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Lias ist total fertig, genauso wie Anton. Die beiden Jungs liegen jeweils in den Armen ihrer dazugehörigen Person und dösen vor sich hin. Alex und ich haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Luft mit einigen Löchern zu füllen und starren unentwegt vor uns hin.
Noch immer tobt die Wut über die Handlungen des Betreuers in mir, aber ich versuche die Gedanken so gut wie möglich zu verdrängen, damit Lias nicht merkt, wie angespannt ich bin. Er könnte es falsch deuten und denken, dass ich mich über seine Zustimmung, zu mir zu ziehen, nicht wirklich freue oder zu viele Bedenken habe. Dem ist aber nicht so, denn seine Zusage hat eine sehr große Welle der Erleichterung in mir ausgelöst, in die sich auch noch ein paar Spritzer Glücksgefühl gemischt haben.
Da mir noch eine Frage auf der Seele brennt, wende ich mich dem Arzt auf dem Nachbarbett zu: "Du wusstest nichts von der Nierengeschichte, oder?" Seufzend richtet Alex seinen Blick auf mich: "Nein. Ich habe ihn ein paar Mal gefragt, warum er zwingend mit dem Rücken gegen die Wand liegen muss, aber er hat nur gesagt, dass sich das besser anfühlt. Nichts weiter. Ich werde diesen Betreuer anzeigen. Solche Menschen dürfen nicht mit Kindern arbeiten. Das geht einfach nicht!" "Mach das auf jeden Fall. Je mehr sich melden, desto besser. Vielleicht sollte man auch die restlichen Kinder befragen!" Mir kommt sofort die kleine Lotta in den Sinn. Das Plappergöschchen schien mir, trotz dem enormen Redefluss, ziemlich feinfühlig und zerbrechlich zu sein. Wenn man dann davon ausgehen muss, dass Herr Fuchs ihr gleichermaßen zugesetzt hat wie den Jungs, dann kann ich mit Sicherheit sagen, dass das Kind traumatisiert ist. Ich stöhne laut auf und werfe meinen Kopf nach hinten. Auch wenn mir dieses Kind fremd ist, kann ich den Gedanken kaum ertragen, dass sie große Ängste gegenüber dem Betreuer haben muss. Als hätten die Kinder es nicht schon schwer genug. "Alles okay?", fragt Alex vorsichtig, was mich sofort den Kopf schütteln lässt. "Hat dir Anton mal von einer Lotta erzählt?" "Ja, das Mädchen hat sich oft bei Anton und Lias aufgehalten. Warum?" "Jetzt überleg doch mal... Wenn der Fuchs bei ihr die gleiche Scheiße abgezogen hat... Nicht auszudenken, welches Trauma er ihr damit verpasst hat. Ich könnte gerade im Dauerstrahl kotzen. Wirklich wahr!" Anscheinend ist Herrn Hetkamp diese Tatsache noch gar nicht in den Sinn gekommen. Es sei ihm aber nicht zu verübeln, denn er muss die Sache mit Anton auch erst einmal verdauen. "Vielleicht können wir unsere Jungs fragen ob sie wissen, wer noch Opfer dieses Mannes wurde. Ansonsten könnte man mit den beiden dort doch ein Besuch machen und zivil die Kids befragen..", schlägt er vor. "Das ist keine schlechte Idee. Aber das muss ich vorher erst mit Jonathan abklären. Die Heimleitung wird dem nie zustimmen, da sie selbst genug Dreck am Stecken hat, laut Lias. Aber zumindest ein vertrauenswürdiger Betreuer sollte darüber Bescheid wissen. Klaus sollte ich natürlich auch einweihen, der zieht mir sonst die Ohren lang!"
Unser Gespräch wird durch ein Klopfen an der Türe unterbrochen. Dadurch, dass ich mich etwas mehr aufrichte, wird Lias wach und schaut zu der Türe, durch die Dr. März gelaufen kommt. Anton findet auch langsam zu sich, da Alex ebenfalls eine andere Sitzposition eingenommen hat.
