kapitel 1 : aber eine nacht
Libitina stand inmitten eines blassen Morgennebels, der die Welt um sie herum in gedämpftes Licht hüllte. Alles schien in diesem Licht zu verschwimmen, fast so, als ob es gar nicht real war. In dieser Welt, die Libitina umgab, schienen finstere Schatten und unheimliche Wesen nur darauf zu warten, ihren nächsten Schritt zu tun. Sie spürte, wie die Augen dieser Gestalten auf ihr lasteten, wie ihre Präsenz ihr folgte – lautlos und bedrohlich, wie ein immerwährendes Murmeln im Hintergrund, das nur sie hören konnte. Es war, als hätte sich die Dunkelheit der Nacht nicht wirklich verzogen, sondern wie ein unsichtbarer Schleier über den Tag gelegt.
Libitina zog den schwarzen Mantel enger um sich, die Finger kneteten den dicken Stoff, als suchte sie darin Schutz. Der Mantel war alt und an den Säumen abgewetzt, doch sie liebte ihn, weil er schwer und wärmend auf ihren Schultern lag, wie eine schützende Decke gegen die Welt. Darunter trug sie ein einfaches, langes Kleid aus tiefgrünem Stoff, dessen Farbe so dunkel war, dass sie beinahe mit der Farbe ihrer Haare verschmolz. Ihr schwarzes Haar fiel in dichten Wellen über ihre Schultern und wirkte wie eine Verlängerung der Dunkelheit, die sie immer umgab.
Ihre Haut war fahl, beinahe durchscheinend, und verlieh ihr ein kränkliches Aussehen, das andere irritierte. Die Menschen in ihrem Umfeld warfen ihr oft besorgte oder gar erschrockene Blicke zu, als wäre sie ein Wesen, das nicht ganz in diese Welt gehörte. Ihre Augen, ein klares, tiefes Blau, hatten etwas Unergründliches. Wer zu lange hineinblickte, hatte das Gefühl, hineingesogen zu werden, als ob ihre Augen der Eingang zu einem verborgenen Abgrund wären.
Libitina wusste um die Wirkung, die sie auf andere hatte. „Die Menschen sehen mich und sehen etwas, das sie nicht verstehen", dachte sie oft, „und was man nicht versteht, fürchtet man." Und manchmal fragte sie sich, ob sie selbst Teil jener unheilvollen Schatten war, die sie ständig zu verfolgen schienen.
„Fühlst du dich manchmal bedeutungslos?", fragte Libitina unvermittelt und schaute dabei nicht auf. Sie schien den Blick auf einen unsichtbaren Punkt in der Ferne gerichtet zu haben, ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Doch sie wusste, dass Jake sie hören würde. Es war, als müsste sie diese Worte einfach loswerden, als würde die Frage sie von innen heraus zersetzen, wenn sie sie nicht aussprach.
Jake, der im Halbdunkel des Ladens neben ihr stand, hielt inne. Er war dabei gewesen, eine neue Lieferung Windeln zu sortieren, was ihm etwas Trost im Alltag bot, eine Art von Routine, die er Libitina so oft wünschte. Er kannte ihre melancholische Seite, doch solche tiefen Fragen überraschten ihn immer wieder. Langsam richtete er sich auf und sah zu ihr hinüber, musterte sie aus den Augenwinkeln, ohne sie direkt anzusehen.
„Was meinst du damit?", fragte er schließlich, seine Stimme sanft, doch neugierig. Er versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen, was in ihr vorging, aber wie so oft blieb ihr Ausdruck undurchdringlich.
Libitina zuckte mit den Schultern und begann, in ihrem Notizbuch herumzukritzeln. Ihre Finger umklammerten den Stift fest, als ob sie die Worte, die sie sagen wollte, durch das Papier bannen könnte. Sie schrieb darin nicht viel – oft waren es nur lose Worte, Bruchstücke von Gedanken, Bilder, die sie in ihren Kopf schossen und die sie nicht ganz begreifen konnte. „Deine Fußspuren im Sand sind morgen schon wieder verschwunden", murmelte sie und sah Jake dann direkt an, fast herausfordernd. „Verstehst du das? Jeder Tag ist doch immer gleich. Sie sagen uns, wir sollen das Leben genießen und Freundschaften schließen, aber was ist das Leben schon? Alkohol? Sex? Drogen? Ist das wirklich alles?"
Jake atmete langsam aus und ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Er wusste, dass Libitina nicht wollte, dass er ihr widersprach oder ihre Gedanken einfach wegwischte. Sie wollte gesehen und gehört werden, wollte spüren, dass jemand sie verstand, auch wenn es nur bruchstückhaft war.
„Ich denke...", begann er vorsichtig, „vielleicht versuchen die Menschen, sich irgendwie lebendig zu fühlen. Jeder auf seine Weise." Dann zuckte er mit den Schultern, ein wenig ratlos, wie er ihr mehr sagen könnte, ohne selbst ins Stolpern zu geraten. „Aber vielleicht... hast du recht. Vielleicht ist vieles einfach bedeutungslos. Aber du... du bist anders, Libitina. Das, was du siehst... es ist etwas, das andere nicht sehen. Es hat eine Bedeutung. Du hast eine Bedeutung."
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, doch es war ein Lächeln ohne Freude. „Du sagst das nur, weil du mein Freund bist", erwiderte sie leise, fast schon resigniert. Sie sah an ihm vorbei, wieder in die Ferne, und ihre Augen schienen für einen Moment in einem Schatten zu verschwimmen, der plötzlich aus dem Nichts kam. Sie wusste, dass sie Dinge wahrnahm, die anderen verborgen blieben. Sie sah die verborgenen Fehler der Welt, das, was die Menschen zu verbergen suchten, das, was man in der Dunkelheit begraben glaubte. Und sie lebte von dieser Dunkelheit, in seltenen, unheilvollen Momenten, wenn sie nicht anders konnte und die finsteren Mächte nach ihr griffen, wie gierige Hände, die in ihrem Innersten wühlten.
Ein frösteln lief ihr über den Rücken, als sie ihre Gedanken erneut zu jenen finsteren Wesen wandern ließ, die ihr folgten. Würde sie ihnen jemals entkommen können? Oder war sie verdammt, immer am Rande dieser Abgründe zu stehen, immer verfolgt, immer allein in ihrer Welt der Schatten?
Jake legte vorsichtig eine Hand auf ihre Schulter, als wollte er sie aus ihren Gedanken zurückholen, sie wieder in die Wirklichkeit bringen, in eine Welt ohne Dämonen und Geheimnisse. „Du bist nicht allein, weißt du", sagte er sanft und hielt ihren Blick, bis sie wieder in die Realität zurückkehrte.
In diesem Augenblick betrat ein Mädchen in Jakes Alter die Szene. Libitina stand still und musterte das seltsame Schauspiel vor ihr mit einer Mischung aus Verwirrung und einer unterschwelligen Eifersucht, die sie sich kaum einzugestehen wagte. Das blonde Mädchen mit dem eleganten Sommerkleid und dem verführerischen Selbstbewusstsein passte in diese düstere, stille Umgebung so wenig wie eine strahlende Lilie auf einem Friedhof. Und doch schien es, als würde sie sich hier, zwischen den endlosen Regalreihen des kleinen Ladens, völlig ungestört und zu Hause fühlen.
Libitina beobachtete das blonde Mädchen mit einer Mischung aus Faszination und Argwohn. Die Eleganz, mit der sie sich bewegte, das leichte Lächeln, das ihre Lippen umspielte, während sie Jake ansah – all das ließ Libitina in einen seltsamen Zustand der Selbstzweifel verfallen. Neben der Fremden fühlte sie sich plötzlich unsichtbar, wie ein Schatten in der Ecke, zu blass, zu still, zu fremdartig. Ihre blasse Haut und ihr dunkles Kleid wirkten wie ein starker Kontrast zu den sommerlichen Farben des Mädchens, dessen Gesicht die Leichtigkeit und Sorglosigkeit eines Frühlingsmorgens ausstrahlte.
Sie nahm unbewusst eine Strähne ihres schwarzen Haars und begann, damit zu spielen, während sie die Szene beobachtete. Ein Teil von ihr wollte einfach weitergehen, den Blick abwenden, sich wieder in die Welt der Dunkelheit und Geheimnisse zurückziehen, die ihr vertraut war. Aber sie konnte nicht – etwas in ihr wollte wissen, warum dieses Mädchen hier war, was sie an Jake interessierte und ob es einen Grund gab, warum sie sich so plötzlich fehl am Platz fühlte.
„Hi, ich bin's, Jake", brachte Jake heraus, seine Stimme etwas zu hoch und sein Gesicht leicht gerötet. Libitina spürte, wie sich ein leises, amüsiertes Lächeln auf ihre Lippen schlich. Er wirkte so seltsam nervös, fast schüchtern, ein Zustand, den sie an ihm selten sah. Jake, ihr Jake, der sonst so ruhig und gelassen war, stammelte wie ein kleiner Junge vor diesem Mädchen, das er scheinbar kaum kannte.
Libitina biss sich sanft auf die Unterlippe und spürte, wie ein Hauch von Unsicherheit in ihrem Inneren aufstieg. Ihre Augen, tief und unergründlich, wanderten zwischen Jake und dem Mädchen hin und her, versuchten, in seine Gedanken zu blicken, doch seine Unsicherheit spiegelte sich nur in der Art wider, wie er sich an den Karton in seiner Hand klammerte. „Warum verhält er sich so anders?", dachte sie, während sie das seltsame Kribbeln in ihrem Magen zu ignorieren versuchte.
Ihre Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als das Mädchen eine Packung Windeln in die Hand nahm, beinahe beiläufig, als würde sie sich etwas ganz Alltägliches ansehen. Libitina runzelte die Stirn und kaute sanft auf dem Ende ihres Stiftes, während sie das Geschehen still beobachtete. Was hatte dieses grazile Mädchen mit einer Packung Windeln zu schaffen? Die Verwirrung in ihrem Inneren malte sich nun deutlich auf ihrem Gesicht ab, ihre rechte Augenbraue zog sich in einer eleganten, skeptischen Linie nach oben.
„Hey! Vergiss deine Erwachsenenwindeln nicht!", rief das blonde Mädchen – Amy, wie Libitina hörte – fröhlich und warf die Packung dem blonden Jungen zu, der soeben um die Ecke kam. Der Junge fing sie geschickt auf, ein leichtes, unbeschwertes Lachen in seinen Augen, und erwiderte das Spiel sofort. „Ja, genau!", rief er und warf die Windeln zurück zu Amy, die sich spielerisch duckte und den Wurf mit einem kleinen Lachen auswich. Die Packung landete unsanft auf einem Stapel weiterer Windeln, die sich nun über den Boden verstreuten.
Libitina blinzelte und nahm all das mit einem Gefühl des Staunens auf, fast wie eine Beobachterin aus einer anderen Welt. Sie war es nicht gewohnt, solche Szenen der Leichtigkeit und Unbeschwertheit mitzuerleben. Ihr Leben war geprägt von Schatten und Geheimnissen, von Dingen, die sie sah, die andere nicht wahrnehmen konnten oder wollten. Diese unbeschwerte Freude war ihr fremd, und doch übte sie eine seltsame Faszination auf sie aus.
Der blonde Junge fing ihren Blick auf und zwinkerte ihr zu, eine selbstbewusste, ungezwungene Geste, die sie völlig aus dem Konzept brachte. Sie fühlte, wie ihre Wangen leicht warm wurden, und wandte rasch den Blick ab, doch die Erinnerung an sein Zwinkern blieb. Warum hatte er das getan? Was wollte er ihr damit sagen? Sie fühlte sich plötzlich wie ein Eindringling in dieser Szene, als gehöre sie nicht wirklich dazu, als wäre sie nur ein Schatten in ihrer eigenen Welt.
„Libitina?" Die Stimme von Jake holte sie aus ihren Gedanken zurück, und sie sah auf, traf seinen Blick. Für einen Moment glaubte sie, etwas wie Verständnis in seinen Augen zu sehen, als hätte er bemerkt, wie sehr sie sich fehl am Platz fühlte. Doch bevor sie etwas sagen konnte, trat Amy einen Schritt näher und richtete ihre strahlend blauen Augen auf Libitina.
„Und du bist... Libitina, richtig? Jake hat mir von dir erzählt", sagte Amy mit einem Lächeln, das zugleich offen und doch irgendwie neugierig war. Es war nicht wirklich feindselig, und doch schien es in Libitina eine Welle der Unsicherheit zu wecken.
Libitina nickte und bemühte sich um ein Lächeln, obwohl sie sich unter Amys Blick seltsam klein und verletzlich fühlte. „Ja", antwortete sie leise, ihre Stimme fast ein Flüstern. „Ich bin Libitina."
Amy musterte sie einen Moment lang, und Libitina fühlte sich wie unter einem unsichtbaren Scheinwerfer. Sie schien das Mädchen vor sich zu beurteilen, und Libitina fragte sich, was sie in ihren blassen Wangen und den tiefdunklen Augen sah – die Augen, die so oft in die Dunkelheit blickten und Dinge wahrnahmen, die andere nicht einmal ahnten.
„Ich wollte nur mal hallo sagen", sagte Amy schließlich und schenkte ihr ein warmes Lächeln, das Libitina etwas von ihrer Unsicherheit nahm. „Jake und ich kennen uns von früher, und ich dachte, ich schau mal vorbei."
Libitina nickte, versuchte sich zu entspannen, doch innerlich spürte sie, wie ein Schatten des Zweifels über sie fiel. „Sie ist so... anders", dachte sie, während sie Amy musterte, deren strahlende Präsenz einen starken Kontrast zu ihrer eigenen düsteren Erscheinung bildete. Was war es, das Jake und Amy verband? Und warum fühlte sie sich plötzlich so fremd, als gehörte sie nicht mehr wirklich in seine Welt?
Während Amy und der blonde Junge mit unbeschwerter Leichtigkeit miteinander scherzten, spürte Libitina, wie eine leise Traurigkeit in ihr aufstieg. Ein Teil von ihr sehnte sich nach dieser Leichtigkeit, nach einem Leben ohne Geheimnisse, ohne die ständige Last der Dunkelheit, die sie mit sich trug. Doch sie wusste, dass sie niemals einfach jemand wie Amy sein könnte – strahlend, sorglos, ohne die Last des Unsichtbaren in ihren Gedanken.
Libitina stand in der Mitte des kleinen Ladens, das Licht warf einen schwachen, kühlen Schein auf ihre schmale Gestalt. Sie war eine auffällige, ungewöhnliche Erscheinung – ihre Haut blass wie elfenbeinernes Porzellan, beinahe durchsichtig und von einer kühlen Ruhe durchdrungen, die gleichzeitig verführerisch und unheimlich wirkte. Ihr langes, schwarzes Haar fiel in dunklen, seidigen Wellen über ihre Schultern und reichte bis zu ihrer Taille, wie ein dichter Schleier aus Schatten, der sie zu umgeben schien. Ihr Kleid, schlicht und tiefschwarz, schmiegte sich an ihre schlanke Figur und verstärkte den dramatischen Kontrast zu ihrer blassen Haut. Es schien, als würde sie selbst die Dunkelheit anziehen und mit einer geheimnisvollen, stillen Kraft durch den Raum tragen.
Ihre Augen waren tief und durchdringend, von einem seltsam blauen Farbton, der an den unendlichen Ozean erinnerte – oder an eine Stelle, die so tief unter der Wasseroberfläche lag, dass sie von der Dunkelheit verschluckt wurde. Es war ein Blau, das neugierig machte, das einen Sog in sich trug, in den nur die Mutigsten sich hineinzutrauen wagten. In diesem Moment blitzte ein kaltes, fast überlegenes Lächeln über ihr Gesicht, als der blonde Junge sie frech mit seinem Blick herausforderte.
Ein spöttischer Kommentar aus der Gruppe, ein Lachen, das versucht, die Spannung zu zerstreuen – „Hör auf! Sie ist nicht ganz dicht im Kopf," rief einer, und Libitina bemerkte das unbehagliche Zucken in Jakes Gesicht, das leichte Erröten seiner Wangen, als er verlegen die Blicke mied. Ihre Kiefermuskeln spannten sich an. Sie kannte diese Blicke, diese Anspielungen. Sie war für die Menschen in ihrer Stadt nicht mehr als eine merkwürdige Außenseiterin, das unnahbare Mädchen, das angeblich in einer anderen Welt lebte und Dinge sah, die kein anderer sehen konnte.
Doch bevor sie irgendetwas erwidern konnte, ertönte die freche Stimme des Blonden, der ein breites, herausforderndes Grinsen auf den Lippen trug. „Na und? Vielleicht ist sie verrückt, aber sie ist verdammt heiß!" Seine Worte hallten in der kleinen, stillen Ladenatmosphäre wider, und ein Teil von Libitina, dieser Teil, der es gewohnt war, übersehen oder gemieden zu werden, erhob sich in ihr.
Sie spürte, wie eine leise Hitze in ihr aufstieg, die sie aus der gewohnten, kühlen Ruhe herausriss. Ihre Augen verengten sich, während sie auf ihn zuging, fast wie ein Raubtier, das sich seiner Beute nähert. Sie bewegte sich geschmeidig und elegant, wie eine Tänzerin, und trat näher an ihn heran, bis sie fast seine Schulter berührte. Ihr Kopf neigte sich leicht zur Seite, sodass ihr Haar in einer dunklen Welle über ihre schmale Schulter fiel, während ihre Lippen sich in einem gefährlichen Lächeln verzogen.
„Ich weiß, dass ich heiß bin," sagte sie leise und ließ die Worte wie ein sanftes, aber scharfes Versprechen in der Luft hängen. Ihre Stimme war leise, fast ein Flüstern, aber ihre Augen funkelten wie der scharfe Rand eines Dolches. Sie beugte sich noch näher zu ihm, so dass ihr Atem seine Wange streifte, und raunte ihm dann mit einer leichten, verführerischen Note ins Ohr: „Aber eine Nacht mit mir würdest du nicht überstehen, Junge."
