kapitel 25 : ein kind hier
„Enoch, tu das nicht!", flehte Olive verzweifelt, als sie sich an Enochs Arm festklammerte. Doch er schüttelte ihren Griff energisch ab, seine Augen von einer Entschlossenheit durchzogen, die keine Widerrede duldete. „Du wolltest doch, dass du, Jake und ich etwas unternehmen! Das waren deine eigenen Worte", erinnerte er sie, und in seiner Stimme schwang ein bitterer Unterton mit, als würde er Olive vorwerfen, nun gegen den eigenen Plan zu kämpfen. Doch Olive, nicht gewillt, nachzugeben, stellte sich mutig vor Enoch.
„Und jetzt sind wir alle hier. Geh aus dem Weg, Olive!", forderte Enoch, seine Stimme ein Befehl, der die Luft durchbrach. „Trixi, du hättest jemand Besseren verdient als jemanden wie ihn!" Olives Worte, scharf und verletzend, stachen durch die Stille des Raumes. Sie stieß sich mit einer entschlossenen Bewegung an den anderen vorbei und verließ den Raum. Die schmerzhaften Worte hinterließen eine Narbe in den Seelen der drei Verbliebenen, und für einen Moment schien die ganze Atmosphäre von Schmerz und Enttäuschung durchzogen. Eine Welle von Emotionen brach über sie herein und drohte, sie zu überwältigen.
„Enoch, hör auf, Viktor zu quälen! Bronwyn wird nur noch mehr in Sorge sein!", rief Fiona, die plötzlich erschien, mit einer Mischung aus Sorge und Unverständnis in ihrer Stimme. Ihre Augen, normalerweise so ruhig und bedacht, waren nun voller Bekümmernis.
Enoch seufzte tief und legte sanft seine Hände auf Fionas Schultern. Seine Miene wirkte für einen Moment weicher, als wollte er sich für seine Härte entschuldigen. Doch seine Antwort kam ruhig und bedacht. „Komm schon, Fiona. Sollte Jake nicht die alle kennenlernen und Beatrix erfahren, was mit ihrem geliebten Viktor passiert ist?" Die Worte kamen wie ein verzweifelter Appell, der versuchte, die aufgewühlte Situation zu beruhigen, doch Libitina konnte das misstrauische Stirnrunzeln auf ihrem Gesicht nicht verbergen. Sie wusste, dass dies nicht das ganze Bild war.
„Er versucht nur, uns zu vertreiben! Warum spielen wir nicht alle zusammen?" Fiona schlug vor, ihre Worte klangen beinahe wie ein sanfter Versuch, die ganze Situation zu entschärfen, doch es war klar, dass der Konflikt viel tiefer ging. „Ich würde Viktor wirklich gerne kennenlernen", gab Jake zu, seine Stimme zögerlich, aber ernst. Libitina biss sich auf die Lippe, bevor sie erklärte: „Und ich würde Viktor wirklich gerne wiedersehen. Du weißt, wie sehr ich ihn lieb hab, genauso wie euch alle..." Ihre Worte klangen weich, als ob sie versuchte, eine Verbindung zu den anderen zu finden, eine Brücke zu schlagen.
Enoch öffnete schließlich die Tür, ein Zug von Mangel an Geduld in seinen Bewegungen. „Nach euch", sagte er schließlich und gestattete den beiden den Eintritt, als er sie mit einem Blick maß, der immer noch so undurchdringlich war wie zu Beginn.
Im Licht des Raumes, das durch die schweren Vorhänge nur spärlich drang, erhob sich das Himmelbett wie ein Symbol aus einer anderen Welt. Die zarten, fließenden Stoffe des Bettes schimmerten sanft im Halbdunkel, als ob sie das Geheimnis eines längst vergangenen Traums bewahren wollten. Auf dem weichen, weißen Bett lag Viktor, ein Junge von Jakes Alter, dessen Gesicht eine stille Geschichte von Hoffnung und Verlust erzählte. Seine Haut war blass, beinahe durchscheinend, als ob sie den Kontakt zur lebendigen Welt längst verloren hatte. Doch trotz der Stille, die ihn umgab, war sein Aussehen nicht nur das eines toten Körpers. Es war das Bild eines verlorenen Wesens, das in einem Zwischenreich gefangen war, weder ganz in der Welt der Lebenden noch in der der Toten. Seine Lippen waren fest verschlossen, als ob sie einen letzten, unausgesprochenen Gedanken bewahrten, während seine Augen – so leer und stumm wie ein verlassenes Fenster – dennoch eine unausgesprochene, gefühlsgeladene Präsenz ausstrahlten.
