzündete sich in seinem Inneren, und er wusste, dass er an ihrer Seite stehen würde, egal, was kommen mochte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro