kapitel 14 : mein lieber baum
Claire hob ihren Kopf und sah zu Libitina auf, ihre Augen leuchteten wie zwei kleine Sterne am nächtlichen Himmel. Das Blau ihrer Iris strahlte so klar und unschuldig, dass es die warme Sonne, die über den Garten lag, noch heller erscheinen ließ. Ihr Gesicht war ein offenes Buch aus Neugier und Staunen, jedes Lächeln, jedes Zucken der Mundwinkel erzählte von einer Welt voller unendlicher Fragen. Libitina fühlte sich von diesem Blick durchdrungen, als ob Claire, mit ihrer kindlichen Reinheit, mühelos in die verborgensten Ecken ihrer Seele schauen könnte.
Mit einer Stimme, die wie das leise Summen einer Harfe klang, fragte Claire schließlich: „Warum siehst du Trixi so ähnlich?" Ihre Worte waren zart, fast ehrfürchtig, als spräche sie von etwas Magischem, etwas Heiligem.
Libitina stockte der Atem. Der Name „Trixi" traf sie mit einer unverhofften Wucht, die sie beinahe ins Wanken brachte. Eine Flut von Erinnerungen brach über sie herein, so lebendig und überwältigend, dass sie für einen Moment die Welt um sich herum vergaß. Vor ihrem inneren Auge erschien das Gesicht ihrer Großmutter – Trixi. Die Frau, die für sie ein Leuchtturm in stürmischen Zeiten gewesen war, deren Lächeln heller leuchtete als die Sonne. Sie sah Trixis Hände, die stets nach Blumen dufteten, und hörte ihr ansteckendes Lachen, das so oft die Schatten ihres Lebens vertrieben hatte.
Libitina kniete sich langsam hin, um Claires großen, fragenden Augen auf Augenhöhe zu begegnen. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, und ein bittersüßes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Trixi war meine Grandma", begann sie leise, ihre Stimme bebte leicht unter der Last von Liebe und Sehnsucht. „Sie war... eine ganz besondere Frau. Sie hat mich vieles gelehrt – über Mut, über Güte, über das Leben. Und ja," fügte sie hinzu, während ihre Finger sanft durch Claires weiches Haar fuhren, „wir sehen uns ähnlich, weil wir dasselbe Blut teilen. Sie ist ein Teil von mir, so wie ich ein Teil von ihr bin."
Claire lauschte still, mit einem Ausdruck der Ehrfurcht, als hörte sie die spannendste Geschichte ihres Lebens. Ihr Blick war fest auf Libitinas Gesicht gerichtet, und als Libitina endete, blieb für einen Moment nur das Zwitschern der Vögel im Garten. Schließlich öffnete Claire ihre kleine Hand und enthüllte eine strahlend gelbe Blume, deren Blütenblätter im Sonnenlicht glitzerten. „Hier", sagte sie mit einem strahlenden Lächeln und streckte die Blume Libitina entgegen, „für dich. Weil du so lieb bist."
Libitina nahm die Blume mit beiden Händen, als hielte sie einen Schatz, der mit keinem Reichtum der Welt aufzuwiegen war. Der zarte Duft der Blüte umfing sie, und eine sanfte Wärme durchströmte ihr Herz. Es war, als ob Claire, ohne es zu wissen, ein Stück von Trixis Geist zurück in die Welt gebracht hatte. Tränen stiegen in ihre Augen, doch sie blieben unausgesprochen, glitzernd wie Perlen im Licht. „Danke, Claire", flüsterte sie schließlich, ihre Stimme so weich und voller Gefühl, dass es klang, als spräche sie ein Gebet. Diese Worte, so schlicht sie waren, trugen all die Dankbarkeit und Liebe, die sie in diesem Moment fühlte.
Claire lächelte sie an, ein Lächeln so rein und unbefangen, dass Libitina es wie einen Sonnenstrahl auf ihrer Haut spürte. Die beiden sahen sich für einen stillen Moment an, und etwas unausgesprochenes, ein Band jenseits von Worten, formte sich zwischen ihnen. Es war ein Augenblick, der wie ein Schatz in ihren Herzen bleiben würde.
Libitina erhob sich langsam, die Blume fest in ihrer Hand, und legte ihre Arme um Claire. „Kommt, meine Lieben", sagte sie sanft, ihre Stimme war warm und von einem neuen Licht erfüllt, „lasst uns weitergehen." Die Zwillinge griffen nach ihren Händen, ihre kleinen Finger verschränkten sich mit den ihren, und zusammen schlenderten sie durch den Garten, getragen von einer unsichtbaren Harmonie. Doch plötzlich durchbrach ein Aufschrei die friedliche Atmosphäre, und Libitina hörte eine aufgeregte Stimme: „Gib ab, Millard! Wir spielen doch zusammen!" Der Ruf kam von einem Jungen, der in einem heftigen Streit mit einem anderen Jungen vertieft war. Millard und Hugh – zwei der besonderen Kinder, die hier lebten.
Miss Peregrine wandte sich zu ihr und den Kindern um und stellte die beiden Jungen vor. „Millard kennt ihr schon", sagte sie mit einem leichten Lächeln, „und das ist Hugh." Libitina beobachtete die beiden mit einem warmen Lächeln, das die Kinder sofort beruhigte. Millard, der nur teilweise sichtbar war, da er sich in seine Unsichtbarkeit zurückzog, und Hugh, der einen Hauch Abenteuerlust in den Augen trug und scheinbar immer etwas Neues ausprobieren wollte.
Die beiden spielten Fußball, und Libitina beobachtete fasziniert das Spiel. Doch gerade als Hugh sich triumphierend an die Spitze dribbelte, öffnete er den Mund – und eine kleine Armee von Bienen schwirrte heraus, die wild umherflogen. Libitina lachte überrascht auf und rief: „Ey, Foulen gilt nicht, Hugh!" Ohne zu zögern, stürmte sie geschickt auf die beiden Jungen zu und nahm Hugh den Ball mit einer geschickten Drehung ab. „Hör auf zu schummeln, Hugh!" ermahnte sie ihn, ein spielerisches Funkeln in den Augen, und sofort jagte sie ihm mit Millard gemeinsam hinterher, der begeistert an ihrer Seite mitlief und Hugh immer wieder versuchte zu überholen.
„Millard! Das war schon wieder ein Foul!" rief Libitina schmunzelnd, als Millard den Ball schließlich schnappte und ihn mit einem gezielten Schuss direkt in das Maul eines Dinosauriers kickte, der unerwartet aus einem dichten Gebüsch aufgetaucht war. Die Szene war so absurd und komisch, dass Libitina das Lachen nicht mehr zurückhalten konnte.
Dann entdeckte sie einen Jungen im Anzug am Spielfeldrand, der die Szene mit einem amüsierten, aber dennoch erhabenen Lächeln beobachtete. Mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen stemmte Libitina die Hände in die Hüften und rief ihm zu: „Schiedsrichter? Was sagen Sie dazu?"
Der Junge im makellosen Anzug, dessen Haltung eine freundliche Autorität ausstrahlte, trat vor und antwortete mit einer ruhigen, sanften Stimme: „Wenn ihr nicht in der Lage seid, ohne Streit zu spielen, wäre es vielleicht besser, wenn ihr das Spiel ganz sein lasst." Die Worte hatten etwas Endgültiges und Gütiges zugleich. In seinen Augen schimmerte ein Verständnis, das weit über das eines gewöhnlichen Kindes hinausging, und für einen Moment verlieh er dem unbeschwerten Spiel der Kinder eine gewisse Ernsthaftigkeit.
Libitina war fasziniert von diesem friedlichen Anführer, der es schaffte, die aufgeheizte Stimmung mit ein paar Worten zu beruhigen. In diesem Augenblick sah sie die vielen Facetten dieser Kinder – ihre ungewöhnlichen Talente, ihre Eigenheiten, und doch auch ihre Verletzlichkeit und das kindliche Bedürfnis nach Führung und Schutz. Miss Peregrine trat zu ihnen und legte eine Hand auf Libitinas Schulter, ihre Augen funkelten in stiller Zufriedenheit. „Das ist ihr Zuhause, Libitina. Ein Ort, an dem sie sein dürfen, was sie sind."
Libitina nickte langsam und spürte, wie ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Friedens sie durchströmte. Ein Gefühl, dass sie genau hier, zwischen all diesen besonderen Kindern und den liebevoll verschrobenen Regeln ihrer Welt, den Ort gefunden hatte, der nicht nur die Kinder, sondern auch sie selbst beschützte und heilte.
Die goldene Sonne tauchte den Garten von Miss Peregrine in ein warmes, sanftes Licht, während Libitina, neben Jake stehend, beobachtete, wie Horace sich ihnen näherte. Sein Auftreten hatte eine natürliche Eleganz, fast wie die eines Mannes aus einer anderen Zeit. Jeder seiner Schritte wirkte durchdacht, und das leichte Knistern des Kieswegs unter seinen Schuhen schien den Moment zu unterstreichen.
"Guten Tag, ich bin Horace, sehr erfreut, euch kennenzulernen," sagte er, seine Stimme sanft, aber von einer gewissen Selbstsicherheit getragen. Als er Jake die Hand reichte, blickte er kurz zu Libitina, die mit einer Mischung aus Neugier und Zurückhaltung seine Bewegungen beobachtete. Neben Jake fühlte sie sich sicher, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, warum dieser Mann eine so starke Präsenz hatte.
Horace' Blick traf schließlich den ihren. Sein Lächeln vertiefte sich, und eine warme, aufrichtige Bewunderung flackerte in seinen Augen auf. "Wenn ich so frei sein darf zu bemerken, du bist bemerkenswert hübsch," fügte er hinzu und verneigte sich leicht, als wolle er den Moment zusätzlich mit einer Geste betonen. Libitina fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden, obwohl sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ihre Finger glitten unbewusst über den Saum ihres Kleides, ein kleiner Nervositätsreflex, den sie nicht ganz unterdrücken konnte. Was dachte dieser Mann über sie? Meinte er das wirklich ernst oder war es nur eine höfliche Floskel?
Seine nächsten Worte durchbrachen ihre Gedanken: "Und wie es scheint, bist du eine begabte Fußballspielerin sowie eine geschickte Streitschlichterin." Sein Tonfall war respektvoll, beinahe bewundernd, und Libitina konnte nicht anders, als ein kleines, zögerndes Lächeln zu erwidern. "Das... danke," brachte sie schließlich leise hervor. Ihre Stimme war unsicher, fast ein wenig verloren, doch innerlich spürte sie einen Funken Stolz, dass jemand wie Horace ihre Fähigkeiten bemerkt hatte.
Horace schwenkte seinen Blick zu den anderen Kindern, die in einiger Entfernung spielten. "Ihr scheint dringend etwas Nachwuchs zu benötigen," bemerkte er, seine Worte mit einem schelmischen Unterton versehen. Ein leises Lachen entfuhr ihm, bevor er seinen Blick auf Jake richtete. "Schickes Hemd übrigens." Er nickte anerkennend, bevor er sich mit einer fast aristokratischen Leichtigkeit von ihnen entfernte, seine Haltung makellos, als hätte er eine unsichtbare Choreografie verinnerlicht.
Libitina folgte ihm mit ihren Augen, während er zwischen den Bäumen verschwand. Irgendetwas an seiner Art faszinierte sie, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, ob sie diese Bewunderung teilen oder ihm skeptisch begegnen sollte. Ihre Gedanken wirbelten, und doch konnte sie ein kleines Schmunzeln nicht unterdrücken. Es war ein Schmunzeln, das gleichermaßen von Amüsement wie von einer stillen Bewunderung zeugte.
