~•~ 24 ~•~
Die drei Spielkinder haben es geschafft, ungefähr die Hälfte des Legogebilde zu bauen, als Lias immer mal wieder das Gesicht verzieht. Ich befürchte, dass er bald das Dauerticket für den Badezimmerthron einlösen kann. Auch meinen Kumpels entgehen die schmerzverzerrten Gesichtszüge nicht und schlagen vor, ein anderes Mal mit dem Lego weiter zu machen. Lias willigt ein und nimmt schwer aufatmend die Wasserflasche von mir entgegen, da er viel trinken muss. Nach ein paar Schluck rumort sein Bauch in den höchsten Tönen. "So, ihr zwei. Wir verkrümeln uns mal und gehen eine Runde schlafen. Wir sehen uns bald wieder", verkündet Stephan und hält die Hand nach oben um von Lias einen High-Five zu bekommen. Mein Neffe geht darauf ein und widmet sich danach Tom, der natürlich auch die kleine Handfläche auf seiner großen begrüßen darf.
Als wir alleine sind, legt sich Lias in Embryostellung auf sein Bett. "Hast du solche Schmerzen?", will ich wissen und bin gewillt einen Arzt aufzusuchen, denn das leidende Gesicht meines Neffen macht mir ordentlich zu schaffen. "Schon. Aber das wird nachher besser. Das ist so Zeug, dass kurzen Prozess macht. Früher habe ich oft ein Pulver in Etappen trinken müssen, von dem ich fast kotzen musste. Da nehme ich lieber die Bauchkrämpfe in Kauf, als diese ekelhafte Brühe zu trinken!" "Falls es aber zu schlimm wird, sagst du mir Bescheid!"
Lias bedenkt mich mit einem Lächeln und schließt kurz die Augen. Das ist wieder ein Moment, in dem er sehr, sehr stark und älter wirkt, als er ist und nicht wie ein zehnjähriger Junge. Damit die Stille uns nicht erdrückt, spreche ich ein Thema an, das mir schon das ein oder andere Mal im Kopf herumgeschwirrt ist: "Weißt du noch, als du mich im Revier besucht hast? Da hattest du doch einen Rucksack dabei und da lag ein Heftchen drin..." Lias öffnet wieder seine Augen und sucht meinen Blick: "Du hast in meinen Sachen herum geschnüffelt?" "Zwangsweise. Ich wusste doch nicht, in welchem Heim du wohnst und musste nachschauen, ob sich irgendwelche Hinweise finden lassen. Ansonsten hätte ich das natürlich nicht gemacht", versichere ich ihm, da ich nicht möchte, dass er falsche Schlüsse daraus zieht. "Dann hast du sie gefunden, oder?" "Sie?", frage ich verwirrt. "Ja, die Bucket-List." Ich nicke kurz vor mich hin und entlocke meinem Neffen damit ein seufzen: "Das sollte eigentlich niemand außer Anton und mir wissen, weil sonst alle wieder ein Drama daraus machen. Weißt du, mir hilft die Liste, jeden Tag durchzuhalten und auf Ziele hinzuarbeiten. Das gibt mir immer wieder den Mut, mich durch den ganzen Mist mit meiner Krankheit durchzukämpfen. Verstehst du?", will er wissen und sieht plötzlich so ernst aus.
Wenn ich bedenke, dass es so viele Menschen gibt, die einfach in den Tag hinein leben und keinerlei Ziele für sich selbst gesetzt haben und dieser kleine Junge den Ansporn braucht, jeden Tag aufs Neue zu meistern, stimmt mich das wieder sehr traurig. Lias scheint nicht zu verstehen, warum ich so erschüttert auf die Liste reagiere: "Warum guckst du denn jetzt so traurig? Es heißt nicht, dass ich plötzlich tot umfalle, wenn ich alle Punkte erledigt habe. Aber ohne diese Ziele fühlt es sich so an, als würde ich jeden Tag umsonst kämpfen. Anton versteht das auch nicht so richtig und weint fast jedes Mal, wenn ein Punkt abgehakt wird. Aber er kann auch nicht über den Tod reden, davor hat er viel zu viel Angst!" "Hast du denn keine Angst, Lias?" Ich komme mir blöd vor, diese Ffage einem Kind zu stellen, doch in dieser Hinsicht kann ich Lias nur schlecht einschätzen. Zuerst zuckt der Kurze mit den Schultern und überlegt eine Zeit lang, bis er die passenden Worte gefunden zu haben scheint: "Schon ein bisschen. Aber eher habe ich Angst, dass ich einen blöden Tod erleben muss, weißt du. Ja, ich weiß, jeder Tod ist blöd, aber ich meine damit, dass ich zum Beispiel nicht gerne ersticken würde. Das wäre mehr als blöd. Manche alte Menschen schlafen einfach ein und wachen nie wieder auf und das sehe ich dann als schönen Tod. Schätzungsweise darf ich das mal nicht... er... le... ben..." Schneller als ich gucken kann, springt Lias von seinem Bett auf und verschanzt sich im Badezimmer. Das Mittel scheint endlich anzuschlagen.