Libitina stand regungslos im Raum, ihr Blick fest auf Viktor gerichtet, als ob sie in den leeren Augen etwas sah, was nur sie verstehen konnte. Ihr Herz pochte in ihrem Brustkorb, und dennoch war ihre Haltung ruhig, beherrscht, fast kühl. Ihre schwarze, bodenlange Robe umhüllte sie wie eine zweite Haut, ihre Bewegungen glichen der eines Schattens, der fast lautlos durch den Raum glitt. Ihre Haare, von tiefem Nachtblau, fielen in sanften Wellen über ihre Schultern und fingen das spärliche Licht auf, das in den Raum strömte. Ihre Gesichtszüge waren ernst, von einer natürlichen Schönheit, die sich nur in Momenten der höchsten Intensität zeigte. Es war das Gesicht einer Frau, die mehr wusste als sie jemals preisgab.
Die Atmosphäre im Raum war elektrisch geladen, als ob sie vor einer unsichtbaren Grenze standen, die bald überschritten werden würde. Libitina konnte die Spannung förmlich spüren, wie ein kaum fassbarer Druck in der Luft, der den Raum schwerer machte. Sie hatte keine Furcht, aber sie war aufmerksam, stets bereit. Ihre Augen, die von einer tiefen Weisheit und Erfahrung zeugten, bewegten sich nicht von Viktor, als ob sie auf etwas warteten – auf ein Zeichen, auf eine Wahrheit, die nur dieser Raum und dieser Moment enthüllten.
Jake, der sich nervös neben ihr aufgestellt hatte, war sichtlich überfordert von der Situation. Seine Hände verkrampften sich, und sein Blick huschte nervös von Viktor zu Libitina. Es war eine unerträgliche Stille, die den Raum füllte, während er versuchte, Worte zu finden, die den Moment erträglich machen würden. Doch es war Libitina, die die Stille durchbrach, ihre Stimme ruhig und doch bestimmt:
„Er ist tot. Er kann dich nicht hören." Ihre Worte waren wie ein harter Schlag, der die Realität in diesem Raum zurück in ihre ursprüngliche Form brachte. Ein Schimmer von Anerkennung glitt über Enocks Gesicht, als er mit einer langsamen, bedächtigen Geste das Herz aus einem Schubfach nahm. Dann kniete er sich vorsichtig neben das Bett und begann, das Herz in Viktor zu legen.
Libitina blieb stehen, ihre Augen nie von Viktor abwendend. Ihre Finger glitten unbewusst über die Spitze ihrer Robe, als sie sich auf den Moment vorbereitete, der kommen würde. Ihre Gedanken waren ruhig, klar, doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass etwas Unerklärliches geschah – etwas, das jenseits der Grenzen der Logik und des Verstandes lag.
Plötzlich, in einem Moment der vollkommenen Unerwartetheit, setzte Viktor sich auf. Es war eine Bewegung, die so abrupt und von einer seltsamen Energie durchzogen war, dass es den Raum mit einem unheimlichen Schaudern erfüllte. Jake und Libitina zuckten gleichermaßen zusammen, als sie sahen, wie Viktor, mit seinem gesichtslosen Blick, den Raum zu durchdringen schien. Die Augen, die nicht mehr da waren, konnten dennoch spüren, dass er sie beobachteten.
„Hallo, Leute! Ich bin Viktor", sagte er mit einer Stimme, die durch den Raum drang, als sei sie aus einer anderen Dimension. Ihre Worte waren verzerrt, wie das Flüstern eines längst verstorbenen Wesens, und sie jagten einen Schauder über Libitinas Haut. Der Klang war eine Mischung aus Schärfe und Leere, eine Vibration, die mehr fühlbar war als hörbar. „Möchtet ihr erfahren, was mich umgebracht hat?"