Für einen Moment herrschte absolute Stille. Der blonde Junge, der zuvor so selbstbewusst und keck gewesen war, schluckte sichtbar, und sein Grinsen wich einem irritierten Zucken in seinen Augen. Er wich unbewusst einen Schritt zurück, und ein Schaudern lief ihm über den Rücken. Amy, die die Spannung zwischen ihnen spürte, trat vor und packte den Arm des Jungen, zog ihn sanft aber bestimmt mit sich, während sie einen warnenden Blick auf Libitina warf. Die Gruppe, die soeben noch in lockerer Heiterkeit beieinander stand, wurde plötzlich still und löste sich rasch auf.
Doch bevor der Blonde den Laden verließ, drehte er sich noch einmal zu Libitina um und zwinkerte ihr zu, ein Zeichen, das halb herausfordernd, halb neugierig wirkte. Doch in diesem Moment veränderte sich etwas in ihr. Libitinas Augen, die tiefblauen Fenster zu einer anderen Welt, verdunkelten sich, als ein seltsamer Schatten in ihnen aufstieg. Die Pupillen dehnten sich aus, verschluckten das Blau ihrer Iris, bis nur noch eine schwarze, pechschwarze Leere übrig blieb, die den Raum mit einer drohenden Unruhe füllte. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer unheimlichen Grimasse, die an eine verborgene, uralte Dunkelheit erinnerte, die tief in ihrem Inneren schlummerte und nun für einen kurzen Moment an die Oberfläche drang.
Der Blonde erstarrte und trat hastig einen Schritt zurück, als ob er einem Abgrund gegenüberstand. Er schien förmlich zu spüren, dass er etwas gesehen hatte, das nicht für die Augen der Lebenden bestimmt war, ein unheilvolles Geheimnis, das tief in der Seele dieses Mädchens lag.
Dann, fast so plötzlich wie es gekommen war, verschwand der Schatten. Libitinas Augen gewannen ihre tiefblaue Farbe zurück, ihre Gesichtszüge entspannten sich, und sie sah wieder aus wie das stille, ungewöhnliche Mädchen, das einfach nur vor einem Regal im Laden stand. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und begann, die verstreuten Windeln wieder aufzusammeln, als ob nichts geschehen wäre. Doch in der Luft lag ein Nachklang – eine düstere, geheimnisvolle Aura, die niemand ignorieren konnte.
Jake trat neben sie und half ihr, die Windeln wieder zu stapeln. Seine Bewegungen waren ruhig, doch seine Hände zitterten leicht, als ob er die Energie gespürt hatte, die von ihr ausgegangen war. Sein Blick war ernst, und er warf ihr einen langen, prüfenden Blick zu, der mehr sagte als Worte es je könnten.
Libitina spürte diesen Blick und hielt einen Moment inne, ließ den Atem kurz stocken, bevor sie sich sanft zu ihm drehte. „Es tut mir leid, Jake", murmelte sie und senkte den Blick, ihre Stimme war kaum hörbar, ein verletztes Flüstern. Sie fühlte sich schuldig, fühlte die Schwere ihres Andersseins wie eine Last, die nicht nur auf ihr, sondern auch auf ihm lag. „Vielleicht... vielleicht sollte ich nicht hier sein. Vielleicht... würde dir ein normales Leben besser tun."
Jake legte eine Hand auf ihre Schulter, eine Geste der sanften, unerschütterlichen Loyalität. „Libitina", sagte er, seine Stimme ernst und warm. „Ich bleibe bei dir. Ganz egal, was die anderen sagen. Ich weiß, wer du wirklich bist."
Seine Worte trafen sie tiefer, als sie sich eingestehen wollte. Für einen kurzen Moment spürte sie, wie die Härte in ihrem Inneren bröckelte, wie ein warmes Gefühl, das so selten war, ihren Brustkorb erfüllte und ihre Schultern entkrampfte. Sie nickte stumm und wagte es nicht, ihm direkt in die Augen zu blicken, doch in ihr war ein leises Lächeln, ein Hauch von Dankbarkeit, der nur für Jake bestimmt war.
Gemeinsam sammelten sie schweigend die Windeln ein, jeder in seine Gedanken versunken, während der unheimliche Vorfall allmählich in die Stille des Ladens verschwand. Doch die Rätsel, die sie in die Welt trug, blieben wie Schatten um sie herum – und Jake, der diese Last mit ihr trug, war die einzige Brücke zwischen ihr und einer Welt, die sie niemals wirklich verstehen würde.
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