Ich selbst stehe ebenfalls auf und begebe mich an die große Fensterfront. Die Gänsehaut auf meinen Armen, die durch Lias' Worte ausgelöst wurde, hat noch Bestand. Vielen Erwachsenen fällt es wahnsinnig schwer über das Ende des eigenen Lebens zu reden, doch Lias geht damit so um, als würde er mir sagen, was er gerne zum Abendessen haben möchte. Ich weiß nicht, wie ich das genau einstufen soll. Mit Erleichterung, da er nicht jeden Tag Panik schiebt, dass er früher sterben wird als andere oder eher mit Besorgnis, da er es leichter nimmt als er sollte.
Gedankenverloren stehe ich eine Zeit lang am Fenster und beobachte das rege Treiben vor der Klinik. Ich versuche mir vorzustellen, wie unser Leben verlaufen wäre, wenn ich von Anfang an von meinem Neffen gewusst hätte. Ihm hätte das so einiges erspart, dem bin ich mir bewusst. Seufzend werfe ich einen Blick auf die Uhr und laufe anschließend vor die Badezimmertüre, da ich keinen Laut mehr von dem Jungen höre. "Lias? Alles in Ordnung?" Mit etwas Verzögerung bekomme ich eine Antwort: "Willst du denn nicht mal was essen gehen?" Erst jetzt, als Lias das anspricht, bemerke ich, dass ich tatsächlich etwas im Magen gebrauchen könnte. "Ja, das ist eine gute Idee. Schaffst du es denn alleine?", will ich wissen und komme mir direkt danach unbeschreiblich bescheuert vor. Wie sollte ich ihm denn helfen? Ihn wie eine Tube ausdrücken? "Paul, geh einfach von der Türe weg, bitte!" "Okay, ich gehe mal runter in die Cafeteria etwas essen. Bis nachher, Kurzer!" Ich warte gar keine Antwort ab, denn ich denke daran, dass ich, wenn ich eine Sitzung halte, auch nicht unbedingt scharf auf Publikum bin, sondern meine Ruhe brauche.
Neben einem Kaffee gönne ich mir ein belegtes Brötchen und setze mich an einen abgeschotteten Tisch in der Ecke. Gerade als ich meine Zähne in die knusprige Schicht des Teiggebildes rammen will, höre ich meinen Namen. Ich breche meine Nahrungsaufnahme ab, schaue mich um und sehe einen Lockenkopf auf mich zukommen. "Hi, Phil!" "Hey... Lange nicht gesehen!" Phil setzt sich mir gegenüber auf einen Stuhl und atmet erleichtert auf, als er seine Unterarme auf dem Tisch ablegt. "Ähm, doch. Als ich auf Lias gewartet habe. Du hast mich zu seinem Zimmer geführt. Wie läufts?" "Hör mir auf. Heute ist die Hölle los. Nick und ich haben uns bisher nur von kaltem Kaffee ernährt... Oh Gott, stimmt. Ich habe einfach zu viel im Kopf. Tut mir leid. Wie geht es dem Kleinen?" "Ganz gut so weit. Er hält gerade Sitzung. Musste Abführmittel nehmen..." Herr Funke verzieht mitleidig sein Gesicht und erhebt seine Hand, um sein Gähnen etwas zu verstecken. "Wir müssen uns unbedingt bald mal wieder auf ein Bierchen treffen. Und..." Phil kommt gar nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden, denn Nick brüllt vom Empfangstresen aus seinen Namen. Augenverdrehend wendet sich der Notarzt Herrn Bachmann zu. Dieser hebt den Zeigefinger in die Höhe und malt ein paar Kreise in die Luft. Das Zeichen dafür, dass sie wieder aufbrechen müssen.