Die Worte hingen in der Luft wie dunkle Wolken, die den Raum mit einer unheilvollen Schwere füllten. Libitina spürte, wie die Luft um sie herum schwerer wurde, als ob sie versuchte, sich gegen diese Offenbarung zu wehren. Ihre Augen weiteten sich für einen Bruchteil einer Sekunde, als Viktor weiter in seiner eigenartigen, gequälten Weise sprach, aber sie blieb ruhig. Ihre Haltung, auch in diesem Moment des Unheimlichen, war die einer Beobachterin, die das Bild mit einer distanzierten Klarheit aufnahm.
Doch Jake, überfordert und erschüttert von der Intensität des Moments, konnte sich nicht länger halten. Mit einem ungläubigen Blick auf Viktor und einer hastigen Bewegung rannte er aus dem Raum. Libitina hörte die Tür hinter ihm zuschlagen, doch sie ließ ihren Blick nicht von Viktor ab. Der Junge fiel erschöpft zurück ins Bett, als ob seine plötzliche Erhebung ihn mehr ausgelaugt hatte als jede körperliche Anstrengung.
Ein tiefer, fast gähnender Schwebezustand herrschte im Raum, während Libitina ihre Augen schloss, um in sich zu gehen. Was war das, was sie gerade gesehen hatte? Was hatte Viktor tatsächlich überlebt, und was war es, das ihn in diese existenzielle Zwischenwelt verbannt hatte? Sie wusste, dass sie die Antworten kannte und sie hasste.
Enoch stand noch immer regungslos, doch seine Augen brannten vor Verwirrung und etwas anderem – vielleicht Entsetzen. Er konnte die unheimliche Ruhe, die Libitina umgab, nicht begreifen. Die Art und Weise, wie sie dort stand, wie sie sich nicht einmal von den seltsamsten Ereignissen beirren ließ, ließ ihn ratlos zurück. Ihre Präsenz war undurchdringlich, als ob sie nichts und niemanden fürchtete. Sie war wie ein Felsen in einem Sturm, fest verankert, unerschütterlich. Und doch wusste er, dass ihre innere Welt weitaus komplexer war, als ihr äußeres Erscheinungsbild vermuten ließ.
„Hast du keine Angst?" fragte Enoch schließlich, seine Stimme kaum mehr als ein Hauch. Die Worte trafen Libitina wie ein eisiger Windstoß, der durch ihre Gefühlswelt fegte. Sie hob ihren Blick von Viktor, der in seinem traumhaften Zustand regungslos lag, und sah ihm mit einer Intensität entgegen, die fast zu schmerzhaft war. Ihre Augen, von der Dunkelheit der Nacht umgeben, waren wie zwei schwarze Sterne, die ohne Antwort blieben. Sie spürte, wie ihre eigene Ruhe den Raum erfüllte, und dennoch war da diese unstille Tiefe, die ihn in seinen Fragen und Zweifeln ertränken konnte.
„Ich bin der Tod", antwortete sie, ihre Stimme ruhig und unerschütterlich. Ein trockener Unterton schlich sich in ihre Worte, als ob sie ihre eigene Wahrheit aussprach. „Der Tod kann mich nicht erschrecken." In diesem Moment hatte sie sich mit einem Teil von sich selbst versöhnt, der schon lange in der Stille ihrer Existenz verharrte. Diese Worte waren nicht nur eine Erklärung für Enoch, sondern auch für sie selbst. Es war eine Erinnerung an ihre wahre Natur, die selbst die tiefsten Ängste überwand.
Enoch spürte die Schwere dieser Antwort und konnte sich dennoch nicht von seiner eigenen Verwirrung befreien. Er trat einen Schritt näher an sie heran, so nah, dass er ihren Atem in seinem Nacken spüren konnte. Der Raum zwischen ihnen war kaum noch messbar. Ihre Körper waren nicht mehr bloß durch Luft voneinander getrennt, sondern durch all die unausgesprochenen Fragen, die zwischen ihnen schwebten. „Du überraschst mich immer wieder, Beatrix Libitina", flüsterte er, seine Stimme von einer seltsamen, fesselnden Intimität durchzogen. Seine Worte schienen die Luft zum Flirren zu bringen, als er hinter ihr stand, als wollte er in ihre Seele blicken. Seine Nähe war ein Magnet, der sie beinahe in seinen Bann zog, und doch hielt sie inne.