"Hallo, zusammen." "Hallo!", erwidere ich den Gruß und schaue auf die Tasche in den Händen des Mannes, die ziemlich vollgestopft aussieht. "Sehr gut, dass sie anwesend sind, Herr Richter. Ich wollte die neuen Medikamente vorbeibringen. Ist es in Ordnung, wenn wir vor Publikum miteinander sprechen?", will er wissen und spielt dabei auf die Anwesenheit von Anton und Alex an. "Ja, das ist völlig okay. Das ist Dr. Alexander Hetkamp. Es ist gut, wenn er die Medikamentation auch gleich mitbekommt, denn Lias wird sich auch des Öfteren bei ihm aufhalten!" "Oh, wunderbar. Setzen Sie den Betreuer dann in Kenntnis, Herr Richter?" "Das kann ich gerne übernehmen, ja." Am liebsten würde ich sagen, dass Lias gar nicht mehr ins Heim zurück geht und somit auch kein Betreuer informiert werden muss. Leider liegt das nicht alleine in meinen Händen und darum halte ich mich mit dieser Aussage zurück.
Was mir bei näherer Betrachtung des Arztes auffällt, ist, dass im Nackenbereich unter seinem Pullover ein roter, seidig glänzender Stoff herausblitzt. Auch unter dem Saum der Oberbekleidung, über dem Gesäß, hängt ein Stück des Stoffes heraus. Zuerst denke ich mir noch, dass der Mann einen etwas seltsamen Klamottenstil hat und sich unter Umständen nicht richtig anziehen kann, aber Lias' Lachen und die darauffolgende Aussage, belehren mich eines besseren: "Du hast vergessen dein Cape auszuziehen!" Lias deutet mit seinem Zeigefinger auf die Regionen, an denen der rote Stoff sichtbar ist. Der Arzt tut so, als wenn er über diese Entdeckung ziemlich erschrocken wäre und hält sich einen Finger vor den Mund, damit Lias weiß, dass er nichts sagen darf. "Was für ein Cape?", fragt Anton gähnend und zieht die Augenbrauen zusammen. Wahrscheinlich hat er noch eine verschwommene Sicht vom schlafen und muss erst richtig zu sich kommen. "Das ist Superman!", flüstert Lias seinem Kumpel zu, worauf diesem jegliche Gesichtszüge entgleisen. "Was haben die dir bitte für Tabletten gegeben?", fragt Anton mit einem fast schon geschockten Gesichtsausdruck, was Lias aber nicht großartig kümmert, denn er winkt seinem Kumpel ab und widmet sich Clark. Dieser zieht sich einen Stuhl heran, nimmt Platz und fummelt in der Tasche herum.
Nachdem er zwei Tablettenverpackungen herausgenommen hat, streckt er diese Lias entgegen: "Das sind deine neuen Tabletten!" "Das sind aber nur zwei. Ich muss vier Tabletten nehmen!", merkt Lias sofort an, doch der Arzt schüttelt lächelnd seinen Kopf: "Nein, ab heute nicht mehr. Wir haben über mehrere Jahre ein neues Medikament getestet, das drei Wirkstoffe beinhaltet und sich somit auch die Tablettenmenge reduziert. Die Wirkstoffe sind genau aufeinander abgestimmt und ergänzen sich sinnvoll. Bisher hatten die drei, der vier Tabletten, die du zu dir genommen hast, kaum eine Wirkung. Eher war es so, dass sie sich gegenseitig quasi nutzlos gemacht haben." "Heißt das, dass ich das alles völlig umsonst eingenommen habe?" Lias ist völlig geschockt, was ich absolut nachvollziehen kann. Dr. März legt einen entschuldigenden Blick auf: "Sozusagen schon. Darum haben sich auch deine ganzen Werte verschlechtert. Die zunehmende Verdickung des Sekrets ist damit auch geklärt. Mich wundert es fast schon, dass deine Leber und die Bauchspeicheldrüse noch keinen Laut von sich gegeben haben. Lias, die neue Medikamentation heißt ab heute zwei mal drei für dich."
Mein Neffe scheint nicht ganz zu verstehen: "Sie reduzieren die Menge der Tabletten und es fällt auch gleich noch eine Einnahme aus?" "Genau. Das hast du richtig erkannt. Ziel unserer Forschung ist es, die Wirkstoffe zu verbessern. Natürlich möchten wir auch, dass die Einschränkungen durch Tabletteneinnahme und Inhalation so gering wie möglich bleiben. Wir entwickeln uns in alle Richtungen weiter. Wenn du allerdings mehr Zeit einplanen willst, um diese Routineaufgaben..." "Nein! Alles gut. Ich war mir nur etwas... unsicher. Der andere Arzt hat ab und zu auch mal was vergessen!"
Auf diesen Satz geht Dr. März gar nicht weiter ein, sondern klärt uns noch kurz über die in den Tabletten enthaltene Wirkstoffe auf. Tatsächlich erklärt Superman alles so gut, dass selbst ich einigermaßen einen Durchblick bekomme. Ich freue mich wahnsinnig für Lias, dass er weniger Tabletten nehmen muss und hoffe, dass seine Freude darüber auch lange anhält.
"Des weiteren", fährt Superman fort, "bekommst du einen neuen Inhalator. Du wirst nicht mehr wie bisher, durch eine Maske inhalieren, sondern durch ein Mundstück. Ich verstehe nicht ganz, wieso das bisher so gemacht wurde, denn die Masken benutzt man nur bis ungefähr zum zweiten, dritten Lebensjahr. Die Medikamente gelangen durch das Mundstück besser in die Lunge und verteilen sich dann dort effizienter, wenn man nur über den Mund statt über Nase und Mund inhaliert. Für die Anfangszeit wirst du atemwegserweiternde Medikamente und anschließend leichte Antibiotika inhalieren. Das wird aber sobald, wie sich dein Zustand gebessert hat, umgestellt. So lange es dann keine Beschwerden oder Infekte gibt, werden wir oft auf hypertone Kochsalzlösung zurückgreifen. Im Gegensatz zu der isotonen, löst sie den Schleim nämlich besser. Ich würde dir gerne zeigen, wie die Inhalation am effektivsten ist, denn es ist so, dass man dem Aerosol einen viel besseren Entfaltungsraum bietet, wenn man aufrecht sitzt und das Mundstück gerade hält. Wollen wir das mal zusammen ausprobieren?" "Okay." "Hast du heute schon inhaliert?" "Ja. Alex hat mich aber nur Kochsalzlösung inhalieren lassen." "Sehr gut", der Arzt wirft einen Blick auf die Uhr, "dann können wir gleich mal den neuen Zusatz ausprobieren."
Wir schauen alle bei der Vorbereitung des Inhalators zu und Lias lässt sich ohne Gemurre von Dr. März Anweisungen geben, wie er das Optimalste aus der Inhalation herausholen kann. Während der Junge inhaliert, bittet Dr. März Alex und mich vor die Türe. Vor den Jungs gibt er den Grund an, die Aufmerksamkeit während dem Inhalieren nicht auf sich ziehen zu wollen, uns sagt er aber, nachdem die Türe hinter ihm geschlossen ist, die Wahrheit: "Herr Richter... Ich habe die bisherigen Medikamente noch nicht akribisch genau untersuchen können, dafür war die Zeit einfach zu kurz. Aber ich hege den Verdacht, dass Lias noch nicht zugelassene Präparate verabreicht wurden. Es scheint mir so, als wenn er eine Testperson wäre, die Medikamente für Erwachsene bekommt, um zu sehen, welche Nebenwirkungen bei Kindern auftreten. Ich weiß nicht ob der Betreuer einer solchen Maßnahme zugestimmt hat, aber schon alleine die Aussage, dass mein Kollege die Akte unter Verschluss hält, kam mir doch recht suspekt vor. Es ist aber natürlich möglich, dass diese Aussage der Wahrheit entspricht und der Kollege somit etwas vertuschen möchte. Eigentlich gehe ich davon aus, dass der Kollege Eigeninitiative ergriffen hat und Lias im geheimen als Testperson ausgewählt hat, aber das kann man ja nie so genau wissen. Ich werde die Zusammensetzungen der verschiedenen Präparate noch genauer untersuchen und ihnen dann mitteilen, ob sich meine Vermutung bestätigt. Würden sie denn mit dem Betreuer in Kontakt treten und dort in Erfahrung bringen, wie es sich mit dem Wissen über diese Medikamente verhält?" Im ersten Moment kann ich gar nicht reagieren. Ich kann nicht glauben was mir hier zu Ohren kommt. Natürlich gehe ich nicht davon aus, dass Jonathan davon wusste, denn dafür ist die Bindung zwischen Lias und ihm zu stark. So eine Aufopferungsgabe kann man meiner Meinung nach kaum schauspielern.