Stöhnend stemmt sich Phil von seinem Platz hoch: "Falls du Hilfe brauchst, bei was auch immer, meldest du dich!" "Werde ich machen, danke Phil!" Damit der Herr Notarzt vielleicht noch etwas Energie tanken kann, strecke ich ihm mein Brötchen entgegen: "Nimm mit. Kannst du auf dem Weg verhaften. Nicht dass du noch vom Stängel fällst!" Erst möchte mein Gegenüber protestieren. Als Nick aber einen schrillen Pfiff ertönen lässt, da es anscheinend eilt, nimmt er die Energiequelle entgegen und beißt herzhaft hinein. "Dange. Bisch galt!", sagt er mit vollem Mund und begibt sich im Schnellschritt zu Herrn Bachmann. Nachdem die Retter verschwunden sind, organisiere ich mir nochmals ein belegtes Brötchen und esse es dieses Mal selbst.
Fast eine dreiviertel Stunde später begebe ich mich wieder auf Station. Gerade als ich das Zimmer öffnen will, schlüpft eine Ärztin durch die Türe hindurch: "Oh, hallo. Sie habe ich gesucht!" "Ist was mit Lias?", frage ich in Erwartung, dass während meiner Abwesenheit irgendetwas passiert ist. "Nein, nein. Der Junge Mann ist wohlauf und um einiges erleichtert. Herr Richter, da es Lias wieder besser geht, ist eine nächtliche Betreuung nicht mehr von Nöten!" "Soll das heißen, ich muss nachher gehen?" "Ja, tut mir leid. Lias ist alt genug und auch gewohnt, ein paar Tage in der Klinik zu verbringen. Wir haben natürlich stets ein Auge auf ihn." Am liebsten würde ich ihr jetzt entgegen schreien, dass nur weil er es gewohnt ist, es die Einsamkeit in diesem Zimmer nicht besser macht. Aber ich halte mich zurück, da ihr Blick schon alles sagt. "Muss ich mich an die Besuchszeiten halten oder kann ich morgen dann auch schon früher vorbeikommen?" Mit einem leicht genervten Seufzer, den sie gerne hätte für sich behalten können, gestattet sie mir Lias auch schon vor den regulären Besuchszeiten mit meiner Wenigkeit zu beehren. "Danke. Sehr nett", bringe ich ihr mit einem dezenten fuck-you grinsen entgegen. Ich hasse solch eingebildete Mediziner, die sich akribisch an irgendwelche Vorschriften halten, anstatt individuell auf die Bedürfnisse ihrer Patienten einzugehen. Ohne weitere Worte, nur mit einem Nicken, zieht die Dame wieder ab.
Obwohl ich nichts dafür kann, überkommt mich das schlechte Gewissen. Ich habe Lias versprochen für ihn da zu sein und lasse ihn dann doch gleich wieder alleine. Mit hängenden Kopf betrete ich das Zimmer und finde meinen Neffen im Bett liegend vor. Er sieht erschöpft aus, lächelt mich aber sofort an, als er mich sieht. "Na? Den Mietnomaden aus der Wohnung vertrieben?" Ich knüpfe an meine Aussage von heute morgen an, dass alles was keine Miete zahlt raus muss und entlocke meinem Neffen somit ein gedämpftes lachen. "Ja. Ich hoffe das wars. Jetzt habe ich aber Hunger!" Ein Blick auf die Uhr an der Wand sagt mir, dass es bald Abendessen geben müsste. "Bald bekommst du was... Lias, ich muss nachher leider gehen..." "Ich weiß. Die Ärztin hat es mir schon gesagt!" Der Junge zuckt mit den Schultern und scheint sich damit abzufinden das er nachher alleine sein wird. "Ich darf aber vor den Besuchszeiten erscheinen und komme morgen so früh wie möglich. Okay?" "Mach dir keinen Stress! Schlaf doch mal aus und komm dann irgendwann. Ich laufe nicht weg. Die Aussicht, dass du morgen kommst ist schon schön genug. Früher hatte ich tagelang keinen Besuch, wenn Jonathan so sehr im Heim eingespannt war. Das passt schon!" Diese Aussage betäubt regelrecht meinen Körper. Er ist ein Kind, das es gewohnt ist alleine zu sein. Dessen einzig richtige Bezugsperson auch noch für hunderte anderer Kinder zuständig ist und dass er nie jemanden ganz für sich alleine hat. Ich ermahne mich selbst, mich nicht so runter zu ziehen, denn ab jetzt wird es anders laufen. An der Vergangenheit kann ich nichts ändern, an der Zukunft schon. Lias wird nie wieder alleine sein!
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