Libitina atmete tief ein, und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Ihre Augen, die stets so kontrolliert und unergründlich waren, suchten nun nach etwas in ihm, das sie nicht benennen konnte. Ihre Hand berührte sanft den Stoff ihrer Robe, als ob sie sich an etwas festhalten wollte, während ihre Gedanken zwischen den Schatten des Raumes tanzten.
„Darf ich dich etwas fragen?" fragte sie schließlich, ihre Stimme überraschend weich, fast verletzlich. Ihre Worte hatten eine Schärfe, die sie selbst nicht erwartet hatte, als die Frage über ihre Lippen kam.
Enoch spürte das Zögern in ihrer Stimme und sah, wie sich ihre Haltung ein wenig veränderte, als sie sich zu ihm umdrehte. Ihre Augen bohrten sich in seine, und für einen Augenblick fühlte er sich, als ob er von ihr durchdrungen würde. Er nickte, fast unbewusst, seine Antwort in der Nähe, die sie jetzt teilten. Doch es war nicht nur seine Zustimmung, die er ihr gab. Es war die Bereitschaft, sich in diesem Moment dem Unausgesprochenen zu stellen, das zwischen ihnen lag. Seine Hände, die bislang zitternd in der Luft schwebten, berührten leicht ihren Hals – eine Geste der Nähe, der Intimität, die er nicht kontrollieren konnte.
Libitina spürte das Aufbäumen der Emotionen in ihr, als sie ihn sanft ermahnte: „Hör auf, es ist ein Kind hier." Ihre Worte hatten eine tiefere Bedeutung, als sie ihm zunächst zugestand, und ihre Stimme war fester, als sie die Grenze zwischen ihnen und dem Raum des Schmerzes, der vor ihnen lag, aufzeigte.
Enoch reagierte sofort, ein flüchtiges Zucken in seiner Miene verriet, dass er wusste, was sie meinte. Doch er konnte sich nicht vollständig von dem drängenden Gefühl befreien, das ihn in diesem Moment überkam. „Ein totes Kind...", murmelte er, und in seinen Worten lag eine düstere Schwere, die Libitina einen tiefen Kloß im Hals verursachte. Der Raum schien plötzlich noch enger zu werden, von einer Welle der Emotionen durchzogen.
Die Stille war betäubend, und Libitina, so ruhig sie auch war, konnte nicht verhindern, dass ihre nächste Frage wie ein Schuss durch die Luft zuckte. Sie drehte sich abrupt zu ihm um, ihre Augen suchten die seinen mit einer Intensität, die fast zu viel war. „Haben Olive und du was?" Ihre Worte hingen schwer in der Luft, und Enoch erstarrte. In seinem Blick lag eine Mischung aus Überraschung und Verletztheit, als ob ihn der Vorwurf völlig unvorbereitet getroffen hatte.
„Oh Gott, nein! Wie kommst du auf so etwas?" Enoch trat einen Schritt zurück, als ob er ihre Worte nicht ganz begreifen konnte. Doch die Frage hatte etwas in ihm ausgelöst, das er nicht mehr zurückhalten konnte. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, und er kniete sich vor Libitina hin, als ob er die Schwere ihrer Worte mit einem Akt der Demut beantworten wollte. „Seitdem du verschwunden warst... irgendwann... war sie für mich da... sie...", sagte er, die Worte stockend, als kämpfte er mit den Gefühlen, die sich in ihm entluden.
Libitina spürte, wie der Schmerz in ihren eigenen Augen aufstieg. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln, doch sie kämpfte gegen sie an, die Wut und Enttäuschung in ihr verkrampften sich. Ihre Stimme, als sie schließlich sprach, war geladen mit der Schärfe einer tiefen Verletztheit: „Wow, ich verschwinde, du hältst mich nicht auf, und dann... dann schläfst du mit meiner besten Freundin." Ihre Worte schnitten durch die Luft wie ein Messer, die Kälte, die sie ausstrahlte, war greifbar.
Enoch fühlte, wie der Boden unter ihm schwankte. Diese Worte trafen ihn, und er wusste, dass er nie mehr in der Lage sein würde, sie zu leugnen. Doch was er fühlte, war mehr als nur Schuld. Es war ein Gefühl des Verlustes, das so tief ging, dass es beinahe unerträglich war.
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