"Herzerwärmend, wie eh und je," murmelte sie schließlich leise, mehr zu sich selbst als zu den anderen. Die melancholische Wärme ihrer Stimme ließ Jake und Miss Peregrine aufhorchen. Jake musterte sie fragend, doch Libitina schüttelte nur leicht den Kopf, ihr Blick immer noch in die Ferne gerichtet.
In diesem verwunschenen Ort, wo die Zeit ihre eigene Bedeutung hatte, fühlte sie sich, als wäre alles – selbst ein kurzes Gespräch – von einer besonderen Magie durchdrungen. Jede Begegnung, jedes Wort trug mehr Gewicht, als es in der Welt außerhalb dieses Gartens je könnte. Sie konnte nicht genau sagen, warum, aber sie empfand eine tiefe Dankbarkeit für diesen Ort und die Menschen, die ihn bevölkerten.
Miss Peregrines Stimme lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück in die Gegenwart. "Emma kennt ihr natürlich schon," sagte sie und wies auf das Mädchen, das sich ein Seil über die Schulter gelegt hatte und konzentriert nach oben blickte. Libitina beobachtete sie einen Moment lang, doch ihre Gedanken glitten erneut davon. Wie konnte es sein, dass dieser Ort immer wieder neue Geheimnisse offenbarte? Sie spürte eine unbestimmte Vorfreude, gemischt mit einem Anflug von Unruhe – was, wenn noch mehr Überraschungen auf sie warteten? Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie bereit war, alles anzunehmen, was dieser seltsame, wundersame Ort ihr noch zu bieten hatte.
Ihre Neugier trieb sie jedoch dazu, sich von der Gruppe zu lösen, ohne zu bemerken, dass Enoch sie aufmerksam beobachtete. Libitina näherte sich einem majestätischen Baum, der abseits stand, und ihre Finger fanden Halt an den rauen Rinden, während sie behutsam begann, den Baum hinaufzuklettern. Das Aufsteigen erwies sich als weitaus anspruchsvoller, als sie es sich vorgestellt hatte, und sie bewegte sich mit Bedacht, um nicht abzurutschen. "Mein lieber Baum, du bist aber gewachsen", flüsterte sie, als wäre der Baum ein alter Freund, den sie nach langer Zeit wiedersah. Sie biss sanft auf ihre Unterlippe, während sie tief Luft holte. Von hier oben schien der Absturz in die Tiefe noch unergründlicher und gefährlicher zu sein. Ein schwerer Seufzer entfloh ihren Lippen, als sie schließlich auf einem massiven Ast Platz nahm und sich an den starken Baumstamm lehnte. "Zumindest verurteilst du mich nicht", murmelte sie leise, während sie die beeindruckende Aussicht auf den Garten genoss.
Doch in diesem Moment durchbrach eine Stimme ihre Gedanken, und Libitina schrak auf. "Redest du wirklich mit dem Baum?", erklang die Frage von Enoch, der unter ihr stand und sie mit einer Mischung aus Verwunderung und Interesse betrachtete. Ihre Augen trafen sich, und Libitina fühlte sich ertappt, doch sie wich nicht zurück. "Und wenn schon?", entgegnete sie trotzig, während sie ihren Standpunkt verteidigte. "Dann bist du wohl verrückt", kommentierte Enoch trocken, doch Libitina war nicht gewillt, nachzugeben. Stattdessen konterte sie mit Entschiedenheit und einem Hauch von Rebellion: "Lieber verrückt, als ein Herz aus Stein zu haben." In ihren Worten lag eine tiefe Überzeugung und ein unerschütterlicher Glaube an die Einzigartigkeit dieses magischen Ortes und der Menschen, die ihn bewohnten.
Die Welt um Libitina verlor für einen kurzen, schrecklichen Moment ihre Stabilität. Der Ast, auf dem sie gestanden hatte, glitt plötzlich unter ihren Füßen weg, und sie fand sich in einem furchterregenden freien Fall wieder. Ein markerschütternder Schrei entrang sich ihrer Kehle, während ihre Hände nach einem rettenden Griff suchten. Die Zeit dehnte sich aus, und ihr Herzschlag schien im Takt der Todesangst zu rasen.
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