Was mich viel mehr erschüttert ist die Tatsache, dass sich die ganze Welt gegen meinen Neffen verschworen zu haben scheint. Erst lässt ihn die Mutter im Stich. Dann kommt dieser Betreuer ins Spiel, der die Kinder bedroht und bestraft und letztendlich missbraucht ein Arzt seinen Status und testet nicht zugelassene Medikamente an ihm.
In welcher Welt leben wir eigentlich?
Ich ertappe mich bei der Frage, wer meinem Neffen sonst noch übel mitgespielt hat, verwerfe den Gedanken aber schnell wieder, da ich eine weitere Hiobsbotschaft heute wohl nicht mehr verkraften werde. Alex fasst mir an die Schulter und drückt leicht zu, was mich gedanklich wieder zu der bestehenden Situation zurück führt. "Natürlich, das werde ich machen. Wenn sie mit ihrer Nachforschung soweit durch sind, dokumentieren sie bitte alles fein säuberlich und lassen mir einen Bericht zukommen. Das werde ich dann umgehend an oberste Instanzen weiterleiten!", gebe ich im Polizisten-Modus von mir. "Sicher. Ich werde meiner Pflicht ebenfalls nachkommen und die zuständigen Leute informieren. Mir selbst tut es schrecklich leid, dass ihr Neffe derart... missbraucht wurde. Ich wollte das auch nicht vor dem Jungen breittreten, denn die Entscheidung, es ihm mitzuteilen, überlasse ich ihnen!" "Danke für ihre Rücksichtnahme. Zum jetzigen Zeitpunkt werde ich es ihm noch vorenthalten, da er gerade genug durchmacht und ich die Bestätigung auch schwarz auf weiß brauche. Verschweigen werde ich ihm es allerdings bei entsprechender Bestätigung nicht, denn er hat ein Recht darauf es zu erfahren, schließlich wurde mit seiner Gesundheit fahrlässig umgegangen." Ein Blick zu Alex, der sofort mit gefestigten Gesichtsausdruck nickt, bestätigt mir die Richtigkeit meiner Vorgehensweise.
"Ich stehe da ganz auf ihrer Seite. Nun... Ich würde den Jungen mal erlösen. Brauchen Sie noch einen Moment?", will Doktor März von mir wissen, was ich sofort bestätige: "Ja, nur zwei, drei Minuten." "Kein Problem. Ich lenke die Herren da drin mal ab!" Mit diesen Worten verschwindet der Arzt wieder in das Zimmer.
"Was meinst du verlangt ein Auftragskiller für einen Doppelmord?", gebe ich niedergeschlagen von mir, denn diese Option scheint mir gerade die einzig richtige zu sein. "Das, lieber Paul, schlägst du dir gleich mal wieder aus dem Kopf. So schwer das auch alles zu ertragen ist, aber du musst jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Allein schon für Lias. Wenn du irgendwas Dummes veranstaltest, tust du dem Jungen keinen Gefallen. Sei eher froh, dass diese Dinge aufgedeckt wurden! Du verbesserst Lias' Leben in vielerlei Hinsichten!" "Ich verstehe nur nicht, warum ein einziger Junge so viel Leid ertragen muss. Das ist nicht fair!", motze ich vor mich hin. "Natürlich ist das nicht fair, Paul. Schon eines dieser Dinge wäre nicht fair. Sieh es einfach als Schicksal an, dass du erst in Lias Leben treten musstest, um diese ganzen Missstände aufzudecken und ihn davon zu erlösen. Das wird jetzt ein Punkt in deinem Leben sein, bei dem du dir mehr als sicher sein kannst, dass du das Richtige tust, wenn du deinen Neffen zu dir nimmst." Völlig erschlagen von den ganzen einprasselnden Dingen, nicke ich vor mich hin.
Eins ist sicher, egal wie fertig mich das alles macht: Ich werde für Lias kämpfen, wie ein Tier.
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